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Am nächsten Morgen schlüpfte ich nach dem Duschen in meine Allzweck-Uniform. Ich hatte mir dieses Outfit vor Jahren von einem Ex-Ganoven schneidern lassen, der an den großen Maschinen in irgendeinem Bundesgefängnis nähen gelernt hatte. Die Hose war blaugrau und unvorteilhaft, mit einem hellblauen Streifen entlang der Außennaht. Das dazu passende blaue Hemd hatte auf dem Ärmel ein kreisrundes Stück Klett-Material, auf dem normalerweise ein Stoffabzeichen mit der Aufschrift »Energie- und Wasserversorgung Südkalifornien« saß. Die Schuhe, ein Relikt aus meinen Polizeitagen, waren schwarz und sahen aus, als könnte ich darin nur schwer die Füße vom Boden hochkriegen. Dazu noch ein Notiz-Brett und ein gewichtiger Schlüsselbund, und ich konnte als fast alles durchgehen. Gewöhnlich gab ich vor, die Wasseruhr abzulesen oder nach Lecks in der Gasleitung zu fahnden oder sonst irgendein offizielles Amt zu versehen, das es erfordert, in anderer Leute Gartensträuchern herumzukriechen und an ihren Alarmanlagen herumzufingern. Heute wählte ich ein Blumenzustelldienst-Abzeichen. Dann machte ich mich auf den Weg zum nächsten Blumenladen, wo ich sechsunddreißig Dollar für ein Riesenbouquet hinblätterte. Ich erstand eine kitschige Genesungskarte, unterschrieb sie mit einem erfundenen Namen und rief bei der Reinigung an, wo Bibianna arbeitete. Diesmal war eine Frau am Apparat.

»Oh, hallo!«, sagte ich. »Könnte ich bitte den Chef sprechen?«

»Hier ist die Reinigungsfirma. Er ist gerade auf dem Weg in die andere Filiale«, sagte sie. »Möchten Sie die Nummer?«

»Gern.«

Sie gab mir die Nummer langsam durch, und ich wiederholte sie, als würde ich sie mir notieren. Sie konnte mich ja nicht sehen.

»Danke«, sagte ich. Ich legte auf und stieg rasch in meinen Wagen. Die Blumen deponierte ich auf dem Beifahrersitz. Ich fuhr zu der Reinigung. Direkt davor war eine hübsche grüne Bordsteinzone: fünfzehn Minuten freies Parken. Ich schloss den Wagen ab und ging hinein. Ich wartete kurz am Ladentisch. Es roch nach Waschmitteln, feuchter Baumwolle, Chemikalien und Dampf. Der Raum hinter der Ladentheke war ein Wald aus Textilien in durchsichtigen Plastiksäcken. Links von mir expedierte ein ausgeklügeltes elektronisches System Kleidungsstücke eine kompliziert geschlängelte Schiene entlang, die in sich geschlossen war, sodass jedes Stück an Bord an der Haltestation in Empfang genommen werden konnte, wenn man die richtige Nummer eingab.

Auf der rechten Seite hingen an einem Gewirr von Röhren lauter Kleidungsstücke, die gerade gebügelt wurden. In meinem Gesichtsfeld arbeiteten zehn Frauen, die meisten Chicanas, an Maschinen, deren Funktion ich nur erahnen konnte. Aus einem Radio, das auf einen spanischsprachigen Sender eingestellt war, dröhnte eine aufgepeppte Version eines Linda-Ronstadt-Songs. Zwei der Frauen sangen mit, während sie virtuos Herrenhemden durch die vor ihnen stehenden Maschinen laufen ließen. Der synkopische Rhythmus der Dampfpressen, die Hemden-Bügelmaschinen, die Dampfwolken – das alles wirkte wie das perfekte Setting für eine Musical-Szene.

Schließlich bemerkte mich eine der beiden singenden Frauen. Sie erhob sich von ihrer Maschine und kam an den Ladentisch. Sie war klein und kompakt, mit einem runden Gesicht, Augen wie braune Smarties und dickem, dunklem Haar, das von einem Haarnetz zurückgehalten wurde. Ihre weite Goldsatin-Bluse war mit Ziermünzen benäht. Sie sah auf den Blumenstrauß. »Sind die für mich?«

Ich musterte die Begleitkarte. »Sind Sie Bibianna Diaz?«

»Nee. Die ist die Woche nicht da.«

»Sie kommt gar nicht her?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Hat was am Rücken. Von ihrem Autounfall. War schon vor ... hmmm, zwei Monaten, würd’ ich sagen. Aber es plagt sie immer noch. Flammt immer wieder auf, sagt sie. So schlimm. Kann kaum laufen. Der Chef hat ihr gesagt, bleiben Sie bloß daheim. Will keine Klage an den Hals kriegen. Ist das von einem Verehrer?«

Ich drehte die Karte um und hielt sie gegen das Licht. »Sieht aus wie eine Genesungskarte, wenn Sie mich fragen. Mist. Was soll ich jetzt machen?«

»Bringen Sie’s ihr doch nach Hause«, meinte sie.

»Geht nicht. Er hat nur diese Adresse hier angegeben. Sie wissen nicht zufällig, wo sie wohnt?«

»Nee. Bin noch nie bei ihr gewesen«, sagte die Frau. Sie wandte sich an eine der anderen. »He, Lupe. Weißt du Bibiannas Adresse?«

Die zweite Frau schüttelte den Kopf, aber eine dritte sprudelte los: »Irgendwo am Castano. Nummer weiß ich nicht, aber vorn ist so ein großes braunes Haus, und ihrs steht dahinter. So ein kleiner Bungalow, richtig süß. Zwischen Huerto und Arroyo Street.«

Die Frau hinter dem Ladentisch wandte sich jetzt wieder mir zu. »Wissen Sie, wo sie meint?«

»Ich werd’s schon finden«, sagte ich. »Danke. Sie haben mir sehr geholfen.«

»Ich bin Graciela. Sie können dem Burschen sagen, er soll mal bei mir vorbeikommen, wenn er sie satt hat. Ich hab alles, was sie hat. Nur bisschen anders aufgeteilt.«

Ich lächelte. »Das werd’ ich tun.«

Die zweite Bibianna-Adresse entpuppte sich als eine ziemlich verrottete Hütte hinter einem ziemlich verrotteten braunen Haus in einem sichtlich heruntergekommenen Wohnviertel. Ich entdeckte das Haus im Vorbeifahren, kurvte einmal um den Block und parkte dann auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ich blieb im Wagen sitzen und musterte das Anwesen. Das Grundstück war schmal und lang und von ausladenden Magnolien, Zederzypressen und Kiefern beschirmt. Es gab nirgends ein Fitzelchen Gras, und was an Vegetation vorhanden war, musste dringend gestutzt werden. An der Grenze zum rechten Nachbargrundstück führte eine rissige Asphalt-Einfahrt entlang. In dem größeren Haus zur Straße hin hatte jemand als Vorhangersatz schlaffe geblümte Bettlaken vor die Fenster genagelt.

In der Einfahrt war kein Auto zu sehen. Laut Schadensanzeige war ihr 78er Mazda noch in der Werkstatt, wo (unter anderem) die rechte Tür erneuert werden sollte. Ich wartete zwanzig Minuten, ohne dass sich irgendwas tat. Ich drehte mich um und angelte nach dem abschließbaren Aktenköfferchen, in dem ich für Situationen wie diese ein Sortiment falscher Ausweise aufbewahrte. Ich entnahm ihm einen Satz Papiere auf den Namen »Hannah Moore«, säuberlich in einer Plastik-Klapphülle verstaut: einen kalifornischen Führerschein mit meiner Personenbeschreibung und einem Foto von mir, einen Sozialversicherungs-Ausweis, eine Visa-Karte und eine Tank-Kreditkarte von Chevron. »Hannah Moore« besaß sogar einen Bibliotheksausweis als Zeichen eines gewissen Bildungsniveaus. Ich schob meine Umhängetasche unter den Vordersitz und steckte die Papiere in meine Hosentasche. Ich stieg aus, schloss den Wagen ab, überquerte die Straße und marschierte die Einfahrt entlang.

Die großen Bäume tauchten das Grundstück in unangenehm kühlen Schatten, und ich bereute es, dass ich nicht daran gedacht hatte, eine Windjacke oder ein Sweatshirt mitzunehmen. Bibiannas Domizil war ein verlottertes braunes Schindelhäuschen, der ideale Snack für einen hungrigen Termitenschwarm. Ich erklomm die zwei breiten, knarrenden Holzstufen zu einer winzigen, vollgerumpelten Vorderveranda. Das Flügelfenster auf der rechten Seite war mit einer Bahn aus rotem Baumwollstoff verhängt. Ich versuchte, daran vorbeizulinsen, konnte aber nicht viel erkennen. Drinnen schien alles ruhig, und ich sah auch kein Licht. Ich klopfte an die Vordertür und nutzte das Warten, um die unmittelbare Umgehung des Eingangs zu inspizieren. Neben der Haustür war ein Metallbriefkasten an die Holzschindeln genagelt. Sieben adressierte und frankierte Briefe guckten halb aus dem Auffangkorb, offensichtlich dort deponiert, damit der Postbote sie mitnahm. Bis jetzt hatte noch niemand auf mein Klopfen reagiert. Das Häuschen wirkte verlassen, und ich bildete mir ein, den schwachen Muffelgeruch wahrzunehmen, den manche Behausungen schon nach kürzester Abwesenheit ihrer Bewohner verströmen. Ich klopfte noch einmal und wartete ein paar endlose Minuten, ehe ich befand, dass wirklich niemand daheim war. Ich sah möglichst beiläufig zu dem großen Haus hinüber, aber auch dort war kein Lebenszeichen zu bemerken, kein vorwurfsvolles Gesicht hinter den Scheiben zu entdecken. Ich streckte die Hand aus und blätterte sachte mit den Fingerspitzen durch die Briefe. Als kein Alarm ertönte, nahm ich den ganzen Stapel heraus, um ihn in aller Ruhe durchzusehen. Vier Briefe waren Überweisungen, für Telefon, Gas, Wasser und eine an ein Kaufhaus. Dann waren da noch zwei größere Umschläge, einer an die Aetna Versicherung und der andere an die Allstate adressiert und beide mit der Absenderangabe »Lola Flores«. Heiliger Strohsack, was da wohl drin ist, dachte ich. Diese Gauner kriegen den Hals einfach nicht voll. Es sah ganz so aus, als sei die California Fidelity nicht das einzige Opfer. Das siebte Poststück war offenbar ein persönlicher Brief, an eine Adresse in Los Angeles gerichtet. Ich pickte ihn heraus, faltete ihn zusammen und schob ihn mir vorn in den Schlüpfer. Schimpf und Schande. Das war ein schwerwiegendes Delikt – das Klauen von Briefen, nicht das mit der Unterhose. Ich steckte die restlichen Briefe wieder zurück. Mühsam den Impuls zum Rennen unterdrückend, schlenderte ich wieder die Stufen hinunter, die Einfahrt entlang und über die Straße zu meinem Auto.

Ich öffnete die rechte Tür und warf das Notiz-Brett auf den Beifahrersitz, wobei ich um Haaresbreite das Bouquet verfehlte, und sah mich noch einmal um. Ich entdeckte einen Mini-Markt an der Ecke Huerto und Arroyo Street, etwa zehn Häuser weiter rechts. Ich marschierte hin, in der Hoffnung, ein Telefon zu finden. Das Geschäft war ein kleiner »Mom und Pop«-Laden, das Schaufenster mit selbst gemalten Werbeplakaten für Bier, Zigaretten und Hundefutter bepflastert. Drinnen war es schummrig, und der unebene Holzboden war mit Sägemehl bedeckt, das aussah, als sei es noch vom Bau des Hauses übrig. Das Angebot bestand hauptsächlich aus einem Sammelsurium von Konserven, das keinem ersichtlichen Ordnungsprinzip unterstand. Die zwei schmalen Gänge flankierten freistehende Warenregale, vollgepfropft mit allen möglichen Dingen, von Pampers über Pudding bis hin zu Rasenpflegeprodukten. Auf der Schaufensterseite sichtete ich eine Getränke-Kühlbox und eine Krypta-artige Gefrierkammer, gefüllt mit Tiefkühlgemüse, Fruchtsäften und Eis. »Mom« stand vorn am Kassentisch in einer weißen Rundumschürze, eine halbgerauchte Zigarette in der einen Hand. Sie war schätzungsweise fünfundsechzig, mit einer steifgesprayten Blondhaarfrisur und einem breiten Schorf-Schnauzer dort, wo man ihr die Oberlippenfältchen weggeschliffen hatte. Ihre Gesichtshaut war gestrafft und hinter den Ohren festgezurrt, was ihren Augen einen Ausdruck permanenten Staunens verlieh.

»Haben Sie ein Münztelefon?«

»Hinten beim Lager«, sagte sie, mit der Zigarette in die gemeinte Richtung gestikulierend. Ein halber Zoll Asche fiel ab und rutschte über ihre Schürzenfront.

Ich schob vier Fünf-Cent-Stücke in den Münzschlitz und rief Mary Bellflower an, um ihr die mühsam errungene Adresse der guten Bibianna durchzugeben.

»Danke. Das ist toll«, sagte sie. »Da kann ich ja endlich den Stapel Formulare abschicken, den ich hier liegen habe. Kommen Sie noch mal ins Büro?«

»Ja, aber es dauert noch ein bisschen. Ich dachte mir, ich treibe mich noch ein Weilchen hier herum und warte, ob Bibianna auftaucht.«

»Na gut, aber kommen Sie doch später noch mal vorbei. Dann können wir gemeinsam überlegen, wie es weitergehen soll.«

»Ist Gordon Titus schon zurück?«

»Nein. Noch nicht. Vielleicht haben Sie ihn ja in die Flucht geschlagen.«

»Das bezweifle ich«, sagte ich. Als ich den Hörer einhängte, fiel ein Fünf-Cent-Stück in den Rückgabeschlitz. Ein echter Glückstag. Links von mir befand sich eine Fleischtheke mit einer schrägen Glasfront. Darüber hing ein Schild, das für das Imbissgericht des Tages warb: Chilibohnen, Kohlsalat und ein Tri-Tip-Sandwich für 2 Dollar 39. Es duftete göttlich. Tri-Tip ist offenbar eine regionale Spezialität, ein Fleischstück vom Rind, von dem anderswo noch nie jemand gehört hat. In Abständen versuchen irgendwelche Lokaljournalisten, dem Ursprung dieser Bezeichnung nachzugehen. Den jeweiligen Artikel ergänzt dann jedes Mal das Schaubild einer Muh-Kuh im Profil, in das sämtliche Fleischstücke eingezeichnet sind. Tri-Tip sitzt am Vorderende, gleich hinter der Wamme. Es wird gewöhnlich gegrillt, in Scheiben geschnitten und mit hausgemachter Salsa in einem Brötchen oder mit ein paar Stengelchen frischem Koriander in einer Tortilla serviert.

»Pop« tauchte jetzt aus der Gefrierkammer auf. Ein winterlicher Eishauch wehte hinter ihm her. Er war ein massiger Mann in den Sechzigern, mit einem gutmütigen Gesicht und milden Augen. »Was darf ich Ihnen geben?«

»Wenn’s geht, einmal Tri-Tip zum Mitnehmen.«

Er blinzelte mir zu, lächelte kurz und machte wortlos meine Bestellung zurecht.

Das Sandwich in der Hand balancierend, fischte ich ein Pepsi Light aus der Kühlbox, um dann vorn an der Kasse zu bezahlen. Ich ging zu meinem Auto zurück und verspeiste mein gediegenes Mahl, wobei ich sorgsam darauf achtete, mir nicht die Uniform mit Salsa zu verkleckern. Die Blumen, die mit jeder Minute schlapper wurden, erfüllten den Innenraum meines VW mit der Atmosphäre einer Einsegnungshalle. Ich behielt Bibiannas Einfahrt zwei Stunden lang im Auge und übte mich im Zen des Observierens. Von vielen Detektiv-Büros werden Observierungsdienste viel teurer berechnet als alle anderen Leistungen, weil sie so sterbenslangweilig sind. Es tat sich nichts. Niemand kam. Kein Licht ging an. Ich dachte, wenn ich vorhatte, das Haus noch länger zu beobachten, würde ich wohl gut daran tun, dem zuständigen Streifenpolizisten Bescheid zu sagen. Außerdem wäre es vielleicht klüger, mir ein anderes Auto zu borgen und mir einen Vorwand auszudenken, weshalb ich hier herumlungerte. Der Postbote kam zu Fuß vorbei, nahm die Briefe aus Bibiannas Briefkasten mit und hinterließ an ihrer Stelle eine Hand voll Post. Ich hätte viel dafür gegeben, kurz nachsehen zu können, wer ihr da schrieb, aber ich wollte mein Glück nicht überstrapazieren. Wo steckte die gute Frau? Wenn sie solche Rückenschmerzen hatte, wieso war sie dann den ganzen Tag weg? Vielleicht war sie ja beim Chiropraktiker, um sich die Wirbel einrichten oder den Hals einrenken zu lassen. Um drei Uhr ließ ich den Wagen an, um wieder in Richtung Zentrum zurückzufahren.

Bei der California Fidelity angekommen, beglückte ich Darcy an ihrem Empfangstisch mit dem Blumenbouquet. Sie war so taktvoll, meinen kleinen Zusammenstoß mit Titus nicht zu erwähnen. Ihr Blick blieb kurz an meiner Kleidung hängen. »Sind Sie jetzt bei der Air-Force?«

»Ich mag diesen Uniform-Look.«

»Die Schuhe da sehen aus, als wären sie bei einem Thai-Boxkampf absolut tödlich«, bemerkte sie. »Falls Sie wegen Mary gekommen sind – sie hat gerade Kundschaft, aber Sie können ja schon mal nach hinten gehen.«

Mary war im Mai als Schadenssachbearbeiterin eingestellt worden, nachdem Jewel Cavaletto in Rente gegangen war. Man hatte ihr den Schreibtisch zugewiesen, an dem Vera gesessen hatte, ehe sie nach vorn in den Glaskasten aufgerückt war. Mary war gescheit, aber noch unerfahren, ein junges Ding von vierundzwanzig, mit der Sorte Gesicht, die gerade für den dritten Platz bei einem regionalen Schönheitswettbewerb ausreicht. Ich rechnete es ihr hoch an, dass sie die Diaz-Sache weitergeleitet hatte. Sie hatte einen guten Blick, und wenn sie lange genug aushielt, würde sie irgendwann ein echter Gewinn für die Firma sein. Sie war seit drei Monaten mit einem Verkäufer unseres lokalen Nissan-Händlers verheiratet und interessierte sich brennend für Veras Hochzeitspläne. Eine ihrer eigenen Hochzeitseinladungen (vom Wind sanft gewiegte Gänseblümchen zwischen Grashalmen vor einem zartrosa Hintergrund) stand in einem Messingrähmchen auf ihrem Schreibtisch. Wo Vera einst die neueste Nummer der Cosmopolitan unter ihren Aktenstapeln versteckt hatte, las Mary jetzt die Zeitschrift Brides, die offenbar alles von der Verlobung bis zum Ende des ersten Ehejahrs abdeckte. Anfangs hatte Mary mich nach meinen Spezial-Kochrezepten gefragt, bis Vera sie aufgeklärt hatte. Jetzt betrachtete sie mich immer mit dem ganzen penetranten Mitleid frisch verheirateter Leute für eingefleischte Singles.

Ich schwatzte noch ein paar Minuten mit Darcy und machte mich dann auf den Weg nach hinten zu Marys Arbeitsplatz, wobei ich unterwegs noch ein paar anderen Kollegen hallo sagte. Die Kunde von meinem Scharmützel mit Titus hatte sich offenbar schon verbreitet und mir eine gewisse Popularität eingetragen, die sicher die Zeit überdauern würde, bis sie mich hinauswarfen – maximal einen Tag. Marys Klienten, ein Mann und eine Frau, waren gerade am Gehen, als ich bei ihrem Kabuff ankam. Die Frau war in den Dreißigern, mit einem zerrupften, gebleichten Schopf, der entfernt auf Punk machte. Sie trug einen harten schwarzen Lidstrich und sichtlich falsche Wimpern. Ihre gemusterte schwarze Strumpfhose und die ordinären Sling-Pumps mit den Stilettoabsätzen passten irgendwie nicht zu dem streng geschnittenen Business-Kostüm. Sie schien mich weit weniger beachtenswert zu finden als ich sie, denn sie sah kaum in meine Richtung, als sie in dem schmalen Gang zwischen den Kabuffs an mir vorbeiging. Ihr Begleiter schlenderte gemächlich hinter ihr her, und schon sein Gang signalisierte schiere Arroganz. Er hatte die Hände in den Taschen und gab sich überhaupt als die Lässigkeit in Person, aber ich hätte schwören können, dass er jemand war, der sich streng unter Kontrolle hatte. Sein dunkles Haar war glatt zurückgekämmt. Er hatte dicke Brauen über großen, dunklen Augen, ausgeprägte Wangenknochen und ein Schnauzbärtchen, das so getrimmt war, dass es seitlich um seinen Mund herunterzurinnen schien. Er war bestimmt fast einsneunzig groß, und die Polster seines karierten Sakkos betonten seine wuchtigen Schultern noch. Er sah aus wie der finstere Adlatus des Oberschurken in einer Vorabend-Serie. Er versuchte zwar im letzten Moment noch, mir auszuweichen, rempelte mich aber trotzdem an. Er fing mich am Arm auf und strebte mit einem gemurmelten »Oh, Verzeihung« weiter den Flut entlang. Ich bekam eine Wolke des Haarwassers in die Nase, das er benutzte, um seine Haare zu glätten. Ich starrte den beiden nach, während ich in Marys Kabuff trat.

Sie war nicht an ihrem Schreibtisch, erschien aber im nächsten Moment, die Augen starr auf einen randvoll mit Wasser gefüllten Blechbecher geheftet. Sie trug einen roten Kaschmirpullover mit hochgeschobenen Ärmeln. Ihr Teint war frisch und klar, und sie strahlte vor Gesundheit. Alle Farben an ihr schienen direkt aus Illustrierten-Reklamen entsprungen. »So, da wären wir«, sagte sie. Dann sah sie auf. Sie schien verdutzt. »Ach, sind sie schon weg? Die beiden, die eben hier waren?«

»Sie sind gerade vor einer halben Sekunde über den Flur gegangen.«

Sie lugte aus der Tür, konnte aber keine Spur mehr von ihnen entdecken. »Also, das ist aber merkwürdig. Sie hat gesagt, sie fühlt sich nicht wohl. Deshalb bin ich ihr ein Glas Wasser holen gegangen.«

»Ich fand, sie sah ganz gesund aus.«

Mary klappte vor Verblüffung der Unterkiefer hinunter, und sie stellte den Becher mit dem Wasser auf ihrem Schreibtisch ab. »Schade, dass sie nicht mehr da sind. Ich hatte gehofft, Sie könnten noch mit ihnen reden.«

»Worüber?«

Sie schüttelte den Kopf. »Sie arbeiten für die Zentralstelle zur Verhinderung von Versicherungsbetrug. Das heißt, sie zumindest. Er ist Ermittler bei der kalifornischen Versicherungsaufsicht.« Sie gab mir die Visitenkarte der Frau.

»Der? Sind Sie sicher?«

»Er hat letzten Monat dort angefangen. Sie lernt ihn gerade an.«

»Er sah eher aus wie ein Gangster.«

Sie lachte verlegen, als ob sie sich jetzt, da ich es angesprochen hatte, für sein Äußeres verantwortlich fühlte. »Ja, was? Das liegt bestimmt an diesem geschmacklosen Jackett. Ich würde Peter niemals in so einem Ding in der Öffentlichkeit rumlaufen lassen. Setzen Sie sich doch. Haben Sie mit Bibianna Diaz gesprochen? Herrje, wo habe ich nur die Akte hingepackt?« Sie setzte sich hin und fing an, einen Stapel dicker Aktenordner auf ihrem Schreibtisch durchzusehen.

»Nein. Sie ist immer noch nicht da. Das nächste Mal nehme ich meine Kamera mit. Vielleicht erwische ich sie ja dabei, wie sie auf dem Rasen Flic-Flacs schlägt.« Ich erzählte ihr von »Lola Flores« und den beiden Versicherungsgesellschaften. »Bibianna hat offensichtlich unter dem Namen Lola Flores noch andere krumme Dinger laufen. Wer weiß, wie viele Schadensanzeigen sie gleichzeitig losgelassen hat.«

Mary war gebührend empört. »Großer Gott, das ist ja nicht zu glauben. Ich werde mich gleich dahinterklemmen und den Leuten Bescheid sagen.«

»Sorgen Sie dafür, dass Sie alle Vorgänge, die diese Dame betreffen, sorgfältig dokumentieren. Wenn wir die Unterlagen an die Zentralstelle weiterleiten, können die ihre auch hinschicken. Das gibt bestimmt einigen Wirbel.«

Ich war mit einem Teil meiner Gedanken immer noch bei dem Pärchen, das mir gerade entgegengekommen war. Ich sah mir die Karte der Frau noch einmal an. Das Emblem der Zentralstelle – mit den Buchstaben ICPI – sah echt aus, so ähnlich wie ein Set-Deckchen mit einem kompletten Gedeck. Nach dieser Karte war sie Karen Hedgepath von einem Ermittlungsbüro in Los Angeles. Das Problem war nur, dass sie überhaupt nicht aussah wie die ICPI-Ermittler, die ich bisher getroffen hatte. Die meisten von ihnen waren richtige Buchhaltertypen. Diese Frau sah aus wie ein Rockstar in Zivil. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass der Bezirksleiter die Punkfrisur dulden würde, von den Stilettoschuhen ganz zu schweigen.

»Ah, da ist sie ja«, sagte Mary. Sie extrahierte eine Akte aus der Mitte des Stapels. Der Ordner trug die Beschriftung »Diaz«, und an den vorderen Deckel war ein Notizzettel mit der neuen Anschrift geklammert. Sie angelte auf ihrem Schreibtisch nach einer Rechnung, die an das zugehörige Kuvert geheftet war. »Ich habe gerade einen ganzen Stapel neuer Rechnungen bekommen. Ich nehme an, sie war beim Chiropraktiker.«

»Vermutlich bei einem Subluxations-Spezialisten«, brachte ich den einzigen chiropraktischen Terminus an, den ich kannte.

Sie lochte die Rechnung und heftete sie in den Ordner. »Übrigens waren sie auch wegen Bibianna da. Deshalb wollte ich ja, dass Sie mit ihnen reden. Ich nehme an, das ICPI hat Wind davon bekommen, dass sie hierhergezogen ist. Sie hat letztes Jahr ein paar krumme Dinger in Santa Monica gedreht, und sie haben wohl gehofft, sie über uns aufspüren zu können.«

»Ist ja reizend. Versicherungs-Dinger?«

»So ausdrücklich haben sie es nicht gesagt, aber es muss doch wohl um Versicherungsbetrug gehen, oder nicht?«

Ich dachte noch einmal kurz über die Sache nach. Ich fragte mich, warum eine Angestellte des ICPI wohl jemanden, der für eine andere Institution arbeitete, »anlernen« sollte. Nicht, als würden das ICPI und die Versicherungsaufsicht nicht zusammenarbeiten, aber die Zentralstelle ist keine staatliche Behörde. Und warum sollten Ermittler hierher angereist kommen? Würden sie nicht eher bei der CF anrufen, als die anderthalb Stunden Fahrt auf sich zu nehmen? Das Ganze ergab einfach keinen Sinn. Es sei denn, sie logen.

»Haben Sie ihnen diese Adresse gegeben?«, fragte ich, auf den Notizzettel deutend.

»Ich habe ihnen überhaupt nichts gegeben. Deshalb war ich ja so erstaunt, als Sie sagten, sie seien schon wieder weg. Ich habe ihnen nur bestätigt, dass wir hier eine Schadensmeldung vorliegen haben, der wir nachgehen. Warum?«

»Sie könnten sie sich beschafft haben, während Sie das Wasser geholt haben. Sie brauchten ja nur den Aktenstapel auf Ihrem Schreibtisch durchzugehen.«

»Ach, hören Sie doch auf. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass sie so was getan haben könnten.«

»Wer weiß? Wir können nur hoffen, dass sie echt waren.«

Sie legte sich die Hand aufs Herz, als wollte sie den Fahneneid schwören. »Gott im Himmel, was soll das heißen?«

»Ach, Sie wissen doch selbst, wie das ist. Man kann Leuten auch Visitenkarten geben, die gar nichts zu sagen haben. Das habe ich selbst auch schon getan.«

Mary fühlte sich offenbar in ihrer persönlichen Ehre gekränkt, denn sie schaltete jetzt plötzlich von Ängstlichkeit auf Aktivismus um. »Geben Sie her«, sagte sie. Sie schnappte mir die Karte aus der Hand und klatschte sie vor sich auf den Schreibtisch. Ich sah zu, wie sie die Vorwahl 213 und dann die aufgedruckte Telefonnummer wählte. »Ich bringe mich um, wenn sie nicht die ist, für die sie sich ausgegeben hat.« Sie horchte einen Moment in den Hörer, dann wurde ihr Gesicht lang und länger. Sie hielt mir den Hörer hin, der ein Geräusch von sich gab wie ein Abfallzerkleinerer, der eine lebende Ente zermühlt.

»Vielleicht haben Sie sich ja verwählt«, sagte ich aufmunternd.

»Mein Gott, ich kann’s nicht fassen, dass ich auf einen so plumpen Trick hereinfalle, aber es ist mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen, an ihrer Identität zu zweifeln. Wie konnte ich nur so dumm sein?«

»Ach, nun seien Sie nicht so hart mit sich. Ich bin seit Jahren in diesem Geschäft und lasse mich immer noch oft genug reinlegen. Es liegt nun mal in der Natur des Menschen, erst mal zu vertrauen. Vor allem, wenn man selbst ehrlich ist. Nicht, dass ich so eine grundehrliche Haut wäre, aber Sie wissen schon, was ich meine.«

»Was glauben Sie, was sie vorhaben?«

»Keinen Schimmer«, sagte ich. »Offensichtlich kennen sie Bibianna und ihren Hang zur Mogelei. Die eigentliche Frage ist: Wie sind sie auf uns gekommen? Es gibt doch bestimmt hundert Versicherungs-Agenturen in Santa Teresa. Warum gerade die CF?.

»Das ist ja schrecklich. Mir ist ganz schlecht. Was können sie nur von ihr wollen?«

»Vermutlich nichts Gutes, sonst wären sie wohl direkt damit rausgerückt.«

»Was sollen wir jetzt tun?«

»Ich wüsste nicht, was wir tun könnten, solange wir keine Ahnung haben, was überhaupt läuft. Vielleicht sollten Sie mal die richtige Nummer des ICPI ausfindig machen und nachfragen, ob die hinter der Diaz her sind.«

Ich hielt den Zettel hoch.

»Ich werde so lange versuchen, an sie heranzukommen. Dann sehen wir weiter.«

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