Читать книгу Letzte Ehre - Sue Grafton - Страница 8
4
ОглавлениеNachdem ich Buckys Haus verlassen hatte, ging ich nach Hause und machte ein kurzes, aber erfrischendes Nickerchen, das – wie ich bereits damals fürchtete – einer der Höhepunkte meiner Ferien sein sollte. Drei Minuten vor fünf Uhr fuhr ich mir mit der Bürste durchs Haar und trottete die Wendeltreppe hinab.
Die niedrige Wolkendecke erzeugte die Stimmung einer verfrühten Dämmerung, und die Straßenlampen blinzelten herab, als ich mein Apartment abschloß. Trotz des spätnachmittäglichen Temperatursturzes stand Henrys Hintertür offen. Heiseres Lachen drang durch die Fliegentür, dazu gesellte sich ein verlockendes Sammelsurium von Küchendüften. Henry klimperte im Wohnzimmer auf dem Klavier herum. Ich überquerte den mit Platten ausgelegten Hof und klopfte an die Fliegentür. Die Vorbereitungen für Lewis’ Geburtstagsessen waren bereits im Gange. Ich hatte ihm zum Geburtstag ein massiv silbernes Rasierset mit Becher und Pinsel gekauft, das ich in einem Antiquitätengeschäft entdeckt hatte. Es war eher etwas für Liebhaber als echt antik, doch ich dachte, daß es etwas wäre, das er entweder benutzen oder bewundern konnte.
Lewis polierte gerade das Silberbesteck, ließ mich aber ein. Er hatte seine Anzugjacke ausgezogen, trug jedoch nach wie vor seine Smokinghose, eine Weste und ein frisches weißes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln. Charlie hatte sich eine von Henrys Schürzen umgebunden und war gerade dabei, Lewis’ Geburtstagskuchen den letzten Schliff zu verleihen. Henry hatte mir erzählt, daß Charlie langsam ein wenig unsicher wurde, weil sich sein Gehör so verschlechtert hatte. Vor etwa fünf Jahren hatte er einen Hörtest gemacht. Damals hatte der Audiologe ihm zu einem Hörgerät geraten, das Charlie schließlich angepaßt wurde. Er hatte es etwa eine Woche getragen und dann in eine Schublade gelegt. Er behauptete, das Gerät gäbe ihm das Gefühl, als hätte er in jedem Ohr einen Daumen stecken. Jedesmal, wenn er die Toilettenspülung betätigte, klänge es wie die Niagarafälle. Wenn er sich die Haare kämmte, hörte es sich an, als marschierte jemand einen Kiesweg entlang. Er wollte nicht einsehen, warum die anderen nicht so laut reden konnten, daß er sie verstand. Die meiste Zeit hielt er sich eine gewölbte Hand hinters Ohr. Er sagte ziemlich oft: »Was?« Die anderen ignorierten ihn gern.
Der Kuchen, an dem er sich zu schaffen machte, war auf einer Seite zusammengefallen, und er bemühte sich, ihn mit zweieinhalb Zentimetern weißer Glasur wieder aufzurichten. Er sah zu mir auf. »Bei uns darf das Geburtstagskind seinen Kuchen nicht selbst backen«, sagte er. »Nell macht die Schichten, außer natürlich an ihrem eigenen Geburtstag, und ich mache die gekochte Glasur, die sie nie richtig hinkriegt.«
»Es riecht alles wunderbar.« Ich hob den Deckel einer geschlossenen Kasserolle an. Darin befand sich eine klumpige, weiße Masse mit etwas, das wie Paprikaschoten, harte Eier und Stückchen von Essiggemüse aussah. »Was ist denn das?«
»Wie bitte?«
Lewis meldete sich zu Wort. »Das sollte einmal Kartoffelsalat werden, aber Charlie hat den Kurzzeitmesser eingestellt und ihn dann nicht läuten hören, und so sind die Kartoffeln zu Brei verkocht. Wir haben beschlossen, sämtliche üblichen Zutaten hinzuzugeben und es ›Charlie Pitts’ berühmten Kartoffelbreisalat ‹ zu taufen. Dazu gibt es Brathühnchen, Bohnen in Tomatensoße, Krautsalat, Teufelseier und in Scheiben geschnittene Gurken und Tomaten mit Essig. Ich habe die letzten sechsundachtzig Jahre, seit ich zwei war, an jedem Geburtstag genau dieses Essen bekommen«, erklärte er. »Jeder von uns hat seine Spezialität, und in unserer Familie herrscht die Vorschrift, daß die Geschwister kochen. Manche können es besser als andere, wie man sieht«, fügte er mit einem Seitenblick auf Charlie hinzu.
Ich wandte mich an Charlie. »Was essen Sie denn an Ihrem Geburtstag?«
»Was sagen Sie?«
Ich wiederholte die Frage mit lauterer Stimme.
»Oh. Hot Dogs, Chilisoße, Dillgurken und Kartoffelchips. Mutter hat sich immer aufgeregt, weil ich mich gegen ein richtiges Gemüse gesperrt habe, aber ich habe auf Kartoffelchips bestanden, und schließlich gab sie nach. Anstelle eines Geburtstagskuchens wünsche ich mir immer ein Blech mit Henrys Schoko-Nuß-Plätzchen, die er meistens quer durchs ganze Land schicken muß.«
»Was ist mit Henry?«
Charlie hielt sich eine Hand hinters Ohr, und Lewis antwortete an seiner Statt. »Bauernschinken, Brötchen mit Kaffeesoße, Kohlgemüse, Langbohnen und Maisgrütze mit Käse. Nell wiederum besteht auf Hackbraten mit Kartoffelbrei und grünen Bohnen und Apfelkuchen mit einem dicken Keil Cheddarkäse obendrauf. Ändert sich nie.«
William kam gerade noch rechtzeitig in die Küche, um Lewis’ letzte Bemerkung aufzuschnappen. »Was ändert sich nie?«
»Ich habe Kinsey gerade von unseren Geburtstagsmenüs erzählt.«
Ich lächelte William zu. »Was ist denn Ihres?«
Lewis schaltete sich erneut ein. »William wünscht sich immer einen New-England-Eintopf mit braunem Corned beef, aber wir überstimmen ihn.«
»Also mir schmeckt das«, behauptete er ungerührt.
»Ach, tut es nicht. Niemandem kann ein New-England-Eintopf schmecken. Das sagst du nur, weil du weißt, daß wir anderen das dann auch essen müßten.«
»Was bekommt er denn statt dessen?«
»Was wir gerade Lust haben zu kochen«, sagte Lewis mit Genugtuung.
Wir hörten ein Klopfen an der Hintertür. Ich drehte mich um und stellte fest, daß Rosie angekommen war. Sowie sie und William einander sahen, begannen ihre Gesichter zu leuchten. Es gab selten irgendwelche öffentlichen Liebesbeweise zwischen ihnen, aber an ihrer Hingabe bestand kein Zweifel. Er ließ sich von ihrer Mißmutigkeit nicht stören, und sie nahm seine Hypochondrie völlig gelassen. Infolgedessen beklagte er sich seltener über eingebildete Leiden, und ihre schlechte Laune hielt sich in Grenzen.
Heute abend war sie mit einem dunkelroten Sackkleid und einem mit lila-blauem Paisleymuster bedruckten Schal bekleidet, und die kräftigen Farben verliehen ihrem leuchtend rot gefärbten Haar eine dramatische Note. Sie wirkte ganz entspannt. Mir war sie stets als eine abgrundtief schüchterne Person erschienen, die sich unter Fremden unwohl fühlte, aber Freunden gegenüber herrisch war. Sie hatte einen Hang dazu, mit Männern zu flirten, Frauen kaum ertragen zu können und Kinder zu übersehen. Zugleich tyrannisierte sie das Personal ihres Restaurants und zahlte so niedrige Löhne wie möglich. William und ich versuchten andauernd, sie dazu zu bringen, ihren Geldbeutel ein bißchen weiter aufzumachen. Was mich betraf, so traktierte sie mich seit dem Tag, an dem ich in dieses Viertel gezogen war, gnadenlos. Sie war nicht bösartig, aber eigensinnig, und sie hielt mit ihrer Meinung nie hinter dem Berg. Seit ich begonnen hatte, mein Abendessen meistens in ihrem Restaurant einzunehmen, hatte sie mir mit schöner Regelmäßigkeit vorgeschrieben, was ich bestellen sollte, und sämtliche Vorlieben oder Wünsche meinerseits ignoriert. Obwohl ich mich selbst gern für resolut halte, habe ich es nie gewagt, mich ihr zu widersetzen. Meine einzige Gegenwehr angesichts ihres diktatorischen Verhaltens war passiver Widerstand. Bislang hatte ich mich standhaft geweigert, mir einen Ehemann oder einen Hund anzuschaffen, zwei (anscheinend) austauschbare Elemente, die sie als unerläßlich für meine Sicherheit erachtete.
Nun, da sie ihrerseits kurz vor dem Schritt ins Eheleben stand, schien sie mit sich selbst Frieden geschlossen zu haben: Sie war stets zu Scherzen aufgelegt und lächelte viel. Williams Geschwister hatten sie ohne jedes Zögern akzeptiert... abgesehen natürlich von Henry, der sprachlos war, als sich die beiden zusammentaten. Langsam begann ich, die Hochzeit weniger als einen Bund zwischen ihr und William zu sehen, sondern vielmehr als offizielle Zeremonie, mit der sie in den Stamm aufgenommen wurde.
Im Nebenzimmer begann Henry in voller Lautstärke seine Version von »Happy Birthday« für Lewis herunterzuhämmern. Wir gesellten uns zu ihm und sangen eine geschlagene Stunde lang, bevor wir uns zum Essen setzten. Henry zog mich beiseite. »Was ist denn das für eine Geschichte mit diesem Einbruch?«
»Ich weiß es nicht genau. Chester ist anscheinend der Meinung, daß ein ruchloses Komplott im Gange ist, aber ich kaufe ihm das nicht ganz ab. Jemand hat eingebrochen... soviel steht fest. Nur bin ich mir nicht sicher, daß es irgend etwas mit seinem Dad zu tun hat.«
»Chester glaubt, daß ein Zusammenhang besteht?«
»Er denkt, daß alles zusammenhängt. Ich glaube, der Typ hat zu viele schlechte Filme gesehen. Er hegt den Verdacht, daß Johnny im Zweiten Weltkrieg Doppelagent war und irgendwie einen Stapel gestohlener Papiere in seinem Besitz hat. Er ist der Meinung, daß der Antrag beim Veteranenamt die Regierung hellhörig gemacht hat, und daß sie die Einbrecher waren.«
Henry sah verwirrt drein. »Wer?«
»Der CIA, nehme ich an. Irgend jemand, der endlich herausgefunden hat, wo sich der alte Mann versteckt hat. Jedenfalls ist das seine Theorie, und er ist einfach nicht davon abzubringen.«
»Es tut mir leid, daß ich dich da hineingezogen habe. Chester ist anscheinend ein Irrer.«
»Mach dir keine Sorgen. Er hat mich ja nicht richtig engagiert, also ist es doch egal.«
»Tja, es klingt, als hättest du getan, was du konntest, und das weiß ich zu schätzen. Jetzt bin ich dir einen Gefallen schuldig.«
»Ach was, bist du nicht«, sagte ich und winkte ab. In den Jahren unserer Freundschaft hatte Henry so viel für mich getan, daß ich es nie aufholen würde.
Als sie gegen zehn das Monopoly und das obligatorische Popcorn herausholten, entschuldigte ich mich und ging nach Hause. Ich wußte, das Spiel würde sich bis Mitternacht oder ein Uhr hinziehen, und das war mir zuviel. Vermutlich war ich nicht alt genug.
Ich schlief wie ein Stein bis sechs Uhr vierzehn und erwischte den Wecker nur Sekunden, bevor er läuten sollte. Ich wälzte mich aus dem Bett und zog für meinen Morgenlauf den Jogginganzug an. In den Frühlings- und Sommermonaten laufe ich um sechs Uhr, doch im Winter geht die Sonne erst kurz vor sieben auf. Dann möchte ich draußen auf meiner Strecke sein. Ich jogge, seit ich fünfundzwanzig bin... drei Meilen täglich, meistens sechs Tage die Woche, außer ich bin durch Krankheit, Verletzung oder einen Anfall von Faulheit, was aber nicht oft vorkommt, verhindert. Mein Eßverhalten ist völlig ungeregelt und meine Ernährung gräßlich, und so ist das Laufen meine Art, meine Sünden wieder gutzumachen. Während mich die Schmerzen nicht gerade begeistern, bin ich süchtig nach der Euphorie. Und ich liebe die Luft zu dieser Tageszeit. Es ist kalt und feucht. Es riecht nach Meer und Kiefern und Eukalyptus und frisch gemähtem Gras. Wenn ich mich auf dem Nachhauseweg abkühle, hat sich die Sonne bereits über die Rasenflächen ausgebreitet, entfaltet all die Schatten hinter den Bäumen und verwandelt den Tau in Dunst. Es gibt keinen befriedigenderen Augenblick als den letzten Moment eines Laufs: Der Brustkorb hebt und senkt sich, das Herz klopft, und der Schweiß läuft mir übers Gesicht. Ich beuge mich aus der Taille herab und stoße einen Laut reinster Wonne aus, befreit von Anspannung, Streß und den Nachwirkungen sämtlicher Viertelpfünder mit Käse.
Ich beendete meinen Lauf und spazierte gemächlich nach Hause. Ich betrat das Apartment, duschte und zog mich an. Ich löffelte gerade meine kalten Corn-flakes aus, als das Telefon klingelte. Ich sah auf die Uhr. Es war sieben Uhr einundvierzig, nicht gerade eine Stunde, zu der ich normalerweise damit rechne, daß die Welt mich bedrängt. Ich ergriff den Hörer beim zweiten Klingeln. »Hallo?«
»He, ich bin’s, Chester. Ich hoffe, ich störe Sie nicht«, sagte er.
»Ist schon gut. Was machen Sie denn zu dieser Stunde?«
»Waren Sie das, die ich vor einem Weilchen den Cabana Boulevard habe hinunterlaufen sehen?«
»Jaaaa«, sagte ich vorsichtig. »Haben Sie angerufen, um mich das zu fragen, oder gibt es noch etwas anderes?«
»Nein, nein, ganz und gar nicht. Ich habe nur überlegt«, sagte er. »Ich habe etwas, das ich Ihnen zeigen möchte. Wir haben es gestern abend entdeckt.«
»Was für ein ›es‹?«
»Kommen Sie einfach rüber, und werfen Sie einen Blick drauf. Es ist etwas, das Bucky entdeckt hat, als er Pappys Wohnung ausgeräumt hat. Ich wollte niemanden etwas anfassen lassen, bevor Sie es sich angesehen haben. Vielleicht müssen Sie dann Abbitte leisten.« Er feixte schon beinahe.
»Geben Sie mir fünf Minuten.«
Ich spülte Schüssel und Löffel und wischte mit einem feuchten Schwamm die Arbeitsplatte ab. Eine der Freuden des Alleinlebens ist, daß man nur die Sauerei beseitigen muß, die man selbst produziert hat. Ich steckte meine Schlüssel in die Jackentasche, zog die Tür hinter mir zu und ging. In der Zeit seit meinem Lauf war das Viertel aufgewacht. Ich entdeckte Lewis einen halben Häuserblock weiter unten bei seinem Morgenspaziergang. Moza Lowenstein fegte ihre Veranda, und ein Typ mit einem Papagei auf der Schulter führte seinen Hund Gassi.
Es war einer dieser perfekten Novembertage mit kühler Luft, hochstehender Sonne und dem anhaltenden Duft von Holzfeuern aus der Nacht zuvor. Unsere Häuserzeile entlang bilden Palmen und immergrüne Gewächse die Konstanten in einer Landschaft, die sich mit dem Wechsel der Jahreszeiten leicht zu verschieben scheint. Sogar wir hier in Kalifornien erleben eine Form von Herbst, eine zeitweilige Vermischung der Farben des Ginkgo, des Amberbaums, der Roteiche und der Weißbirke. Hin und wieder akzentuiert ein Ahorn die Ausläufer der Hügel mit einem flammend roten Ausrufezeichen, doch die leuchtendsten Farben kommen vom Lodern der Waldbrände, die alljährlich toben. Dieses Jahr hatten die Brandstifter über den Bundesstaat verteilt bereits viermal zugeschlagen und Tausende Morgen Land aschgrau zurückgelassen, so unheimlich und öde wie der Mond.
Als ich bei Bucky ankam, ging ich ums Haupthaus herum und lief die Einfahrt hinauf. Die stümperhaft zementierte Parkfläche war mit zahlreichen Pappkartons zugestellt, und ich schloß daraus, daß man mit Johnnys persönlicher Habe vorangekommen war. Ich ging die hölzerne Treppe zu der Wohnung im ersten Stock hinauf. Die Tür stand offen, und ich konnte leises Stimmengewirr vernehmen. Ich trat über die Schwelle und blieb am Eingang stehen. Ohne den Irrgarten aus sperrigen Kisten sah der Raum kleiner und schäbiger aus. Die Möbel waren noch da, doch die Räume wirkten in nicht nachvollziehbarer Weise geschrumpft.
Bucky und Chester standen neben dem Wandschrank, aus dem die restlichen Kleider ausgeräumt worden waren. Beide Männer trugen Versionen des gleichen kurzärmeligen Nylon-Hawaiihemds: Bucky in Neongrün und Chester in Leuchtendblau. Daneben stand Babe, faltete die Kleidungsstücke zusammen und legte sie in einen alten Überseekoffer. Zu ihrer Rechten stapelten sich die Kleiderbügel, als ein Kleidungsstück nach dem anderen entfernt wurde. Sie trug wie üblich ihre Gummilatschen, dazu Shorts und ein ärmelloses Oberteil. Ich mußte die Lässigkeit bewundern, mit der sie ihren aufgeschwemmten Körper einsetzte. Mich hätte es in dieser Aufmachung gefroren, aber sie schien es nicht zu stören.
Chester lächelte, als er mich sah. »He, da sind Sie ja. Wir haben gerade von Ihnen gesprochen. Kommen Sie herüber, und sehen Sie sich das an. Bin gespannt, was Sie davon halten.« Aha, er machte also auf freundlich.
Bucky trat einen Schritt zurück und zeigte mir eine Holzplatte, die er von der Rückwand des Schranks gelöst hatte. Ein kleiner Privatsafe war in die Nische dahinter eingepaßt und offenbar in einen Betonblock eingegossen worden. Die Tür des Safes war ungefähr vierzig Zentimeter breit und fünfunddreißig Zentimeter hoch. Die Holzplatte schien sorgfältig gearbeitet zu sein, eine bündig montierte Trennwand aus Sperrholz mit eingesetzten Scharnieren. Der Magnetverschluß sah aus, als würde er mit Federdruck funktionieren und sprang wahrscheinlich bei Berührung auf.
»Beeindruckend. Wie haben Sie das entdeckt?« fragte ich.
Bucky lächelte einfältig, offenkundig von sich selbst eingenommen. »Wir haben den Schrank leergeräumt, und ich kehrte ihn gerade aus, als ich mit dem Besenstiel gegen die Rückwand stieß. Das Geräusch kam mir merkwürdig vor, also habe ich eine Taschenlampe geholt und angefangen, alles genau zu untersuchen, wissen Sie, indem ich die Wand abgeklopft habe. Es hatte den Anschein, als sei an dieser einen Stelle etwas Eigenartiges, also habe ich dagegengestoßen, und dann ist diese Holzplatte aufgesprungen.«
Ich kauerte mich vor die Öffnung und spähte in den Hohlraum, der in der »entdeckten« Nische zwischen den Balken verborgen war. Die Vorderseite des Safes wirkte imposant, doch das konnte täuschen. Die meisten Heimsafes sind nicht so gebaut, daß sie einem professionellen Einbrecher mit den geeigneten Werkzeugen und genügend Zeit, um sich Zugang zu verschaffen, standhalten könnten. Der Safe vor meinen Augen war eher ein Brandschutzsafe, bei dem das, was aussieht wie eine massive Stahlwand, nur eine dünne metallene Außenhülle ist, die mit Isoliermaterial ausgefüllt ist. Die Funktion eines solchen Safes ist, Schutz vor einem Brand von relativ kurzer Dauer zu gewähren. Die Isolierung in einem alten Safe könnte mit kleinblättrigem Glimmer oder Kieselgur ausgerüstet sein, wovon sich häufig winzige Teilchen auf Werkzeug und Kleidung eines Einbruchsverdächtigen nachweisen und zu dem betreffenden Safehersteller zurückverfolgen lassen.
Bei näherer Betrachtung erkannte ich, daß der Safe gar nicht wirklich in Beton eingelassen war. Der Beton bildete nur eine Art Gehäuse, in das der Safe geschoben worden war.
»Wir haben schon einen Schlosser bestellt«, sagte Chester. »Ich konnte das Warten nicht ertragen, deshalb habe ich einen Notdienst angerufen und gebeten, daß sie uns jemanden schicken. Wir könnten sämtliche Antworten direkt hinter dieser Skalenscheibe finden.« Vermutlich sah er vor seinem geistigen Auge Landkarten und chiffrierte Texte, ein kleines Funkgerät, eine Luger und Sendepläne, die mit unsichtbarer Tinte geschrieben waren.
»Haben Sie nach der Kombination gesucht? Es wäre möglich, daß er sie aufgeschrieben und irgendwo in der Nähe verstaut hat. Die meisten Leute trauen ihrem Gedächtnis nicht, und wenn er an den Safe mußte, hätte er sicher keine Zeit mit Suchen verlieren wollen.«
»Daran haben wir schon gedacht, aber wir haben an jedem erdenklichen Ort gesucht. Was ist mit Ihnen? Sie haben selbst ziemlich gründlich gesucht. Sind Sie auf irgend etwas gestoßen, das die Kombination hierfür sein könnte?«
Ich zuckte die Achseln. »Ich bin auf gar keine Zahlen gestoßen, es sei denn, er hat sein Geburtsdatum oder seine Sozialversicherungsnummer benutzt.«
»Geht denn das?« wollte Bucky wissen. »Eine Kombination auf jede beliebige Ziffernfolge einstellen?«
Ich zuckte erneut die Achseln. »Soweit ich weiß. Ich bin keine Expertin, aber ich bin immer davon ausgegangen, daß das geht.«
»Was meinen Sie? Sollen wir dieses Ding da herausholen?« fragte Chester.
»Kann nicht schaden. Der Schlosser wird es vermutlich sowieso tun müssen, wenn er kommt«, sagte ich.
Ich erhob mich und trat aus dem Wandschrank, wobei ich Bucky und Chester genügend Platz ließ, um den Safe aus seinem Standort herauszumanövrieren. Sie schnauften und keuchten ganz ordentlich, bevor es ihnen gelang, ihn in der Mitte des Zimmers auf den Boden zu stellen. Nachdem sie den Safe aus seinem Betongehäuse befreit hatten, konnten wir ihn genauer betrachten. Zu dritt inspizierten wir die Außenflächen, als handelte es sich um ein mysteriöses Objekt aus dem Weltall. Der Safe war vielleicht vierzig Zentimeter tief, war in Beige-Grau lackiert und hatte Gummifüße. Er sah nicht alt aus. Die Skala wies die Zahlen von eins bis hundert auf, was bedeutete, daß man annähernd eine Million Kombinationen einstellen konnte. Es war zwecklos, zu versuchen, die richtige zu erraten.
Babe hatte aufgehört zu packen und besah sich die ganze Prozedur. »Vielleicht ist er offen«, sagte sie zu niemand Bestimmtem.
Wir wandten uns alle zugleich um und sahen sie an.
»Na ja, könnte doch sein«, meinte sie.
»Einen Versuch ist es wert«, sagte ich. Ich streckte den Arm nach unten aus und zog ohne Erfolg an dem Griff. Ich drehte die Skala erst in der einen und dann in der anderen Richtung ein paar Nummern weiter und zog dabei weiterhin am Griff, da ich dachte, die Skalenscheibe könnte ja ganz in der Nähe der letzten Ziffer der Kombination stehengelassen worden sein. Aber nein.
»Was machen wir jetzt?« fragte Bucky.
»Ich schätze, wir warten«, sagte ich.
Nach nicht ganz einer Stunde erschien der Safetechniker mit einem großen, roten Werkzeugkasten. Er stellte sich als Bergan Jones von Santa Teresa Locksmiths vor und schüttelte zuerst Chester, dann Bucky und mir die Hand. Babe hatte wieder angefangen zu packen, doch sie nickte ihm schüchtern zu, als er ihr vorgestellt wurde. Jones wirkte groß und knochig, hatte sandfarbenes Haar, gebeugte Schultern, eine hohe, glänzende Stirn und sandfarbene Augenbrauen und trug eine große Brille mit Horngestell. Ich schätzte ihn auf Mitte fünfzig, aber ich hätte mich sowohl nach oben als auch nach unten um fünf Jahre irren können.
»Ich hoffe, Sie können uns hier weiterhelfen«, sagte Chester und zeigte auf den Safe, den Jones bereits entdeckt hatte.
»Kein Problem. Ich mache vermutlich jeden Monat dreißig Safes auf. Ich kenne dieses Modell. Dürfte nicht lange dauern.«
Wir standen alle vier da und sahen fasziniert zu, wie Jones seinen Werkzeugkasten öffnete. Seine Art hatte etwas von einem alten Arzt auf Hausbesuch. Er hatte seine Erstdiagnose gestellt, der Zustand des Patienten war nicht besorgniserregend, und wir waren alle erleichtert. Nun ging es nur noch um die richtige Behandlung. Er holte ein kegelförmiges Gerät heraus, das er auf die Skalenscheibe legte und fest anschraubte. Binnen Minuten hatte er die Scheibe abmontiert und beiseite gelegt, dann entfernte er die beiden Schrauben, die den Skalenring hielten, zog den Ring ab und legte ihn neben die Scheibe. Als nächstes holte er einen elektrischen Bohrer hervor und begann, an der Stelle, die von der Scheibe und dem Ring bedeckt gewesen war, ein Loch in das Metall zu bohren.
»Sie bohren einfach durch?« fragte Babe. Sie klang enttäuscht; womöglich hatte sie auf Sprengkapseln aus Dynamit und Nitroglyzerin gehofft.
lächelte. »Ganz so würde ich es nicht nennen. Das hier ist ein Feuersafe für den Privatgebrauch. Wenn es ein einbruchsicherer Safe wäre, stünden wir vor einer Panzerung: Isoliermaterial direkt hinter dieser Stahlplatte. Dafür habe ich einen Druckaufsatz, aber ich würde trotzdem eine halbe Stunde brauchen, um ein Loch von einem halben Zentimeter zu bohren. Viele von den Dingern haben federgesteuerte Wiederverschließmechanismen. Wenn man auf die falsche Stelle trifft, löst man sie aus. Und dann wird es erst mal viel übler, bevor es wieder besser wird. Das hier ist leicht.«
Wir schwiegen, während er bohrte, da das leise Jaulen des Metalls ein Gespräch erschwerte. Die Haare auf seinem Handrücken waren zartgolden, seine Finger lang, die Gelenke schmal. Er lächelte vor sich hin, als ob er etwas wüßte, was wir anderen noch nicht bedacht hatten. Oder vielleicht war er einfach ein Mann, dem seine Arbeit Spaß machte. Sobald ein Loch gebohrt war, holte er ein anderes Werkzeug hervor.
»Was ist das?« fragte ich.
»Ein Ophthalmoskop«, sagte er. »Das Ding, das der Doktor benutzt, wenn er Ihnen in die Augen guckt. Es wirft Licht auf die Kombinationsrädchen, damit ich sehen kann, was wir da haben.« Er begann in das frisch gebohrte Loch zu spähen und ging dabei immer näher heran, während er eine außen angebrachte Skala bewegte, um die Brennweite einzustellen. Während er durch sein Ophthalmoskop äugte, ließ er den hervorstehenden Zapfen nach links rotieren. »Das setzt das Antriebsrad in Gang, das wiederum das dritte Kombinationsrad anschiebt. Das dritte Rad treibt das zweite Rad an, und das schließlich das erste«, erklärte er. »Erst nach vier Umdrehungen bewegt sich das erste Rad. Das ist dasjenige; das im Safe am weitesten vorn liegt. Hier kommt es schon. Hervorragend. Der Sperrstift liegt genau unter der Zuhaltung. Jetzt kehren wir einfach die Richtung unserer Drehbewegung um und verringern die Anzahl der Umdrehungen. Wenn ich alle drei Räder eingestellt habe, ist die Zuhaltung so weit, daß sie herabfällt, sobald die Spitze des Hebels auf den Sperrstift im Antriebsrad trifft. Dann drehen wir weiter, der Hebel zieht den Verschlußbolzen zurück, und schon ist alles erledigt.«
Mit diesen Worten versetzte er dem Griff einen Ruck, und die Safetür schwang auf. Chester, Bucky und ich stießen simultan ein »Ooo« aus, als begafften wir ein Feuerwerk.
Babe sagte: »Mist, er ist leer.«
»Sie müssen es bereits haben. Verdammt«, sagte Chester.
»Was haben?« wollte Babe wissen, aber er überhörte die Frage und schoß ihr einen bösen Blick zu.
Während Bergan Jones die Kombination notierte und sein Werkzeug aufräumte, spähte Bucky in den Safe, legte sich schließlich auf den Rücken wie ein Automechaniker und leuchtete mit einer Lampe das Innere ab. »Hier oben klebt etwas, Dad.«
Ich beugte mich hinüber und äugte mit ihm hinein. Etwas war an der Oberseite des Safes angebracht worden: ein bucklig aussehendes Quadrat aus beigefarbenem Klebeband im Format fünfundzwanzig mal fünfundzwanzig Zentimeter.
Chester stieg über Buckys Beine, kauerte sich vor den Safe und inspizierte das Quadrat. »Was ist denn das? Zieh es ab und gib es mir. Laß mich das Ding ansehen.«
Vorsichtig löste Bucky eine Ecke und zog es dann ab wie Heftpflaster von einer Wunde. Ein großer Eisenschlüssel klebte daran. Er sah aus wie ein altmodischer, eiserner Hausschlüssel mit einfachen Einkerbungen am Ende. Er hielt ihn in die Höhe. »Kennt den jemand?«
»Ich bestimmt nicht«, sagte ich und wandte mich an Chester. »Wissen Sie, was das ist?«
»Nee, aber jetzt fällt mir wieder ein, daß Pappy andauernd an Schlössern herumgebastelt hat. Das hat ihn begeistert. Es hat ihm Spaß gemacht, ein Schloß aus einer Tür auszubauen und einen passenden Schlüssel dafür zurechtzufeilen.«
»Ich habe ihn das nie machen sehen«, meinte Bucky.
»Das war, als ich noch ein Kind war. Er hat während der Depression für einen Schlosser gearbeitet. Ich weiß noch, daß er mir erzählt hat, wie amüsant das war. Er hatte eine ganze Sammlung alter Schlösser – vermutlich an die hundert –, aber die habe ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen.«
Ich drehte den Schlüssel in meiner Hand um. Er war aufwendig verziert, der Griff war gewellt und hatte am anderen Ende ein Loch wie ein Rollschuhschlüssel. Von oben betrachtet hatte das Ding beinahe die Form eines Fragezeichens. »Das Schloß und das Schlüsselloch müssen reichlich seltsam aussehen. Sie erinnern sich nicht, vielleicht etwas in der Art hier gesehen zu haben?«
Chester verzog den Mund nach unten. »Ich nicht. Wie steht’s mit euch beiden? Ihr kennt das Haus im Moment besser als ich.«
Bucky schüttelte den Kopf, und Babe zuckte leicht die Achseln.
Ich hielt Bergan Jones den Schlüssel hin. »Fällt Ihnen etwas ein?«
Jones lächelte ein wenig und ließ die Schlösser an seinem Werkzeugkasten einschnappen. »Sieht aus wie der Schlüssel zu einem Tor. Eines dieser großen alten Eisendinger, wie man sie auf Landsitzen hat.« Er wandte sich an Chester. »Soll ich Ihnen dafür eine Rechnung schicken?«
»Ich gebe Ihnen einen Scheck. Kommen Sie mit nach unten in die Küche, dann erledigen wir das. Sie haben wahrscheinlich inzwischen mitbekommen, daß mein Vater vor ein paar Monaten gestorben ist. Wir sind immer noch dabei, seine Sachen zu ordnen. Der Safe war eine Überraschung für uns. Die Leute sollten Anweisungen hinterlassen. Was zum Teufel das ist und wer es bekommen soll. Auf jeden Fall danken wir Ihnen für Ihre Hilfe.«
»Dazu bin ich ja da.«
Die beiden Männer zogen ab und ließen Bucky, Babe und mich in Betrachtung des Schlüssels zurück. Bucky sagte: »Und jetzt?«
»Ich habe einen Freund, der eine Menge über Schlösser weiß«, sagte ich. »Er könnte eine Idee haben, in was für ein Schloß dieses Ding paßt.«
»Nichts dagegen. Sonst kommen wir sowieso nicht weiter.«
Babe nahm den Schlüssel und inspizierte ihn mit gerunzelter Stirn. »Vielleicht hat Pappy ihn aufgehoben, weil er ihm gefiel«, sagte sie. »Er ist hübsch. Altmodisch.« Sie reichte ihn Bucky, der ihn wieder mir gab.
»Ja, aber weshalb sich die Mühe machen, ihn in einem feuersicheren Safe aufzubewahren? Er hätte ihn auch in eine Schublade legen können. Oder ihn an einer Kette um den Hals tragen«, meinte er.
»Wenn Sie nichts dagegen haben, frage ich mal, was mein hiesiger Experte dazu zu sagen hat.«
»Ist mir recht«, sagte Bucky.
Ich schob den Schlüssel in eine Tasche meiner Jeans, ohne die Tatsache zu erwähnen, daß mein Experte der Einbrecher war, der mir auch den Satz Dietriche geschenkt hatte, die ich in meiner Handtasche herumtrage.
Als ich zu Fuß nach Hause zurückging, ließ ich die ganze Abfolge der Ereignisse noch einmal Revue passieren. Ich muß gestehen, daß die vergangenen vierundzwanzig Stunden meine Neugier geweckt hatten. Es war nicht unbedingt Chesters Spionagetheorie, die mir nach wie vor weit hergeholt vorkam. Was mich störte, waren die schwammigen, unbeantworteten Fragen, die im Leben des alten Mannes auftauchten. Ich mag Ordnung und Sauberkeit: kein Durcheinander und keine Staubflocken unter dem Bett.
Zu Hause angekommen, setzte ich mich an meinen Schreibtisch, holte einen Stapel Karteikarten heraus und fing an, mir Notizen zu machen. Es war erstaunlich, an wie viele Einzelheiten ich mich tatsächlich erinnern konnte, wenn ich erst einmal anfing, sie zu Papier zu bringen. Als ich das Thema erschöpfend behandelt hatte, hängte ich die Karten an die Kork-Pinnwand über meinem Schreibtisch. Ich legte die Füße auf den Tisch, lehnte mich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf meinem Drehstuhl zurück und studierte die Ansammlung. Irgend etwas stimmte nicht, aber ich kam nicht darauf, was es war. Ich tauschte ein paar Karten aus und hängte sie anders angeordnet wieder auf. Es war etwas, das ich gelesen hatte. Birma. Etwas über Chennault und das Amerikanische Freiwilligenkorps. Im Moment war die Wahrheit für mich nicht greifbar, doch ich wußte, daß sie da war. Ich überlegte, wie man die Einheit ausfindig machen konnte, in der er gedient hatte. War das wirklich der Kernpunkt hier, oder ging es um etwas anderes? Beim Durchblättern von Johnnys Büchern war ich auf mehrere namentlich genannte Kampfflieger des Amerikanischen Freiwilligenkorps gestoßen. Einer oder mehrere von ihnen mußten noch leben. Könnten sie nicht dazu beitragen, Johnnys Kampfeinheit herauszufinden? Es wäre nervtötend, und ich würde es garantiert nicht machen, aber zumindest konnte ich Chester in die richtige Richtung lenken. Ich müßte noch einmal die Bücher durchgehen und versuchen, die Hinweise zu finden, aber verflucht noch mal, darüber hinaus würde ich keinen Finger rühren. Außerdem kann ich, wenn ich erst einmal angefangen habe, einen Knoten zu entwirren, nicht mehr damit aufhören.
Ich rief bei meinem Einbrecherfreund an, dessen Anschluß nicht mehr existierte. Mist. Am späteren Vormittag würde ich es bei der Polizei von Santa Teresa versuchen. Detective Halpern von der Kriminalpolizei würde vermutlich wissen, wo er steckte.