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Der Name Gordon Titus geisterte durch die Büros der CF, seit der Vierteljahresbericht von Ende Juni einen extremen Schadensanfall verzeichnet hatte. Sobald bei einer Versicherungsgesellschaft die Verlustrate die Profitrate um mehr als zehn Prozent übersteigt, macht sich die Firmenleitung daran, sämtliche Vorgänge genau unter die Lupe zu nehmen, um herauszufinden, wo der Hase im Pfeffer liegt. Das Faktum, dass wir die Hauptstelle der California Fidelity waren, nahm uns von dieser Praxis nicht aus, und das allgemeine Gefühl war, dass wir drastischen Veränderungsmaßnahmen entgegengingen. Es kursierte das Gerücht, dass Gordon Titus ursprünglich von der Filiale in Palm Springs engagiert worden war, um die Betriebsabläufe zu überprüfen und das Prämienvolumen hochzutreiben. Er hatte seinen Job offenbar (aus der Sicht der Firmenleitung) hervorragend gemacht und dabei eine Menge menschliches Unglück verursacht. In der Welt einer Agatha Christie wäre Gordon Titus vielleicht irgendwann auf dem Boden des Konferenzsaals gefunden worden, mit einem Brieföffner im Herzen. In der wirklichen Welt hingegen finden solche Herren nur selten ein so befriedigendes Ende. Gordon Titus wurde einfach nur nach Santa Teresa versetzt, wo er die gleiche Sorte Unheil stiften sollte.

In der Theorie betraf mich das alles kaum bis gar nicht. Die CF stellt mir einen Büroraum, und dafür führe ich drei- bis viermal im Monat Routinerecherchen für sie durch, etwa bei Verdacht auf Brandstiftung oder fingierte Sterbefälle. Jedes Quartal stelle ich über alle diese suspekten Schadensfälle Material zusammen, das dann zwecks weiterer Ermittlungen an die Zentralstelle zur Verhinderung von Versicherungsbetrug weitergeleitet wird. Zur Zeit ging ich vierzehn verdächtigen Schadensmeldungen nach. Versicherungsbetrug ist ein Geschäft, das den Gesellschaften jährlich Verluste von über zwei Millionen Dollar bringt, die dann wiederum auf die ehrlichen Kunden umgelegt werden – wenn man einmal unterstellt, dass es noch ein paar davon gibt. Lange Jahre in diesem Metier haben mich zu der Einsicht gebracht, dass ein bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung dem Drang zum Mogeln einfach nicht widerstehen kann. Diese Neigung zieht sich quer durch alle sozioökonomischen Schichten und eint rassische und ethnische Gruppen, die sich sonst nicht viel zu sagen haben. Versicherungen werden als eine Art Pendant zur staatlichen Lotterie angesehen. Dafür, dass die Leute ein paar Monate ihre Prämien bezahlen, wollen sie dann aber auch den Jackpot einstreichen. Und einige sind sogar bereit, der Wahrscheinlichkeit ein bisschen auf die Sprünge zu helfen, damit sich die Sache amortisiert. Ich habe erlebt, wie Versicherungskunden Diebstähle fingieren und Sachen als gestohlen melden, die sie nie besessen haben. Ich habe erlebt, wie Leute Häuser niederbrennen, Arztrechnungen manipulieren, sich selbst Verletzungen zufügen oder einen Grad von Arbeitsunfähigkeit geltend machen wollen, der in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Behinderung steht. Ich habe Meldungen über Eigentumsverluste und Einkommensausfälle, Sach- und Personenschäden gesehen, die nur in der überhitzten Fantasie der Absender existierten. Zum Glück haben die Versicherungsgesellschaften rasch dazugelernt und Vorkehrungen getroffen, um diesen Schwindeleien auf die Spur zu kommen. Teil meines Jobs ist es, die Grundlage für die strafrechtliche Verfolgung solch betrügerischer Forderungen zu liefern. Jetzt, da Gordon Titus jeden Tag in der Tür stehen konnte, wurde mir eine ganze Flut verdächtiger Fälle zugeschoben, und ich sah mich unter Druck, rasch Ergebnisse zu produzieren.

Die letzte dieser suspekten Schadensmeldungen übergab mir Vera an einem Sonntagnachmittag Ende Oktober. Ich war noch rasch im Büro vorbeigefahren, um ein paar Einkommenssteuerunterlagen zu holen, die gleich am Montagmorgen zu meinem Steuerberater mussten. Ich parkte meinen VW wie gewöhnlich auf dem rückwärtigen Parkplatz und nahm die Hintertreppe. Ich marschierte an den dunklen CF-Räumen vorbei, schloss mein Büro auf und ging hinein, um rasch den Anrufbeantworter abzuhören, die Samstagspost durchzuschauen und die Steuerunterlagen im Außenfach meiner Umhängetasche zu verstauen. Als ich auf dem Rückweg wieder an den CF-Büros vorbeikam, bemerkte ich, dass drinnen Licht brannte. Ich blieb stehen und linste durch die Glastüren, weil ich mich fragte, ob vielleicht gerade ein Dieb dabei war, unsere Bürogeräte wegzuschleppen. Vera kreuzte mein Gesichtsfeld. Sie hatte Papiere in der Hand und war offenbar auf dem Weg zum Kopierer. Sie erspähte mich, winkte mir zu und kam in meine Richtung. Sie ist achtunddreißig, alleinstehend und ist vermutlich in meinem Leben das, was einer »besten Freundin« am nächsten kommt. Der Bund mit den Büroschlüsseln steckte noch im Schloss und klimperte und klapperte, als sie aufschloss. »Hallo, meine Liebe. Ich habe dich am Freitagnachmittag gesucht, aber du warst schon weg. Muss nett sein, schon um zwei Feierabend zu machen«, sagte sie, als sie mich hineinließ.

»Wo kommst du denn her? Als ich eben hier vorbeikam, war doch noch alles dunkel.«

Sie schloss die Tür hinter mir ab und setzte ihren Gang zum Kopiergerät fort. Ich trottete hinter ihr her. Sie antwortete mir über die Schulter: »Ich bin nur schnell vorbeigekommen, um den Kopierer zu benutzen. Sag es nicht weiter. Es ist privat. Die Gästeliste für den Empfang.« Sie hob den Deckel des Geräts hoch, legte ein Blatt Papier auf das Sichtfenster und korrigierte die Einstellung. Dann drückte sie die Kopiertaste, und das Gerät setzte sich in Gang. Sie trug eine schwarze Strumpfhose und kniehohe Stiefel zu einem überdimensionalen Sweatshirt, das ihr bis knapp unter den Schritt reichte. Sie bemerkte meinen Blick. »Ich weiß. Sieht aus, als hätte ich die Hosen vergessen. Ich bin auf dem Weg zu Neil, aber ich wollte das hier eben noch schnell erledigen. Was hast du vor? Magst du noch auf einen Drink mitkommen?«

»Danke, lieber nicht. Ich habe noch zu tun.«

»Übrigens hast du den großen Moment verpasst. Der sagenhafte Mr. Titus ist am Freitagnachmittag aufgetaucht, mit drei eigenen handverlesenen Adjutanten. Zwei Vertreter und ein Schadensschätzer mussten gehen, um ihnen Platz zu machen.«

»Das ist doch nicht dein Ernst! Wer denn?«

»Tony Marsden, Jack Cantheas und Letty Bing.«

»Letty? Die wird doch bestimmt prozessieren?«

»Das hoffe ich aufrichtig.«

»Ich dachte, er sollte frühestens in zwei Wochen kommen.«

»Kleine Überraschung. Als nächste bin dann wohl ich fällig.«

»Ach, das glaubst du doch selbst nicht. Du machst deinen Job doch ganz prima.«

»Ja, klar. Deswegen waren wir auch sechshunderttausend Dollar in den Miesen.«

»Das war doch Andy Motyckas Schuld, nicht deine.«

»Ach, was soll’s! Ich heirate bald. Ich kann mir was anderes suchen. So toll habe ich diesen Job sowieso nie gefunden. Was machen die Einkäufe?«

»Welche Einkäufe?«, fragte ich verdutzt. Ich war immer noch bei dem CF-Desaster.

»Für die Hochzeit. Dein Kleid.«

»Ah, jaaa. Für die Hochzeit. Ich habe ein Kleid.«

»Quatsch. Du besitzt nur ein einziges Kleid, und das ist schwarz. Du bist Brautjungfer, nicht Sargträger.« Vera und ihr Liebster wollten in sechs Tagen heiraten, an Halloween. Alle hatten ihr wegen des Termins ins Gewissen geredet, aber sie beharrte darauf und berief sich auf den Widerstreit zwischen ihrem eingefleischten Zynismus und ihrer sentimentalen Ader. Sie hatte nie vorgehabt zu heiraten. Sie hatte (wie sie sagte) seit dem Alter von zwölf Jahren ein reges Liebesleben und unzählige Männer durchgemacht. Und obwohl sie ganz versessen auf ihren Zukünftigen war, wollte sie der Konvention ein Schnippchen schlagen. Ich fand ein schwarzes Kleid absolut perfekt für eine Halloween-Hochzeit. Nach dem Empfang konnten wir ja von Haus zu Haus ziehen und Leute erschrecken und Süßigkeiten kassieren und danach vielleicht die Beute teilen. Ich wollte allerdings die Option auf die Hershey Kisses und die Tootsie Rolls.

»Außerdem hast du das verdammte Kleid schon fünf Jahre«, setzte sie nach.

»Sechs.«

»Und als du es das letzte Mal anhattest, hast du gesagt, es riecht total vermodert.«

»Ich habe es gewaschen!«

»Kinsey, du kannst kein sechs Jahre altes stinkendes Kleid zu meiner Hochzeit anziehen. Du hast versprochen, du kaufst dir ein neues.«

»Ich tu’s ja.«

Sie sah mich skeptisch an. »Wo willst du denn danach suchen? Doch wohl nicht im K-Markt.«

»Ich würde nie in den K-Markt gehen. Wie kommst du denn darauf?«

»Also, wo dann?«

Ich sah sie unsicher an und suchte nach einer Antwort, die sie zufriedenstellen würde. Ich wusste, mein Zögern würde bei ihr nur als Aufforderung ankommen, sich einzumischen und mich herumzukommandieren, aber um ehrlich zu sein, ich hatte nicht die blasseste Ahnung, was für ein Kleid ich kaufen sollte. Ich war noch nie Brautjungfer gewesen. Ich hatte keinen Schimmer, was diese Mädels tragen. Sicher irgendwas total Unpraktisches, mit Riesenrüschen überall.

Und sie mischte sich ein. »Ich helfe dir«, sagte sie, als hätte sie es mit einer Debilen zu tun.

»Wirklich? Das ist toll.«

Vera verdrehte die Augen, aber ich wusste, sie war entzückt, dass ich die Sache aus der Hand gab. Alle Leute sind immer ganz wild darauf, mein Privatleben für mich zu regeln. Offenbar meinen sie, dass ich es selbst nicht auf die Reihe kriege. »Am Freitag. Nach der Arbeit«, sagte sie.

»Danke. Wir können ja hinterher zusammen essen gehen, auf meine Rechnung.«

»Ich will keinen doppelten Cheeseburger«, sagte sie.

Ich wischte alle weiteren Einwände mit einem Winken beiseite und wandte mich Richtung Tür. »Also dann bis morgen. Lässt du mich bitte raus?«

»Warte noch eine Minute, dann gehe ich auch. Hol dir doch in der Zwischenzeit die Akte, die ich dir am Freitag geben wollte. In dem Ordner in dem Kasten ›Ausgänge.‹ Die Dame heißt Bibianna Diaz. Wenn du sie packen kannst, stehen wir ja vielleicht alle ein bisschen besser da.«

Also marschierte ich in die gläserne Zelle, in der sie in ihrer Eigenschaft als Leiterin der Schadensabteilung residiert. Ich fand die Akte Diaz ganz oben auf dem Stapel. »Hab sie!«, rief ich.

»Du kannst ja mal mit Mary Bellflower reden, wenn du reingeguckt hast. Eigentlich war Parnell dafür zuständig, aber sie hat den Fall aussortiert.«

»Ich dachte, die Bullen hätten alle seine Akten mitgenommen.«

»Die da war aber nicht bei den Akten auf seinem Schreibtisch. Er hatte sie einen Monat vorher Mary gegeben, deshalb haben die Bullen sie gar nicht zu Gesicht gekriegt.« Sie kam wieder zum Vorschein und suchte, die Fotokopien zwischen die Zähne geklemmt, nach ihren Autoschlüsseln.

»Ich will erst mal versuchen, mir die Dame anzusehen, bevor ich mit Mary rede. Dann habe ich wenigstens schon mal eine blasse Vorstellung«, sagte ich.

»Auch gut. Du kannst es angehen, wie du möchtest.« Vera knipste das Licht hinter sich aus, ließ uns aus der Tür und schloss ab. »Falls du irgendwelche Fragen hast – ich bin um zehn wieder daheim.«

Wir gingen plaudernd die Treppe hinunter. Unsere Autos standen ganz allein auf dem Parkplatz, Seite an Seite. »Oh, noch etwas«, sagte sie, als sie ihre Wagentür aufschloss. »Titus wünscht dich gleich morgen früh zu sehen.«

Ich starrte sie über das Wagendach hinweg an. »Mich? Aber warum denn? Ich arbeite doch gar nicht für ihn.«

»Wer weiß? Vielleicht betrachtet er dich als ›elementaren Bestandteil des Teams‹. So redet er nämlich. Dieses ganze blöde Bla-Bla. Widerlich.« Sie öffnete die Wagentür, schlüpfte auf den Fahrersitz und kurbelte das Beifahrerfenster herunter. »Mach’s gut.«

»Du auch.«

Ich stieg in meinen Wagen, und mein Magen fühlte sich jetzt schon an wie aus Stein. Ich wollte Gordon Titus überhaupt nicht sehen, und schon gar nicht morgen früh. Was für ein Wochenanfang ...

Der Parkplatz war so gut wie leer und das Stadtzentrum ruhig. Wir fuhren gleichzeitig los, in entgegengesetzte Richtungen. Die Läden hatten alle zu, aber die Lichter entlang der State Street und die Fußgängergrüppchen verliehen dieser ansonsten verlassenen Geschäftsgegend noch einen Hauch von Leben. Santa Teresa ist ein Ort, wo man auch nach Ladenschluss noch bummeln kann, ohne (übermäßige) Angst haben zu müssen. In der Touristensaison wimmelt es auf den Straßen von Menschen, und selbst in den toten Monaten hat diese Stadt noch etwas Harmloses. Ich war einen Moment lang versucht, eben noch schnell in einem der kleinen Restaurants einen Happen essen zu gehen, hörte dann aber aus meiner heimischen Küche ein Erdnussbutter-und-Pickle-Sandwich nach mir rufen.

Das Viertel lag völlig dunkel da, als ich den Wagen abstellte und durch das Gartentor trat. In Henrys Küche brannte noch Licht, aber ich widerstand der Verlockung, bei ihm reinzuschauen. Er würde darauf bestehen, mir etwas zu essen vorzusetzen, mir einen anständigen Chardonnay einzuschenken und mich mit dem neuesten Klatsch und Tratsch zu versorgen. Er ist zweiundachtzig und Bäcker im Ruhestand und hat es sich jetzt zur Aufgabe gemacht, die alten Damen in unserem Block mit Gebäck für ihre Tee-Kränzchen zu beliefern. Nebenbei verfasst er diese kleinen Kreuzworträtselheftchen, die man an Supermarktkassen findet, voller Wortspiele und Bonmots. Und wenn er gerade weder das eine noch das andere tut, dann schimpft er mich wegen meiner Lebensführung, die in seinen Augen nicht nur gefährlich, sondern auch viel zu unkultiviert ist.

Ich schloss meine Wohnungstür auf, trat ein und knipste eine der Tischlampen an. Ich legte meine Handtasche auf die Küchenbar, die meine Kochnische von dem als Wohnzimmer vorgesehenen Teil des Raums abtrennt. Das Haus war total neu wieder aufgebaut worden, nachdem eine Bombenexplosion es dem Erdboden gleichgemacht hatte. Ich hatte bis zur Beendigung der Bauarbeiten bei Henry gewohnt und war an meinem Geburtstag im letzten Mai wieder in mein Apartment eingezogen. Und es war wirklich ein Wunder, wie ein Piratenschiff, überall Teak und Messing, mit einem Bullauge in der Tür und einer Wendeltreppe nach oben unters Dach, wo ich jetzt unter einem sternengesprenkelten Atelierfenster schlafen durfte. Mein Bett war ein Podest mit eingebauten Schubladen. Unten hatte ich meine kleine Koch-Kombüse, eine Nische mit Waschmaschine und Huckepack-Trockner, ein Wohnzimmer mit einem Sofa, das man zum Gästebett aufklappen konnte, und ein kleines Gästebad. Oben befand sich ein Bad mit eingelassener Badewanne, einem Dschungel von Zimmerpflanzen auf dem Fensterbrett und mit Blick durch die Baumwipfel auf ein Zipfelchen Meer.

Überall gab es kleine Nischen und Fächer, Schränke, Klappen und Kleiderhaken. Henry hatte das Ganze selbst entworfen und sich ein diebisches Vergnügen daraus gemacht, meine persönliche Umgebung zu gestalten. Der Teppich war königsblau, das Mobiliar schlicht. Auch nach zwölf Monaten wanderte ich noch wie eine Blinde in meiner Wohnung herum, um alles zu betasten, darüber zu staunen, wie es sich anfühlte, den Holzgeruch einzusaugen. Nach dem Tod meiner Eltern war ich von einer ledigen Tante aufgezogen worden, einer Frau, deren Verhältnis zu mir eher auf theoretischem Anspruch als auf Zuneigung beruhte. Ohne es auszusprechen, vermittelte sie mir das Gefühl, dass ich nur auf Bewährung da war, so wie eine Matratze, die man zurückgibt, wenn die Klumpen sich nicht ausliegen. Man musste ihr lassen, dass ihre Vorstellungen von Kindererziehung zwar exzentrisch, aber durchaus vernünftig waren und dass ich von dem, was sie mir über die Welt beigebracht hat, sehr profitiert habe. Aber ich habe mich die meiste Zeit meines Lebens als Eindringling gefühlt und immer nur auf Zwischenstation, so lange, bis ich wieder weitermusste. Jetzt jedoch hatte sich meine Innenwelt verändert. Das hier war mein Zuhause, hier war ich daheim. Das Apartment war zwar nur gemietet, aber ich hatte ein Wohnrecht auf Lebenszeit. Das war ein merkwürdiges Gefühl, und ich konnte dem noch nicht recht trauen.

Ich stellte meinen kleinen Schwarzweiß-Fernseher an, damit mir der Ton Gesellschaft leistete, während ich herumwerkelte und mir etwas zu essen machte. Ich hockte mich an die Küchenbar, auf einen hohen Barhocker, und kaute mein Sandwich, während ich die Akte durchblätterte, die Vera mir gegeben hatte. Da waren Kopien der Original-Schadensmeldung – ein Autounfall mit Personenschaden ohne Fremdbeteiligung –, ein Bündel Arztrechnungen, ein paar Briefe und eine beigeheftete kurze Zusammenfassung der wichtigsten Punkte. Die Sachbearbeiterin, Mary Bellflower, hatte diese Schadensmeldung aus verschiedenen Gründen als suspekt ausgemustert. Die Verletzungsfolgen waren von der ungreifbaren Sorte, subjektiv, unüberprüfbar. Miss Diaz klagte unter anderem über plötzlich einschießende Schmerzen im Nacken, Kopfschmerzen, Benommenheit, Kreuzschmerzen und Verspannungen. Die Reparaturkosten für das Auto waren auf fünfzehnhundert Dollar veranschlagt. Dazu kamen Arztrechnungen über insgesamt zweitausendfünfhundert Dollar (alles Kopien von Kopien, was es durchaus möglich erscheinen ließ, dass sie ein bisschen an den Zahlen herummanipuliert hatte). Zudem machte sie zwölfhundert Dollar Lohnausfall geltend, was insgesamt fünftausendzweihundert Dollar ergab. Ein polizeiliches Unfallprotokoll existierte nicht, und die Sachbearbeiterin war schlau genug gewesen, zu bemerken, dass Miss Diaz ihr Auto erst kurz vor dem Unfall angemeldet und versichert hatte. Verdächtig war auch die Tatsache, dass die Schadensmelderin ein Postfach als Absendeadresse angab. Mary hatte eine Wohnadresse ausfindig gemacht und beigefügt. Ich registrierte, dass sie auch daran gedacht hatte, Kopien von den Umschlägen (mit Poststempel) beizuheften, in denen die Schadensformulare eingegangen waren. Wenn es zu einem Verfahren kam, würden sie als Beweis dafür dienen, dass die US-Post benutzt worden war, womit die Sache zur Bundesangelegenheit würde und auch das FBI auf den Plan treten könnte. Viele Versicherungsbetrüger heuern einen Anwalt an, dessen Job darin besteht, die Versicherung in die Zange zu nehmen und auf eine rasche Abwicklung zu drängen. Miss Diaz hatte (bis jetzt noch) keinen Anwalt eingeschaltet, drängte aber selbst, dass man ihr den Schaden schleunigst ersetzen sollte. Ich begriff nicht, wieso Parnell die Sache an Mary Bellflower weitergegeben hatte. Bei Forderungen dieser Größenordnung ist man normalerweise eher versucht, den Anspruch ohne viel Aufhebens anzuerkennen, um gar nicht erst zu riskieren, dass einem »böswillige Verschleppung« unterstellt wird. Aber da die California Fidelity in letzter Zeit so hohe Verluste zu verbuchen gehabt hatte, fand Maclin Voorhies, der Vizepräsident, solche Routine-Entscheidungen zur Zeit nicht so gut. Daher hatte man mir die Sache zur Nachprüfung übergeben, wobei diese Mühe jetzt, da Titus auf der Matte stand, vielleicht schon vergeblich war, aber das war nun einmal der Stand der Dinge.

Es war zehn, als ich schließlich das Licht ausmachte und nach oben ging. Ich öffnete eins der Fenster, lehnte den Kopf gegen den Rahmen und ließ die kühle Luft über mein Gesicht streichen. Der Mond stand am Himmel. Der Nachthimmel war klar, und die Sterne funkelten wie lauter kleine Nadelspitzen. Von draußen vor der Küste Nordwest-Kaliforniens näherte sich eine schwache Sturmfront, und für die nächsten Tage waren Schauer angesagt. Aber bislang waren noch keine Anzeichen zu entdecken. Ich hörte das gedämpfte Rauschen der Brandung hinter dem nächsten Häuserblock. Ich kroch unter die Decke, stellte den Radio-Wecker an und starrte hinauf zum Dachfenster. Es kam ein Country-Song, Willie Nelson mit einer wehmütigen Ballade von Schmerz und Herzeleid. Ich fragte mich, wo Robert Dietz wohl in dieser Nacht stecken mochte. Im vorigen Mai hatte ich selbst einen Privatdetektiv angeheuert, nachdem sich herausgestellt hatte, dass mein Name als einer der vier letzten auf irgendjemandes Abschussliste stand. Ich hatte einen Leibwächter gebraucht und Robert Dietz gefunden. Als sich die Lage wieder entspannt hatte, war er noch drei Monate dageblieben. Jetzt war er seit zwei Monaten weg. Wir waren beide keine großen Briefeschreiber und zu geizig, um öfters zu telefonieren, jetzt, wo er wieder in Deutschland war. Es war mir zu Herzen gegangen, dieses Abreise-Gemisch aus annähernd gleichen Teilen Banalität und Bittersüße.

»Ich bin nicht gut im Abschiednehmen«, hatte ich in der letzten Nacht gesagt.

»Ich bin nicht gut in irgendwas anderem«, hatte er mit seinem schiefen Lächeln gesagt. Ich hatte gedacht, dass es ihm nicht halb so schwerfiel wie mir. Aber das konnte auch falsch gewesen sein. Dietz war nicht der Typ, der seinem Schmerz und seiner Trauer freien Lauf lässt, was noch lange nicht heißt, dass solche Gefühle in ihm nicht existierten.

Das Schlimme an der Liebe ist das Loch, das sie hinterlässt, wenn sie vorbei ist ... das Thema aller Country-und-Western-Songs ...

Dann weiß ich erst wieder, dass es auf einmal sechs Uhr morgens war und mein Wecker piepte wie ein Vögelchen. Ich wälzte mich aus dem Bett und angelte nach meinen Laufklamotten, zog mir meine Jogginghose, ein Sweatshirt und meine Adidas an. Ich putzte mir noch eben die Zähne und trabte die Wendeltreppe hinunter zur Haustür. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber die Nacht hatte sich bereits zu einem anthrazitgrauen Dunstschleier gelichtet. Die Morgenluft war feucht und roch nach Eukalyptus. Ich hielt mich am Tor fest, um – mehr pro forma – ein paar Dehnungsübungen zu machen, und nutzte dann das Stück bis zum Cabana Boulevard zum Aufwärmen. Ich frage mich manchmal, warum ich immer noch so gewissenhaft mein Fitness-Training mache. Paranoia vielleicht ... die Erinnerung an Zeiten, als ich um mein Leben laufen musste.

Auf dem Radweg angelangt, fiel ich in einen schwerfälligen Trab. Meine Beine fühlten sich hölzern an, und mein Atem ging stoßweise. Die erste Meile ist immer schlimm, alles weitere dann vergleichsweise ein Kinderspiel. Ich schaltete mein Denken ab und öffnete mich meiner Umgebung. Zu meiner Rechten war das anlandende Meer, ein gedämpftes Grollen, so beruhigend wie das Rauschen von Regen. Möwen segelten kreischend über der Brandung. Der Pazifik war wie flüssiger Stahl, die Wellen eine schaumige Masse aus Aluminium und Chrom. Der Sand wurde dort, wo das Wasser wieder abfloss, zum Spiegel und reflektierte den weichen Morgenhimmel. Der Horizont färbte sich lachsrosa von der Sonne, die jetzt langsam hervorkroch. Lange korallenrote Lichtarme reckten sich über der Scheidelinie zwischen Himmel und Wasser, wo sich die ersten Wolken der angekündigten Sturmfront zusammenballten. Die Luft war kalt und gischtig und roch nach Seetang. Nach ein paar Minuten wurden meine Schritte länger, und ich fühlte, wie ein automatischer Rhythmus all meine Bewegungen zu koordinieren begann. Ich wusste nicht, dass dies für Wochen das letzte Mal sein sollte, dass ich zum Laufen kam. Hätte ich es gewusst, hätte ich es wohl noch viel mehr genossen.

Dunkle Geschäfte

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