Читать книгу Ruhelos - Sue Grafton - Страница 6

4

Оглавление

Freitagmorgen stand ich um sechs Uhr auf und machte mich auf den Weg zum Strand, um zu laufen. Wegen einer Verletzung hatte ich während des größten Teils des Sommers nicht joggen können, aber seit ungefähr zwei Monaten hatte ich es wiederaufgenommen, und ich fühlte mich sehr wohl dabei. Ich habe mir nie sonderlich viel aus Sport gemacht und würde ihn meiden, wenn ich könnte, aber mir ist aufgefallen, daß mein Körper immer weicher wird, je älter ich werde, wie Butter, die bei Zimmertemperatur stehengelassen wird. Ich will nicht zusehen, wie mein Hintern schlaff wird und meine Schenkel aus der Form gehen wie Jodhpurs aus Fleisch. Im Interesse engsitzender Jeans – meiner Standardbekleidung – jogge ich täglich drei Meilen auf dem Fahrradweg, der sich am Meer entlangwindet.

Die Morgendämmerung zog sich über den östlichen Horizont wie Wasserfarben auf einer Palette: Kobaltblau, Violett und Rosa verschmolzen in horizontalen Streifen ineinander. Dicke düstere Wolken waren draußen über dem Ozean sichtbar und trieben den Geruch von fernen Meeren über die Brandung heran. Es war kalt, und ich rannte nicht nur, um in Form zu bleiben, sondern auch, um mich warm zu halten.

Um 6 Uhr 25 kehrte ich in meine Wohnung zurück, duschte, zog Jeans, Sweatshirt und Stiefel an und aß eine Schüssel Haferflocken. Ich las die Zeitung von vorne bis hinten, bedachte die Wetterkarte mit besonderem Interesse, denn sie wies einen Sturm auf, der von Alaska zu uns herübergetrieben wurde. Eine achtzigprozentige Wahrscheinlichkeit für Regenfälle war für den Nachmittag angesagt, außerdem vereinzelte Schauer übers Wochenende und Aufklarung erst am Montagabend. In Santa Teresa ist Regen nichts Alltägliches, und er verbreitet fast so etwas wie Feststimmung, wenn er kommt. Ich habe immer Lust, mich einzuschließen und es mir mit einem guten Buch gemütlich zu machen. Ich hatte gerade einen neuen Roman von Len Deighton daheim und freute mich schon darauf, ihn zu lesen.

Um neun Uhr zerrte ich widerwillig eine Windjacke hervor, nahm meine Handtasche, sperrte die Wohnung ab und machte mich auf den Weg ins Büro. Die Sonne schien, brachte ein wenig Wärme, während die dunkle Wolkenbank langsam von den Inseln hereingekrochen kam. Ich stellte den Wagen auf dem Parkplatz ab und lief über die Hintertreppe nach oben, vorbei an der gläsernen Doppeltür der California Fidelity, wo man bereits mit der Arbeit angefangen hatte.

Ich schloß mein Büro auf und ließ die Tasche auf einen Stuhl fallen. Ich hatte wirklich nicht viel zu tun. Vielleicht würde ich ein paar Kleinigkeiten erledigen und dann wieder heimfahren.

Auf meinem Anrufbeantworter hatte niemand eine Nachricht hinterlassen. Ich sah die Post vom Vortag durch und tippte dann die Notizen zu meinen Besuchen bei Lovella Daggett, Eugene Nickerson und seiner Schwester Essie. Da niemand zu wissen schien, wo John Daggett war, beschloß ich, statt dessen Billy Polo zu suchen. Ich würde Informationen für eine effektive Suche benötigen. Als erstes rief ich in Santa Teresa Police Department an und ließ mich mit Sergeant Robb verbinden.

Ich hatte Jonah im Juni kennengelernt, als ich eine Vermißtenanzeige bearbeitete. Sein unberechenbarer Ehemann-Status ließ eine Beziehung zwischen uns von meinem Standpunkt aus nicht angeraten erscheinen, aber ich beäugte ihn noch immer mit Interesse. Er war, was man einen schwarzen Iren nennt: dunkle Haare, blaue Augen, (vielleicht) ein Hauch von Masochismus. Ich kannte ihn nicht gut genug, um entscheiden zu können, wieviel von seinem Leiden er sich selbst zufügte, und ich war mir nicht sicher, ob ich es herausfinden wollte. Manchmal glaube ich, daß eine nicht ausgelebte Affäre auf jeden Fall das klügste ist. Kein Zank, keine Fragen, keine Enttäuschungen, und beide Partner halten all ihre Neurosen unter Verschluß. Wie immer es nach außen hin auch erscheinen mag, die meisten Menschen sind mit einer verschlungenen, emotionellen Maschinerie ausgestattet. Mit der Intimität treten die Verwüstungen zutage, und man fügt sich Schaden zu, wenn die Leidenschaften aufeinanderprallen wie Güterzüge auf demselben Gleis. Ich hatte im Laufe der Jahre genug davon erlebt. Ich war auch nicht in besserer Verfassung als er, warum also das Leben schwierig machen?

Es läutete zweimal, dann wurde der Hörer abgenommen.

»Vermißtenstelle, Sergeant Robb.«

»Hallo, Jonah. Hier ist Kinsey.«

»Hallo, Kleines. Was kann ich für dich tun?«

Ich lächelte. »Wie wär’s mit der Überprüfung von ein paar Exsträflingen?«

»Klar, kein Problem.«

Ich gab ihm beide Namen und das wenige, was ich an Informationen hatte. Er notierte es und versprach, sich wieder bei mir zu melden. Er würde ein Formular ausfüllen und die Anfrage über den National Crime Information-Computer laufen lassen, eigentlich ein Verstoß gegen das Gesetz, denn ich habe nicht das Recht auf einen derartigen Zugriff. Im allgemeinen hat ein Privatdetektiv nicht mehr Rechte als jeder durchschnittliche Bürger und muß sich auf seinen Scharfsinn, seine Geduld und seine Beziehungen verlassen, um die Tatsachen in Erfahrung zu bringen, die den Rechtsinstitutionen des Landes selbstverständlich zur Verfügung stehen. Ich kultiviere deshalb einfach meine Beziehungen zu Leuten, die an verschiedenen Stellen in dieses System eingebaut sind. Ich habe Kontakt zur Telefongesellschaft, der Kreditanstalt, der Southern California Gas, Southern Cal Edison (entsprechen unseren Stadtwerken, Anm. d. Ü.) und der Kfz-Zulassungsstelle. Manchmal kann ich einen Überfall auf gewisse Regierungsstellen machen, aber nur, wenn ich etwas Wertvolles im Tausch zu bieten habe. Was Informationen persönlicher Art angeht, so hänge ich da normalerweise von der menschlichen Neigung ab, sich gegenseitig zu verraten.

Ich stellte eine Checkliste für Billy Polo zusammen und machte mich an die Arbeit.

So, wie ich Jonah kannte, würde er beim Bewährungshelfer anrufen und sich Polos derzeitige Adresse geben lassen. Bis dahin wollte ich schon ein paar Dinge selbst herausfinden. Eine persönliche Suche bringt häufig unerwartete Erfolge. Ich wollte die Möglichkeit einer Überraschung nicht außer acht lassen, weil das soviel Spaß macht. Ich wußte, daß Polo nicht im neuesten Telefonbuch stand, aber ich versuchte es mit der Auskunft, weil ich dachte, er hätte vielleicht einen Anschluß beantragt. Aber es gab keine neue Eintragung für ihn.

Ich rief meine Quelle bei den Stadtwerken an und erkundigte mich nach einem möglichen Anschluß unter seinem Namen. Aber ihre Unterlagen brachten mich nicht weiter. Scheinbar hatte er weder Wasser noch Gas oder Strom auf seinen eigenen Namen beantragt. Natürlich war es möglich, daß er irgendwo ein Zimmer gemietet hatte und eine Pauschalmiete zahlte, in der die Nebenkosten bereits enthalten waren.

Ich rief fünf oder sechs billige Absteigen an. Polo war nicht eingetragen, und niemand schien seinen Namen auch nur gehört zu haben. Da ich schon mal dabei war, versuchte ich es auch gleich mit John Daggetts Namen – aber mit demselben Ergebnis.

Ich wußte, daß ich im örtlichen Büro der Sozialversicherung nicht einmal eine höfliche Absage bekommen würde, und ich bezweifelte, daß ich Billy Polos Namen in den Wahlerlisten finden würde.

Was blieb also noch übrig?

Ich sah auf die Uhr. Erst dreißig Minuten waren vergangen, seit ich mit Jonah gesprochen hatte. Ich war mir nicht sicher, wie lange es dauern würde, bis er zurückrief, und ich wollte keine Zeit damit verlieren hier herumzusitzen, bis ich von ihm hörte. Ich schnappte mir meine Windjacke, schloß das Büro ab und ging über die Vordertreppe nach unten auf die State Street und dann zwei Blocks weiter in die öffentliche Bibliothek.

Ich fand einen leeren Tisch und zog mir die Telefonbücher von Santa Teresa von den letzten fünf Jahren heraus, ging sie Jahr um Jahr durch. Vier Bücher weiter hinten fand ich Polo. Prächtig. Ich notierte mir die Adresse in der Merced Street und fragte mich, ob er seitdem nicht mehr aufgeführt war, weil er sich im Gefängnis befand.

Dann ging ich in die Abteilung hinüber, die die Geschichte Santa Teresas beherbergte, und suchte mir das Stadtbuch des entsprechenden Jahres. Hier werden nicht nur die Namen alphabetisch aufgeführt, sondern zusätzlich auch die Adressen. Wenn man also eine Adresse hat und wissen möchte, wer dort wohnt, kann man die Straße und Hausnummer heraussuchen und findet den Namen des Bewohners und eventuell eine Telefonnummer. Im hinteren Teil sind die Telefonnummern der Reihe nach aufgeführt. Wenn Sie also nur eine Telefonnummer haben, verrät das Stadtbuch Ihnen einen Namen und eine Adresse. Mit Hilfe von Querverweisen stößt man dann wieder auf den Namen und die Namen aller Nachbarn in derselben Straße. Innerhalb von zehn Minuten hatte ich eine Liste von sieben Personen, die gleichzeitig mit Billy Polo in der Merced Street gewohnt hatten. Indem ich diese sieben im derzeitigen Buch nachschlug, stellte ich fest, daß zwei von ihnen noch dort wohnten. Ich notierte mir die beiden jetzigen Telefonnummern, schob die Bücher an ihren Platz zurück und machte mich auf den Rückweg in mein Büro.

Die Sonne wurde jetzt größtenteils von Wolken verdeckt, die sich am blauen Himmel geballt hatten und nun hier und da einen Fleck sehen ließen wie ein Loch in einer Decke. Die Luft kühlte rapide ab, und eine feuchte Brise zupfte an den Rocksäumen der Frauen. Ich blickte zum Meer hinüber und bemerkte diesen stummen grauen Schleier, der verrät, daß in ein paar Meilen Entfernung der Regen bereits fällt. Ich beschleunigte meine Schritte.

Wieder in meinem Büro, trug ich die neuen Informationen in die Akte ein, die ich angelegt hatte. Ich wollte gerade Feierabend machen, als ich ein Klopfen an der Tür hörte. Ich zögerte, durchquerte dann aber das Zimmer und öffnete.

Eine Frau stand im Flur, Ende Dreißig, ausdruckslos und blaß.

»Kann ich Ihnen helfen?« erkundigte ich mich.

»Ich bin Barbara Daggett.«

Hastig betete ich, daß es sich hier nicht um die Ehefrau Nummer drei handelte. Ich versuchte es auf die optimistische Art. »John Daggetts Tochter?«

»Ja.«

Sie war eine von diesen eiskalten Blondinen, mit einer Haut, so fein wie aus Perkal gewirkt. Sie war groß, kräftig gebaut, mit kurzem, festem Haar, das sie glatt aus dem Gesicht gekämmt trug. Sie hatte hohe Wangenknochen, eine zarte Stirn und den bohrenden Blick ihres Vaters. Ihr rechtes Auge war grün, ihr linkes blau. Ich hatte einmal eine weiße Katze gesehen, bei der war es genauso, und es hatte dieselbe beunruhigende Wirkung gehabt. Sie trug ein graues Wollkostüm und eine steife, weiße Bluse mit Stehkragen und einem Spitzenjabot am Hals. Ihre Schuhe waren aus burgunderfarbenem Leder und paßten zu ihrer Schultertasche. Sie sah aus wie eine Anwältin oder Börsenmaklerin, jemand jedenfalls, der daran gewöhnt ist, Macht auszuüben.

»Kommen Sie herein«, forderte ich sie auf. »Ich habe gerade versucht herauszufinden, wie ich mit ihm Verbindung aufnehmen könnte. Ich nehme doch an, daß Ihre Mutter Ihnen erzählt hat, daß ich bei ihr gewesen bin.«

Es war Small talk. Sie fiel nicht darauf herein. Sie setzte sich, wandte mir diese seltsamen Augen zu, als ich zu meiner Seite des Schreibtisches herumging und ebenfalls Platz nahm. Ich dachte daran, ihr einen Kaffee anzubieten, aber ich wollte wirklich nicht, daß sie so lange blieb. Selbst die Luft um sie herum schien eisig, und die Art, wie sie mich ansah, gefiel mir überhaupt nicht. Ich lehnte mich in meinem Drehstuhl zurück. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich möchte wissen, warum Sie meinen Vater suchen.«

Ich zuckte die Achseln, spielte cool, hielt mich an die Geschichte, mit der ich angefangen hatte. »Tue ich eigentlich nicht. Ich suche nach einem Freund von ihm.«

»Warum hat man uns nicht erzählt, daß Daddy aus dem Gefängnis entlassen wurde? Meine Mutter ist einem Zusammenbruch nahe. Wir mußten den Arzt rufen, damit er ihr ein Beruhigungsmittel gibt.«

»Es tut mir leid, das zu hören.«

Barbara Daggett schlug die Beine übereinander und strich den Rock glatt. Ihre Bewegungen waren erregt. »Leid? Sie wissen ja gar nicht, was Sie ihr damit angetan haben. Sie fing gerade an, sich sicher zu fühlen. Jetzt müssen wir herausfinden, daß er irgendwo in der Stadt ist, und sie ist schrecklich erregt. Ich verstehe nicht, was hier vorgeht.«

»Miss Daggett, ich bin kein Bewährungshelfer«, erklärte ich. »Ich weiß nicht, wann er entlassen wurde oder warum Sie nicht verständigt worden sind. Die Probleme Ihrer Mutter haben nicht erst gestern angefangen.«

Farbe schoß ihr in die Wangen. »Das ist wahr. Ihre Probleme begannen mit dem Tag, als sie ihn geheiratet hat. Er hat ihr Leben ruiniert. Er hat unser aller Leben ruiniert.«

»Beziehen Sie sich auf seine Trinkerei?«

Das wischte sie einfach beiseite. »Ich will wissen, wo er ist. Ich muß mit ihm reden.«

»Im Augenblick habe ich keine Ahnung, wo er ist. Wenn ich ihn finde, sage ich ihm, daß Sie sich für ihn interessieren. Mehr kann ich nicht für Sie tun.«

»Mein Onkel hat mir erzählt, Sie hätten ihn am Samstag getroffen.«

»Nur kurz.«

»Was hat er in der Stadt gemacht?«

»Darüber haben wir nicht gesprochen.«

»Aber worüber dann? Was könnte er mit einem Privatdetektiv für Geschäfte machen?«

Ich zog einen Block heran und zückte einen Kugelschreiber. »Gibt es eine Nummer, unter der ich Sie erreichen kann?«

Sie öffnete die Handtasche und holte eine Visitenkarte heraus, die sie mir über den Schreibtisch hinweg zuschob. Ihre Büroadresse lag nur drei Blocks entfernt an der State Street, und ihr Titel wies sie als Vorsitzende einer Gesellschaft namens FMS aus.

Wie als Antwort auf eine Frage sagte sie: »Ich entwickle Management-Software-Systeme für Herstellungsmaschinen. Das ist meine Büronummer. Ich stehe nicht im Telefonbuch. Wenn Sie mich daheim erreichen wollen ... das ist die Nummer.«

»Klingt interessant«, bemerkte ich. »Was haben Sie für eine Ausbildung?«

»Ich habe einen Abschluß in Mathe und Chemie von Stanford und außerdem einen Magister in Computer-Wissenschaft und -technik von der USC.«

Ich spürte, wie sich meine Brauen anerkennend hoben. Ich konnte keinen Hinweis darauf entdecken, daß Daggett ihr Leben ruiniert hatte, aber diese Beobachtung behielt ich für mich. Hinter Barbara Daggett steckte eindeutig mehr, als ihr Status erkennen ließ. Vielleicht war sie eine von den Frauen, die im Beruf erfolgreich sind, aber dafür in ihren Beziehungen zu Männern versagen. Da man mir selbst so etwas vorgeworfen hatte, beschloß ich, kein Urteil zu fallen. Wo steht geschrieben, daß es das Maß aller Dinge ist, Teil eines Paares zu sein?

Sie schaute auf ihre Uhr und stand auf. »Ich habe noch eine Verabredung. Bitte, lassen Sie es mich wissen, wenn Sie von ihm hören.«

»Darf ich fragen, was Sie von ihm wollen?«

»Ich habe meine Mutter gedrängt, die Scheidung einzureichen, aber bislang hat sie das abgelehnt. Vielleicht kann ich ihn statt dessen überreden.«

»Ich bin überrascht, daß sie sich nicht vor Jahren von ihm scheiden ließ.«

Ihr Lächeln war kalt. »Sie sagt, sie hat ihn geheiratet ›in guten wie in schlechten Zeiten‹. Bislang hat es keine ›guten‹ gegeben. Vielleicht hofft sie noch auf eine kleine Kostprobe davon, ehe sie aufgibt.«

»Was ist mit seinem Gefängnisaufenthalt? Warum ist er eingesperrt worden?«

Etwas zuckte über ihr Gesicht, und zuerst dachte ich, sie würde mir nicht antworten. »Fahrlässige Tötung mit dem Wagen«, erklärte sie schließlich. »Er war betrunken, und es hat einen Unfall gegeben. Fünf Personen kamen ums Leben, zwei davon Kinder.«

Mir fiel keine Erwiderung ein, und sie schien auch keine zu erwarten. Sie stand auf, beendete die Unterredung mit einem kräftigen Händedruck, und dann war sie fort. Ich konnte ihre hohen Absätze über den Flur klappern hören.

Ruhelos

Подняться наверх