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Ich fand sie in der Eingangshalle. Sie stand am Fenster und starrte auf den Parkplatz hinaus. Der Regen fiel mit monotonem Geräusch, gelegentlich rauschte der Wind in den Baumwipfeln. In allen Gebäuden, die den Parkplatz umgaben, brannte gemütlich aussehendes Licht, das die Feuchtigkeit und Kälte draußen nur noch unterstrich. Eine Krankenschwester, deren weiße Uniform zwischen den Teilen ihres dunkelblauen Regenmantels aufblitzte, näherte sich der Tür, indem sie über Pfützen sprang wie ein Kind, das Himmel und Hölle spielt. Ihre weißen Strümpfe hatten fleischfarbene Flecken an den Stellen, wo der Regen durchgedrungen war, und die weißen Schuhe waren schlammbespritzt. Sie erreichte den Eingang, und ich hielt ihr die Tür auf.

Sie schenkte mir ein strählendes Lächeln. »Wow! Danke. Ist ja der reinste Hindernislauf hierher.« Sie schüttelte das Wasser von ihrem Regenmantel und tappte den Gang entlang. Die Kreppsohlen hinterließen ein Muster feuchter Fußspuren.

Barbara Daggett stand wie angewurzelt. »Ich muß zu Mutter fahren«, sagte sie. »Jemand muß es ihr sagen.« Sie drehte sich um und sah mich an. »Wieviel verlangen Sie für Ihre Dienste?«

»Dreißig die Stunde plus Spesen, das ist Standard hier. Wenn Sie es ernst meinen, kann ich heute nachmittag einen Vertrag in Ihr Büro bringen.«

»Wie ist es mit einer Anzahlung?«

Ich überschlug es schnell. Normalerweise verlange ich immer einen Vorschuß, vor allem in einer Situation wie dieser, wenn ich weiß, daß ich mit den Polizisten reden muß. Zwischen einem Privatdetektiv und seinem Klienten gibt es kein Konzept von Vorrechten, aber zumindest macht ein Vorschuß klar, wo meine Loyalität liegt.

»Vierhundert sollten genügen«, sagte ich. Ich fragte mich, ob mir die Zahl wegen Daggetts geplatztem Scheck einfiel. Seltsamerweise hatte ich das Gefühl, ihn beschützen zu müssen. Er hatte mich hereingelegt – daran bestand kein Zweifel –, aber ich hatte eingewilligt, für ihn zu arbeiten, und ich fühlte mich ihm immer noch verpflichtet. Natürlich hätte mich wahrscheinlich nicht soviel Menschenliebe gepackt, wenn er noch gelebt hätte, aber die Toten sind wehrlos, und irgend jemand auf dieser Welt muß sich um sie kümmern.

»Ich lasse gleich Montag früh von meiner Sekretärin einen Scheck für Sie ausstellen«, sagte sie. Dann drehte sie sich um, starrte durch die Doppeltür in die Dämmerung. Sie lehnte den Kopf ans Glas.

»Ist alles in Ordnung?«

»Sie haben keine Ahnung, wie oft ich mir gewünscht habe, er wäre tot. Haben Sie je mit einem Alkoholiker zu tun gehabt?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Sie machen einen wahnsinnig. Ich habe ihn immer angeschaut und war überzeugt, er könnte zu trinken aufhören, wenn er nur wollte. Ich weiß nicht, wie oft ich mit ihm geredet habe, ihn angefleht habe aufzuhören. Ich dachte, er würde nicht begreifen. Ich dachte, er wäre sich einfach nicht klar darüber, was wir durchmachten, meine Mutter und ich. Ich kann mich noch an den Ausdruck in seinen Augen erinnern, wenn er betrunken war. Es waren kleine, rosige Schweinsäuglein. Sein ganzer Körper strahlte den Geruch aus. Bourbon. Großer Gott, ich hasse das Zeug. Er roch, als hätte jemand eine Flasche Fusel in einen Heizlüfter geschüttet ... Wogen von diesem Geruch. Er stank danach aus allen Poren.«

Sie schaute zu mir her, die Augen trocken und mitleidslos. »Ich bin vierunddreißig, und ich habe ihn mit jeder Faser meines Körpers gehaßt, so lange ich zurückdenken kann. Und jetzt klebt es an mir. Er hat gewonnen, nicht wahr? Er hat sich nie verändert, ist uns nie auch nur einen Zentimeter entgegengekommen. Er war ein solches Arschloch. Ich hätte Lust, diese Glastür zu zerschmettern. Ich weiß nicht einmal, warum es mich interessiert, wie er gestorben ist. Ich sollte erleichtert sein, aber ich bin verärgert. Die Ironie daran ist, daß er mein Leben wahrscheinlich immer noch beherrscht.«

»Wie das?«

»Sehen Sie doch, was er bereits aus mir gemacht hat. Ich denke an ihn, sobald ich überhaupt denke. Ich denke an ihn, wenn ich mich entscheide, nichts zu trinken. Wenn ich nur einen Mann kennenlerne, der trinkt, oder wenn ich einen Penner auf der Straße sehe oder Bourbon rieche und wenn ich mit jemandem zusammen bin, der zuviel getrunken hat, dann halte ich es nicht aus. Seine Entschuldigungen und sein falscher Charme, seine Heulerei, wenn der Alkohol dann seine Wirkung bei ihm tat. Die Zeiten, wo er stürzte, wo er ins Gefängnis kam, wo er jeden Pfennig ausgab, den wir hatten. Als ich zwölf war, fand Mutter ihre Religion, und ich weiß nicht, was schlimmer war. Daddy wachte jedenfalls an den meisten Tagen auf und war ganz in Ordnung. Sie hatte Jesus zum Frühstück, Mittagessen und Abendessen. Es war grotesk. Und dann kam noch die Freude dazu, ein Einzelkind zu sein.«

Sie brach abrupt ab und schien sich zu schütteln. »Ach zum Teufel. Was macht das schon für einen Unterschied? Ich weiß, ich klinge nach Selbstmitleid, aber es war so schrecklich, und ein Ende ist nicht abzusehen.«

»Ehrlich gesagt sieht es so aus, als hätten Sie sich ganz gut gehalten«, bemerkte ich.

Sie wandte ihren Blick wieder dem Parkplatz zu, und ich konnte ihr schwaches, bitteres Lächeln sehen, das sich im Glas spiegelte. »Sie kennen doch sicher den Spruch, daß die beste Rache darin besteht, gut zu leben. Ich habe es geschafft, weil es die einzige Verteidigung war, die ich hatte. Flucht war die motivierende Kraft in meinem Leben. Fort von ihm, fort von ihr, das Haus hinter mir lassen. Das komische ist, daß ich keinen Zentimeter weiter gekommen bin, und je mehr ich renne, desto schneller gleite ich zu ihnen zurück. Es gibt Spinnen, die so arbeiten. Sie begraben sich selbst und schaffen eine kleine Tasche aus losem Sand. Wenn dann ihre Beute vorüberkommt, gibt der Boden nach, und das Opfer rutscht in die Falle. Es gibt Gesetze für alles, nur nicht für den Schaden, den Familien anrichten.«

Sie drehte sich um, schob die Hände in die Taschen ihres Regenmantels. Mit dem Hinterteil stieß sie die Tür auf, kalte Luft strömte herein. »Was ist mit Ihnen? Gehen Sie auch? Oder bleiben Sie noch?«

»Ich schätze, ich fahre noch im Büro vorbei, wenn ich schon mal draußen bin«, meinte ich.

Sie drückte auf einen Knopf am Griff ihres Schirmes, und mit einem gedämpften Klack sprang er auf. Sie hielt ihn für mich, und zusammen gingen wir zu meinem Wagen. Die Regentropfen, die auf den Schirmstoff fielen, klangen erstickt wie Popcorn in einer Pfanne mit Deckel.

Ich schloß den Wagen auf und stieg ein, während sie zu ihrem weiterging und über die Schulter zurückrief: »Versuchen Sie, mich im Büro zu erreichen, sobald Sie etwas gehört haben. Ich bin wohl gegen zwei dort.«

Das Haus, in dem ich mein Büro habe, lag verlassen da. California Fidelity ist an den Wochenendtagen geschlossen, also waren ihre Büros dunkel. Ich schloß mir auf, hob den Packen Morgenpost auf, der durch den Schlitz geschoben worden war. Auf meinem Anrufbeantworter gab es keine Nachrichten. Ich zog einen Vertrag aus meiner Schreibtischschublade und verbrachte ein paar Minuten damit, ihn auszufüllen. Ich schaute auf Barbara Daggetts Visitenkarte nach, ob die Adresse stimmte, schloß dann wieder ab und ging über die Vordertreppe nach unten.

Ich ging die drei Blocks zu Fuß und gab den Vertrag in ihrem Büro ab, ehe ich zum Polizeirevier von Floresta fuhr. Die Kombination aus Wochenende und schlechtem Wetter verlieh dem Gebäude dasselbe verlassene Aussehen wie meinem Bürohaus. Verbrechen halten sich nicht an die Vierzigstundenwoche, aber es gibt Tage, an denen selbst den Verbrechern nicht danach ist, was auf die Beine zu stellen. Auf dem Linoleum zeichnete sich ein Muster aus nassen Fußabdrücken ab, das aussah wie Tanzschritte, die zu schwierig waren, um sie zu lernen. Es roch nach Zigarettenrauch und feuchten Uniformen. Ich konnte einen Regenhut sehen, den jemand aus Zeitungspapier gefaltet hatte und der jetzt auf der Holzbank gleich hinter der Tür lag.

Einer der Beamten rief Jonah an, und er kam zur verschlossenen Eingangstür und ließ mich ein.

Er sah nicht gut aus. Im Laufe des Sommers hatte er zwanzig Pfund Übergewicht abgebaut, und er hatte mir erzählt, daß er noch immer in der Sporthalle arbeitete, daran konnte es also nicht liegen. Aber sein dunkles Haar wirkte schlecht geschnitten, und die Falten unter seinen Augen traten deutlich hervor. Außerdem strahlte er Kummer aus.

»Was ist denn mit dir passiert?« fragte ich, als wir in sein Büro zurückgingen. Er lebt seit Juni wieder mit seiner Frau zusammen, nach einem Jahr Trennung, aber nach allem, was ich sah, schien es nicht gut zu laufen.

»Sie will eine offene Beziehung«, erklärte er.

»Ach, hör auf«, meinte ich ungläubig.

Das brachte mir ein müdes Lächeln ein. »Das sind die Worte der Dame.« Er hielt mir die Tür auf, und wir traten in einen L-förmigen Raum, der mit großen, hölzernen Schreibtischen ausgestattet war.

Die Vermißten-Abteilung gehört zur Abteilung »Delikte am Menschen«, die ihrerseits zusammen mit der Abteilung »Eigentumsdelikte, Rauschgiftkriminalität und Sonderkommissionen« zur Fahndung gehört. Der Raum war im Augenblick verlassen, aber in Abständen kamen und gingen Leute. Aus dem Verhörraum konnte ich eine schrille Frauenstimme hören, mal leiser, mal lauter, und ich vermutete, daß ein Verhör im Gange war. Jonah schloß die Flurtür, schirmte automatisch die internen Angelegenheiten ab.

Er füllte zwei Kunststoffbecher mit Kaffee, brachte sie rüber und gab mir Tütchen mit Milch und Zucker. Das war genau das, was ich jetzt brauchte, eine Tasse mit heißen Chemikalien. Wir vollzogen die nötigen Handgriffe, um den Kaffee aufzupäppeln, der roch, als hätte er zu lange auf der Platte gestanden.

Dann nahm ich mir ein paar Minuten, um die Daggett-Angelegenheit darzustellen. Zu dieser Zeit hatten wir noch keine Ergebnisse der Autopsie vorliegen, und so war die Vermutung eines Mordes reine Theorie. Trotzdem erzählte ich Jonah, was bislang geschehen war, und gab ihm eine kurze Beschreibung der wichtigsten Charaktere. Ich sprach zu ihm als zu einem Freund, nicht zu einem Polizisten, und er hörte als interessierter, aber nicht offizieller Teilnehmer zu.

»Wie lange war er also hier, ehe er starb?« wollte Jonah wissen.

»Vermutlich seit Montag. Es ist möglich, daß er erst woanders war, aber Lovella schien zu glauben, daß er sich direkt an Billy Polo wenden würde, wenn er Hilfe brauchte.«

»Hat die Information über Polo dir weitergeholfen?«

»Noch nicht, aber das kommt noch. Ich will nur abwarten, was wir bereits in der Hand haben, ehe ich weitermache. Selbst wenn sein Tod ein Unfall war, vermute ich, daß Barbara Daggett wünscht, daß ich ihn untersuche. Ich meine, mal zuallererst, was hat er mitten in einem Sturm in einem Boot gemacht? Und wo hat er die ganze Zeit gesteckt?«

»Wo hast du gesteckt?« fragte Jonah.

Ich starrte ihn an und begriff, daß er das Thema gewechselt hatte. »Wer, ich? Ich war immer da.«

Er nahm einen Stift hoch und fing an, damit auf die Tischkante zu schlagen wie ein Mann, der bei einer winzigen Bluesband vorspielt. Er warf mir einen Blick zu, den ich schon früher gesehen hatte, voll Hitze und Spekulationen. »Hast du einen neuen Freund?«

Ich schüttelte lächelnd den Kopf. »Die einzigen guten Männer, die ich kenne, sind verheiratet.« Ich flirtete, und das schien ihm zu gefallen.

Seine blauen Augen bohrten sich in meine, und Farbe stieg ihm ins Gesicht. »Was machst du auf sexuellem Gebiet?«

»Ich jogge, am Strand. Und du?«

Er lächelte, unterbrach den Blickkontakt. »Mit anderen Worten, es geht mich nichts an.«

Ich lachte. »Ich weiche der Frage nicht aus. Ich habe die Wahrheit gesagt.«

»Wirklich komisch. Ich habe mir immer vorgestellt, du würdest ziemlich loslegen.«

»Vor ein paar Jahren hab ich das gemacht, aber inzwischen mag ich das nicht mehr. Sex ist etwas Bindendes. Ich achte sorgfältig darauf, mit wem ich eine Verbindung eingehe. Außerdem hast du scheinbar keine Ahnung, wie es auf dem Markt aussieht. Ein One-Night-Stand ist mehr so etwas wie ein Ringkampf mit ein paar schnellen Rückenlagen. Ziemlich demoralisierend. Da bin ich schon lieber allein.«

»Ich weiß, was du meinst. Ich bin auch losgezogen, in dem Jahr, als sie fort war, aber ich hab’s nie so richtig hingekriegt. Ich ging in ’ne Bar, und so ’n Mädchen hat sich an mich rangemacht, aber ich hab mich einfach nie richtig verhalten. Ein paarmal haben mir Frauen gesagt, ich wäre grob, wenn ich dachte, ich würde mich einfach unterhalten.«

»Es ist noch schlimmer, wenn du Erfolg dabei hast«, sagte ich. »Sei froh, daß du es nie richtig gelernt hast. Ich kenne ein paar Jungs da draußen, und die sind hart wie Stahl. Unglücklich. Feindselig Frauen gegenüber. Die kriegen ’n Aufriß, aber das ist auch alles, was sie kriegen.«

Hinter ihm trat Lieutenant Becker ein und setzte sich an einen Schreibtisch auf der anderen Seite des Zimmers. Jonahs Bleistift fing wieder an zu klopfen, hörte dann auf. Er legte ihn beiseite und kippte auf seinem Stuhl nach hinten.

»Ich wünschte, das Leben wäre einfach«, meinte er.

Ich bemühte mich, meinen Ton so mild wie möglich zu halten. »Das Leben ist einfach. Du bist es, der es schwierig macht. Soweit ich das beurteilen kann, hast du es gut ohne Camilla geschafft. Aber sie winkt mit dem kleinen Finger, und schon rennst du zurück. Und jetzt kannst du dir nicht denken, was schiefgegangen ist. Hör endlich auf, dich wie ein Opfer zu benehmen, wenn du selbst dran schuld bist.«

Diesmal lachte er. »Ach, Kinsey. Warum sagst du nicht einfach, was du denkst.«

»Also schön, ich kann es einfach nicht verstehen, wenn jemand freiwillig leidet. Wenn du unglücklich bist, dann ändere was. Wenn du’s nicht zum Laufen kriegst, dann steig aus. Was ist daran so schwer?«

»Hast du es so gemacht?«

»Nicht ganz. Ich hab den ersten sitzenlassen, und der zweite hat mich sitzenlassen. Aber bei beiden hab ich mein Teil gelitten. Aber wenn ich jetzt so zurückschau, weiß ich wirklich nicht, warum ich es so lange ausgehalten habe. Das war dumm. Es war eine riesige Zeitverschwendung, und es hat mich viel gekostet.«

»Ich hab nie gehört, daß du die Knaben auch nur erwähnt hättest.«

»Äh, eines Tages erzähl ich dir von ihnen.«

»Wollen wir zusammen was trinken gehen, wenn ich mit der Arbeit fertig bin?«

Ich sah ihn kurz an und schüttelte den Kopf. »Das würde im Bett enden, Jonah.«

»Darum geht’s doch, oder?« Er lächelte und zuckte mit den Brauen wie Groucho Marx.

Ich lachte und brachte das Thema wieder auf Daggett, als ich aufstand. »Ruf mich an, wenn Dr. Yee Ergebnisse hat.«

»Nicht nur dann.«

»Bring erst mal dein Leben in Ordnung.«

Als ich ging, starrte er mir immer noch nach. Ich konnte nichts weiter tun, als dort verschwinden. Ich verspürte diesen besorgniserregenden Drang, hinzulaufen und auf seinen Schoß zu springen, lachend sein Gesicht mit Küßen zu übersäen – aber ich fürchtete, das Department würde nie wieder das alte sein. Als ich mich kurz umdrehte, sah ich, wie Becker uns einen nachdenklichen Blick zuwarf, während er so tat, als würde er seinen Eingangskorb durchsehen.

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