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2. Kapitel: Gefühle und Sittlichkeit der Massen
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Gefühle und Sittlichkeit der Massen
Nach diesem allgemeinen Hinweis auf die Hauptkennzeichen der Massen kommen wir nun zur Untersuchung der Einzelheiten.
Verschiedene besondere Eigenschaften der Massen, wie Triebhaftigkeit (impulsivité), Reizbarkeit (irritabilité), Unfähigkeit zum logischen Denken, Mangel an Urteil und kritischem Geist, Überschwang der Gefühle (exagération des sentiments) und noch andere sind bei Wesen einer niedrigeren Entwicklungsstufe, wie beim Wilden und beim Kinde, ebenfalls zu beobachten. Ich streife diese Übereinstimmung nur im Vorübergehen, denn ihre Ausführung würde über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen. Sie wäre unnötig für alle mit der Psychologie der Primitiven Vertrauten und für jene, die nichts von ihr wissen, ohne rechte Überzeugungskraft.
Ich gehe nun die verschiedenen Merkmale, die sich bei der Mehrzahl der Massen leicht beobachten lassen, der Reihe nach durch.
I. Triebhaftigkeit, Beweglichkeit und Erregbarkeit der Massen
Bei der Untersuchung ihrer grundlegenden Charakterzüge sagten wir, dass die Masse beinahe ausschließlich vom Unbewussten geleitet wird. Ihre Handlungen stehen viel öfter unter dem Einfluss des Rückenmarks als unter dem des Gehirns. Die vollzogenen Handlungen können ihrer Ausführung nach vollkommen sein, da sie aber nicht vom Gehirn ausgehen, so handelt der einzelne nach zufälligen Reizen. Die Masse ist der Spielball aller äußeren Reize, deren unaufhörlichen Wechsel sie widerspiegelt. Sie ist also die Sklavin der empfangenen Anregungen. Der alleinstehende Einzelne kann ja denselben Reizen unterliegen wie die Masse, da ihm aber sein Gehirn die unangenehmen Folgen des Nachgebens zeigt, so gehorcht er ihnen nicht. Physiologisch lässt es sich so erklären, dass der alleinstehende Einzelne die Fähigkeit zur Beherrschung seiner Empfindungen hat, die Masse aber nicht dazu imstande ist.
Die mannigfachen Triebe, denen die Massen gehorchen, können je nach dem Anreiz edel oder grausam, heldenhaft oder feige sein, stets aber sind sie so unabweisbar, dass der Selbsterhaltungstrieb vor ihnen zurücktritt.
Da die Reize, die auf eine Masse wirken, sehr wechseln und die Massen ihnen immer gehorchen, so sind sie natürlich äußerst wandelbar. Daher sehen wir sie auch in demselben Augenblick von der blutigsten Grausamkeit zum unbedingten Heldentum oder Edelmut übergehen. Die Masse wird leicht zum Henker, ebenso leicht aber auch zum Märtyrer. Aus ihrem Herzen flossen die Ströme von Blut, die für den Triumph jedes Glaubens notwendig sind. Man braucht nicht zu den Zeitaltern der Helden zurückzugehen, um zu erkennen, wozu die Massen fähig sind. Nie markten sie bei einem Aufstand um ihr Leben, und erst vor wenigen Jahren hätte ein General, der plötzlich volkstümlich geworden war, wenn er es verlangt hätte, leicht 100.000 Menschen gefunden, bereit, sich für seine Sache töten zu lassen.
Nichts ist also bei den Massen vorbedacht. Sie können unter dem Einfluss von Augenblicksreizen die ganze Folge der entgegengesetzten Gefühlen durchlaufen. Sie gleichen den Blättern, die der Sturm aufwirbelt, nach allen Richtungen verstreut und wieder fallen lässt. Die Betrachtung gewisser revolutionärer Massen wird uns einige Beispiele für die Veränderlichkeit ihrer Gefühle geben.
Diese Veränderlichkeit macht sie schwer regierbar, besonders wenn ein Teil der öffentlichen Gewalt in ihre Hände gefallen ist. Würden die Notwendigkeiten des Alltagslebens nicht eine Art unsichtbarer Regelung der Ereignisse herausbilden, so könnten die Demokratien nicht bestehen. Wenn auch die Massen die Dinge leidenschaftlich begehren, so wollen sie sie doch nicht für lange Zeit. Sie sind ebenso unfähig zu ausdauerndem Wollen wie zum Denken.
Die Masse ist nicht nur triebhaft und wandelbar. Gleich dem Wilden lässt sie nicht zu, dass sich zwischen ihre Begierde und die Verwirklichung dieser Begierde ein Hindernis erhebt, umso weniger, als ihre Überzahl ihr das Gefühl unwiderstehlicher Macht gewährt. Für den Einzelnen in der Masse schwindet der Begriff des Unmöglichen. Der alleinstehende Einzelne ist sich klar darüber, dass er allein keinen Palast einäschern, keinen Laden plündern könnte, und die Versuchung dazu kommt ihm kaum in den Sinn. Als Glied einer Masse aber übernimmt er das Machtbewusstsein, das ihm die Menge verleiht, und wird der ersten Anregung zu Mord und Plünderung augenblicklich nachgeben. Ein unerwartetes Hindernis wird wütend zertrümmert. Wenn der menschliche Organismus dauernde Wut zuließe, so könnte man die Wut als den normalen Zustand der gehemmten Masse bezeichnen.
Die Erregbarkeit, Triebhaftigkeit und Veränderlichkeit der Massen sowie das gesamte Empfinden des Volkes, das wir zu untersuchen haben, werden stets durch die grundlegenden Rasseeigenschaften abgewandelt. Sie bilden den festen Boden, in dem alle unsere Gefühle wurzeln. Ohne Zweifel sind die Massen reizbar und triebhaft, aber in den mannigfachsten Abstufungen. Der Unterschied zwischen einer lateinischen und einer angelsächsischen Masse z. B. ist auffallend. Die jüngsten Ereignisse unserer Geschichte geben ein sprechendes Bild davon. Im Jahre 1870 hat die Veröffentlichung eines einfachen Telegramms mit dem Bericht über eine angeblich einem Botschafter zugefügte Beleidigung genügt, einen Wutausbruch zu entfachen, der zur unmittelbaren Ursache eines furchtbaren Krieges wurde. Einige Jahre später erzeugte die telegrafische Anzeige einer unbedeutenden Schlappe bei Langson einen neuen Ausbruch, der den sofortigen Sturz der Regierung herbeiführte. Zu gleicher Zeit erregte die viel schwerere Niederlage einer englischen Expedition bei Khartum nur eine sehr schwache Bewegung in England, und kein Ministerium fiel. Überall sind die Massen weibisch, die weibischsten aber sind die lateinischen Massen. Wer sich auf sie stützt, kann sehr hoch und sehr schnell steigen, aber stets in der Nähe des tarpejischen Felsens und mit der Gewissheit, eines Tages hinuntergestürzt zu werden.
II. Beeinflussbarkeit und Leichtgläubigkeit der Massen
Als einen der allgemeinen Charakterzüge bezeichneten wir die übermäßige Beeinflussbarkeit und wiesen nach, wie ansteckend eine Beeinflussung in jeder Menschenansammlung ist; woraus sich die blitzschnelle Gerichtetheit der Gefühle in einem bestimmten Sinne erklärt. So parteilos man sich die Masse auch vorstellt, so befindet sie sich doch meistens in einem Zustand gespannter Erwartung, der die Beeinflussung begünstigt. Die erste klar zum Ausdruck gebrachte Beeinflussung teilt sich durch Übertragung augenblicklich allen Gehirnen mit und gibt sogleich die Gefühlsrichtung an. Bei allen Beeinflussten drängt die fixe Idee danach, sich in eine Tat umzuformen. Ob es sich darum handelt, einen Palast in Brand zu stecken oder sich zu opfern, die Masse ist mit der gleichen Leichtigkeit dazu bereit. Alles hängt von der Art des Anreizes ab, nicht mehr, wie beim allein stehenden einzelnen, von den Beziehungen zwischen der eingegebenen Tat und dem Maß der Vernunft, das sich ihrer Verwirklichung widersetzen kann.
So muss die Masse, die stets an den Grenzen des Unbewussten umherirrt, allen Einflüssen unterworfen ist, von der Heftigkeit ihrer Gefühle erregt wird, welche allen Wesen eigen ist, die sich nicht auf die Vernunft berufen können, alles kritischen Geistes bar, von einer übermäßigen Leichtgläubigkeit sein. Nichts erscheint ihr unwahrscheinlich, und das darf man nicht vergessen, wenn man begreifen will, wie leicht die unwahrscheinlichsten Legenden und Berichte zustande kommen und sich verbreiten4.
Die Entstehung von Legenden, die so leicht in den Massen umlaufen, ist nicht nur die Folge vollkommener Leichtgläubigkeit, sondern auch der ungeheuerlichen Entstellungen, welche die Ereignisse in der Fantasie der Menschenansammlungen erfahren. Der einfachste Vorfall, von der Masse gesehen, ist sofort ein entstelltes Geschehnis. Sie denkt in Bildern, und das hervorgerufene Bild löst eine Folge anderer Bilder aus, ohne jeden logischen Zusammenhang mit dem ersten. Diesen Zustand verstehen wir leicht, wenn wir bedenken, welche sonderbaren Vorstellungsreihen zuweilen ein Erlebnis in uns hervorruft. Die Vernunft beweist die Zusammenhanglosigkeit dieser Bilder, aber die Masse beachtet sie nicht und vermengt die Zusätze ihrer entstellenden Fantasie mit dem Ereignis. Die Masse ist unfähig, das Persönliche von dem Sachlichen zu unterscheiden. Sie nimmt die Bilder, die in ihrem Bewusstsein auftauchen und sehr oft nur eine entfernte Ähnlichkeit mit der beobachteten Tatsache haben, für Wirklichkeit.
Die Entstellungen, mit denen eine Masse ein Ereignis umformt, dessen Zeuge sie gewesen ist, scheinen unzählig und von verschiedener Art zu sein, da die Menschen, aus denen die Masse besteht, von sehr verschiedenem Temperament sind. Aber so ist es nicht. Infolge der Übertragung sind die Entstellungen durch die Einzelnen einer Gemeinschaft alle von gleicher Art und gleichem Wesen. Die erste Entstellung, die ein Glied der Gesamtheit vorbringt, formt den Kern des ansteckenden Einflusses. Bevor der heilige Georg allen Kreuzfahrern auf den Mauern von Jerusalem erschien, war er sicher zuerst nur von einem von ihnen wahrgenommen worden. Durch Beeinflussung und Übertragung wurde das gemeldete Wunder sofort von allen angenommen.
So vollzieht sich der Vorgang von Kollektivhalluzinationen, die in der Geschichte so häufig sind und alle klassischen Merkmale der Echtheit zu haben scheinen, da es sich hier um Erscheinungen handelt, die von Tausenden von Menschen festgestellt wurden.
Die geistige Beschaffenheit der Einzelnen, aus denen die Masse besteht, widerspricht nicht diesem Grundsatz. Denn diese Eigenschaften sind bedeutungslos. In dem Augenblick, da sie zu einer Masse gehören, werden der Ungebildete und der Gelehrte gleich unfähig zur Beobachtung.
Diese Behauptung mag widersinnig klingen. Um sie zu beweisen, müsste man auf eine große Anzahl historischer Tatsachen zurückgreifen, und dazu würden mehrere Bände nicht genügen.
Da ich aber den Leser doch nicht unter dem Eindruck unbewiesener Behauptungen lassen möchte, so will ich einige Beispiele anführen, die ich auf gut Glück aus der großen Anzahl, die man zitieren könnte, herausgreife.
Der folgende Fall wurde gewählt, weil er besonders allgemeingültig für Kollektivhalluzinationen ist. Er wirkte sich auf eine Menge aus, die aus den verschiedensten Einzelnen – unwissenden und gebildeten – bestand. Er wird von dem Schiffsleutnant Julien Felix in seinem Buch über die Meeresströmungen nebenher berichtet und ist auch in die »Revue Scientifique« aufgenommen worden.
Die Fregatte »La Belle-Poule« kreuzte auf See, um die Korvette »Le Berceau« wiederzufinden, von der sie durch einen heftigen Orkan getrennt worden war. Es war am hellen, lichten Tage. Plötzlich signalisiert die Wache ein Schiff in Seenot. Die Mannschaft richtet ihre Blicke auf die bezeichnete Stelle, und alle, Offiziere und Matrosen, sehen deutlich ein mit Menschen beladenes Wrack, welches von kleinen Fahrzeugen, auf denen Notsignale flatterten, geschleppt wurde. Admiral Desfossés ließ ein Boot bemannen, um den Schiffbrüchigen zu Hilfe zu eilen. Während sie sich näherten, sahen die im Boot befindlichen Matrosen und Offiziere »Massen von Menschen sich hin und her bewegen, die Hände ausstrecken, und vernahmen den dumpfen und verworrenen Lärm einer großen Anzahl Stimmen.« Als das Boot angekommen war, fand man nichts weiter vor als einige mit Blättern bedeckte Baumäste, die sich von der benachbarten Küste losgerissen hatten. Vor einem so handgreiflichen Beweis schwindet die Täuschung.
Dies Beispiel enthüllt ganz klar den Verlauf der Kollektivtäuschungen, wie wir ihn beschrieben haben. Auf der einen Seite eine Masse im Zustand gespannter Aufmerksamkeit; auf der anderen eine Suggestion, die von der Wache ausgeht, die ein schiffbrüchiges Fahrzeug auf dem Meer signalisiert, eine Suggestion, die durch Übertragung von allen Anwesenden, Offizieren wie Matrosen, aufgenommen wird.
Eine Masse braucht nicht zahlreich zu sein, um die Fähigkeit richtigen Sehens zu verlieren und die wirklichen Tatsachen durch davon abweichende Täuschungen zu ersetzen. Die Versammlung einiger Einzelner bildet eine Masse; und selbst wenn es hervorragende Gelehrte wären, so würden sie doch alle für die Dinge, die außerhalb ihres Faches liegen, die Massenkennzeichen annehmen. Das Beobachtungsvermögen und der kritische Geist eines jeden von ihnen schwinden sofort.
Ein scharfsinniger Psychologe, Davey, liefert uns dafür ein recht merkwürdiges Beispiel, welches vor kurzem in den »Annales des Sciences psychiques« mitgeteilt wurde und es verdient, hier berichtet zu werden. Davey berief eine Versammlung ausgezeichneter Beobachter ein, unter ihnen den hervorragenden englischen Forscher Wallace, und führte ihnen, nachdem er sie die Gegenstände untersuchen und beliebig hatte versiegeln lassen, alle klassischen Phänomene des Spiritismus vor: Materialisation von Geistern, Schiefertafelschrift usw. Nachdem er hierauf von diesen berühmten Beobachtern schriftliche Berichte erhalten hatte, in welchen erklärt wurde, die beobachteten Erscheinungen seien nur auf übernatürlichem Wege möglich gewesen, enthüllte er ihnen, dass sie das Ergebnis sehr einfacher Kniffe waren. »Das Erstaunliche an diesem Versuch Daveys«, schreibt der Verfasser des Berichts, »ist nicht die Bewunderung der Kunststücke als solcher, sondern die außerordentliche Geistlosigkeit der Berichte, welche die uneingeweihten Zeugen darüber abgaben. »Denn«, sagt er »die Zeugen können zahlreiche und genaue Berichte geben, die völlig irrig sind, die aber, wenn man ihre Schilderungen für richtig hält, zu dem Ergebnis führen, dass die geschilderten Vorgänge durch den Betrug nicht zu erklären sind. Die von Davey ersonnenen Methoden waren so einfach, dass man sich über die Kühnheit wundert, mit der er sie anwandte, er besaß aber eine solche Macht über den Geist der Masse, dass er ihr das, was sie nicht sah, als gesehen aufzwingen konnte.« Diese Macht hat der Hypnotiseur immer über den Hypnotisierten. Sieht man aber, wie sie sich auf überlegene, von vornherein misstrauische Geister auswirkt, dann begreift man, mit welcher Leichtigkeit die gewöhnlichen Massen zu täuschen sind.
Es gibt unzählige ähnliche Beispiele. Vor einigen Jahren gaben die Zeitungen die Geschichte von zwei kleinen ertrunkenen Mädchen wieder, die aus der Seine gezogen wurden. Diese Kinder wurden zuerst in bestimmter Weise von einem Dutzend Zeugen erkannt. Vor so übereinstimmenden Aussagen schwand auch der leiseste Zweifel des Untersuchungsrichters, er ließ den Totenschein ausfertigen. In dem Augenblick aber, da man sich zur Beerdigung anschickte, entdeckte man durch Zufall, dass die mit den Opfern Identifizierten noch völlig lebendig waren und kaum eine entfernte Ähnlichkeit mit den ertrunkenen Kleinen besaßen. Wie in mehreren der früher angeführten Beispiele hatte die Behauptung des ersten Zeugen, der das Opfer einer Täuschung war, zur Beeinflussung aller anderen genügt.
In solchen Fällen ist der Ausgangspunkt für die Beeinflussung stets die Täuschung, die durch mehr oder weniger unbestimmte Erinnerungen in einem Einzelnen erzeugt wird, außerdem die Übertragung durch Mitteilung dieses ersten Irrtums. Ist der erste Beobachter leicht erregbar, so genügt es oft, dass der Leichnam, den er zu erkennen glaubt, abgesehen von aller wirklichen Ähnlichkeit, eine Besonderheit, etwa eine Narbe oder ein Bekleidungsmerkmal aufzuweisen hat, wodurch bei ihm die Vorstellung einer anderen Person ausgelöst werden kann. Die eingebildete Vorstellung kann dann zum Kern einer Art Kristallisation werden, welche den Bereich des Verstandes ergreift und allen kritischen Geist lähmt. Der Beobachter sieht dann nicht mehr die Sache selbst, sondern das Bild, das in seiner Seele aufgetaucht ist. Auf diese Weise erklärt sich das vermeintliche wieder Erkennen von Kinderleichen durch die Mütter, wie in dem folgenden, schon alten Fall, an dem sich die beiden Arten von Beeinflussung, deren Ablauf ich erklärt habe, deutlich offenbaren.
Das Kind wurde von einem anderen Kinde erkannt – das sich irrte. Die Reihe des unrichtigen wieder Erkennens lief nun ab.
Und nun geschah etwas sehr Merkwürdiges. An dem Tage, nachdem die Leiche durch einen Schüler wieder erkannt worden war, schrie eine Frau auf: »Ach, mein Gott, das ist mein Kind!« Man führte sie zur Leiche, sie untersucht die Kleider und stellt eine Narbe an der Stirn fest. »Gewiss«, sagte sie, »es ist mein armer Junge, der seit Ende Juli vermisst wird. Man wird ihn mir entführt und getötet haben.« Die Frau war Hausmeisterin in der Rue de Four und hieß Chavandret. Man ließ ihren Schwager kommen und dieser sagte ohne Zögern: »Das ist der kleine Philibert.« Mehrere Bewohner der Straße, ganz abgesehen von seinem Lehrer, für den die Schulmedaille ausschlaggebend war, erkannten in dem Kinde von la Villette Philibert Chavandret.
Nun: Nachbarn, Schwager, Lehrer und Mutter hatten sich geirrt. Sechs Wochen später war die Identität des Kindes festgestellt. Es war ein Knabe aus Bordeaux, der dort getötet und mit der Post nach Paris gebracht worden war5.
Wir können wieder feststellen, dass dies Erkennen meistens bei Frauen und Kindern, also gerade bei den erregbarsten Wesen vorkommt. Es zeigt gleichzeitig, wie wenig Wert solche Zeugnisse vor Gericht haben können. Besonders Kinderaussagen sollten nie herangezogen werden. Die Richter wiederholen immer, man lüge in diesem Alter nicht; das ist ein Gemeinplatz. Besäßen sie eine etwas tiefere psychologische Bildung, so wüssten sie: Ganz im Gegenteil, in diesem Alter lügt man stets. Gewiss ist die Lüge harmlos, sie bleibt aber dennoch eine Lüge. Besser würde die Verurteilung eines Angeklagten nach dem Spiel »Kopf oder Schrift« erfolgen, als, wie so oft geschehen, nach dem Zeugnis eines Kindes.
Um aber auf die Beobachtungen zurückzukommen, die von den Massen gemacht werden, so können wir daraus schließen, dass die Kollektivbeobachtungen die Verfehltesten von allen sind, und dass sie meistens nur die einfache Täuschung eines Einzelnen sind, die durch Übertragung alle anderen beeinflusst hat. Unzählige Fälle beweisen, dass man gegen die Zeugenschaft der Masse das größte Misstrauen hegen muss. Tausende von Menschen erlebten den berühmten Reiterangriff der Schlacht bei Sedan, und doch ist es unmöglich, aus den widersprechenden Berichten von Augenzeugen festzustellen, von wem er kommandiert wurde. Der englische General Wolseley hat in einem neuen Buch den Beweis erbracht, dass man bis jetzt über die wichtigsten Ereignisse der Schlacht bei Waterloo, obwohl Hunderte von Zeugen sie beglaubigt hatten, in größtem Irrtum befangen war6.
All diese Beispiele zeigen, ich wiederhole es, wie wenig Wert die Zeugenschaft der Massen hat. Die Lehrbücher der Logik zählen die Übereinstimmung zahlreicher Zeugen zur Klasse der sichersten Beweise, die man zur Erhärtung einer Tatsache erbringen kann. Aber was wir von der Psychologie der Massen wissen, zeigt, wie sehr sie sich in diesem Punkte täuschen. Die Ereignisse, die von der größten Anzahl von Personen beobachtet wurden, sind sicher am zweifelhaftesten. Zu erklären, eine Tatsache sei von Tausenden von Zeugen gleichzeitig festgestellt worden, heißt erklären, dass das wirkliche Ereignis von dem angenommenen Bericht im Allgemeinen erheblich abweicht.
Aus dem Vorstehenden folgt klar, dass die Geschichtswerke als reine Fantasiegebilde zu betrachten sind. Es sind Fantasieberichte schlecht beobachteter Ereignisse nebst nachträglich ersonnenen Erklärungen. Hätte uns die Vergangenheit nicht ihre Literaturdenkmäler, ihre Kunst- und Bauwerke hinterlassen, so wüssten wir nicht die geringste Tatsache von ihr. Kennen wir ein einziges wahres Wort über das Leben der großen Männer, die in der Menschheit eine hervorragende Rolle spielten? Höchstwahrscheinlich nicht. Imgrunde hat übrigens ihr tatsächliches Leben recht wenig Interesse für uns. Die legendären Helden, nicht die wirklichen Helden haben Eindruck auf die Massen gemacht. Leider sind die Legenden selbst nicht von Dauer. Die Fantasie der Massen formt sie je nach den Zeiten und den Rassen um. Vom grausamen Jehova der Bibel bis zum Gott der Liebe der heiligen Therese ist ein großer Schritt, und der in China verehrte Buddha hat mit dem in Indien angebeteten keinen Zug gemein.
Es bedarf nicht des Ablaufs von Jahrhunderten, damit sich die Heldenlegende in der Fantasie der Massen wandelt; diese Wandlung erfolgt oft innerhalb weniger Jahre. Wir haben in unseren Tagen erlebt, wie sich die Legende eines der größten Helden der Geschichte in weniger als 50 Jahren wiederholt verändert hat. Unter den Bourbonen wurde Napoleon zu einer idyllischen, menschenfreundlichen und freisinnigen Persönlichkeit, einem Freunde der Armen, die, wie der Dichter sagt, sein Andenken in ihrer Hütte für lange Zeit bewahren würden. 30 Jahre später war der gutmütige Held zu einem grausamen Despoten geworden, zu einem Usurpator von Macht und Freiheit, der 3.000.000 Menschen nur zur Befriedigung seines Ehrgeizes geopfert hatte. Gerade jetzt wandelt sich die Legende wieder. Wenn einige Dutzend Jahrhunderte darüber hingegangen sind, werden die zukünftigen Forscher angesichts dieser widersprechenden Berichte vielleicht das Dasein des Helden bezweifeln, wie wir bisweilen das Dasein Buddhas bezweifeln, und werden dann in ihm nur einen Sonnenmythus oder eine Fortentwicklung der Herkulessage erblicken. Zweifellos werden sie sich über diese Ungewissheit leicht trösten, denn da sie eine bessere psychologische Erkenntnis haben werden als wir heutzutage, so werden sie wissen, dass die Geschichte nur Mythen zu verewigen vermag.
III. Überschwang (exagération) und Einseitigkeit (simplisme) der Massengefühle
Alle Gefühle, gute und schlechte, die eine Masse äußert, haben zwei Eigentümlichkeiten; sie sind sehr einfach und sehr überschwänglich. Wie in so vielen anderen, nähert sich auch in dieser Beziehung der Einzelne, der einer Masse angehört, den primitiven Wesen. Gefühlsabstufungen nicht zugänglich, sieht er die Dinge grob und kennt keine Übergänge. Der Überschwang der Gefühle in der Masse wird noch dadurch verstärkt, dass er sich durch Suggestion und Übertragung sehr rasch ausbreitet und dass Anerkennung, die er erfährt, seinen Spannungsgrad erheblich steigert.
Die Einseitigkeit und Überschwänglichkeit der Gefühle der Massen bewahren sie vor Zweifel und Ungewissheit. Den Frauen gleich gehen sie sofort bis zum Äußersten. Ein ausgesprochener Verdacht wird sogleich zu unumstößlicher Gewissheit. Ein Keim von Abneigung und Missbilligung, den der Einzelne kaum beachten würde, wächst beim Einzelwesen der Masse sofort zu wildem Hass.
Die Heftigkeit der Gefühle der Massen wird besonders bei den ungleichartigen Massen durch das Fehlen jeder Verantwortlichkeit noch gesteigert. Die Gewissheit der Straflosigkeit, die mit der Größe der Menge zunimmt, und das Bewusstsein einer bedeutenden augenblicklichen Gewalt, bedingt durch die Masse, ermöglichen der Gesamtheit Gefühle und Handlungen, die dem Einzelnen unmöglich sind. In den Massen verlieren die Dummen, Ungebildeten und Neidischen das Gefühl ihrer Nichtigkeit und Ohnmacht; an seine Stelle tritt das Bewusstsein einer rohen, zwar vergänglichen, aber ungeheuren Kraft.
Unglücklicherweise ruft der Überschwang schlechter Gefühle bei den Massen den vererbten Rest der Instinkte des Urmenschen herauf, die beim alleinstehenden und verantwortlichen Einzelnen durch die Furcht vor Strafe gezügelt werden. So erklärt sich die Neigung der Massen zu schlimmen Ausschreitungen.
Wenn die Massen geschickt beeinflusst werden, können sie heldenhaft und opferwillig sein. Sie sind es sogar in viel höherem Maße als der Einzelne. Wir werden beim Studium der Massenmoral bald Gelegenheit haben, auf diesen Punkt zurückzukommen.
Da die Masse nur durch übermäßige Empfindungen erregt wird, muss der Redner, der sie hinreißen will, starke Ausdrücke gebrauchen. Zu den gewöhnlichen Beweismitteln der Redner in Volksversammlungen gehört Schreien, Beteuern, Wiederholen, und niemals darf er den Versuch machen einen Beweis zu erbringen.
Die gleiche Übertreibung der Gefühle verlangt die Masse von ihren Helden. Ihre Eigenschaften und hervorragenden Tugenden müssen stets vergrößert werden. Im Theater fordert die Masse von dem Helden des Dramas Tugenden, einen Mut und eine Moral, wie sie im Leben niemals vorkommen.
Man spricht mit Recht von der besonderen Optik des Theaters. Zweifellos ist sie vorhanden, aber ihre Gesetze haben nichts mit dem gesunden Menschenverstand und der Logik zu tun. Die Kunst zur Masse zu sprechen, ist von untergeordnetem Rang, erfordert jedoch ganz besondere Fähigkeiten. Beim Lesen gewisser Stücke kann man sich ihren Erfolg oft nicht erklären. Im Allgemeinen sind die Theaterdirektoren selbst über den Erfolg sehr im Ungewissen, wenn ihnen die Stücke eingereicht werden, denn um urteilen zu können, müssten sie sich in eine Masse verwandeln7. Wenn wir uns mit Einzelheiten befassen könnten, wäre es leicht, auch noch den bedeutenden Einfluss der Rasse aufzuzeigen. Das Drama, das in dem einen Lande die Masse begeistert, hat oft in einem anderen keinen oder nur einen durchschnittlichen Achtungserfolg, weil es nicht die Kräfte spielen lässt, die das neue Publikum bewegen könnten.
Ich brauche nicht besonders zu betonen, dass der Überschwang der Massen sich nur auf die Gefühle und in keiner Weise auf den Verstand erstreckt. Die Tatsache der bloßen Zugehörigkeit des Einzelnen zur Masse bewirkt, wie ich bereits zeigte, eine beträchtliche Senkung der Voraussetzungen seines Verstandes. In seinen Untersuchungen über die Massenverbrechen hat Tarde das gleichfalls festgestellt.
IV. Unduldsamkeit, Herrschsucht (autoritarisme) und Konservatismus der Massen
Die Massen kennen nur einfache und übertriebene Gefühle. Meinungen, Ideen, Glaubenssätze, die man ihnen einflößt, werden daher nur in Bausch und Bogen von ihnen angenommen oder verworfen und als unbedingte Wahrheiten oder ebenso unbedingte Irrtümer betrachtet. So geht es stets mit Überzeugungen, die auf dem Wege der Beeinflussung, nicht durch Nachdenken erworben wurden. Jedermann weiß, wie unduldsam die religiösen Glaubenssätze sind und welche Gewaltherrschaft sie über die Seelen ausüben.
Da die Masse in das, was sie für Wahrheit oder Irrtum hält, keinen Zweifel setzt, andererseits ein klares Bewusstsein ihrer Kraft besitzt, so ist sie ebenso eigenmächtig wie unduldsam. Der Einzelne kann Widerspruch und Auseinandersetzung anerkennen, die Masse duldet sie niemals. In den öffentlichen Versammlungen wird der leiseste Widerspruch eines Redners sofort mit Wutgeschrei und groben Schmähungen beantwortet, und wenn der Redner beharrlich ist, folgen leicht Tätlichkeiten, und der Redner wird hinausgeworfen. Ohne die einschüchternde Anwesenheit der Sicherheitsbehörde würde man oft den Gegner lynchen.
Herrschsucht und Unduldsamkeit finden sich bei allen Arten der Massen, aber in ganz verschiedenen Graden, und hier kommt wieder der Grundbegriff der Rasse zur Geltung, die alles Fühlen und Denken der Menschen beherrscht. Herrschsucht und Unduldsamkeit sind besonders bei den lateinischen Massen ausgebildet, und zwar in solchem Maße, dass es ihnen fast gelungen ist, das Gefühl der persönlichen Unabhängigkeit, das bei den Angelsachsen so mächtig ist, bei ihnen völlig zu vernichten. Die lateinischen Massen haben nur Gefühl für die Gesamt-Unabhängigkeit ihrer Sekte, und bezeichnend für diese Unabhängigkeit ist das Bedürfnis, alle Andersgläubigen sofort und gewaltsam für ihren eigenen Glauben zu gewinnen. Von der Inquisition angefangen, konnten sich bei den lateinischen Völkern die Jakobiner aller Zeiten niemals zu einem anderen Freiheitsbegriff aufschwingen.
Herrschsucht und Unduldsamkeit sind für die Massen sehr klare Gefühle, die sie ebenso leicht ertragen, wie sie sie in die Tat umsetzen. Die Massen erkennen die Macht an und werden durch Güte, die sie leicht für eine Art Schwäche halten, nur mäßig beeinflusst. Niemals galten ihre Sympathien den gütigen Herren, sondern den Tyrannen, von denen sie kraftvoll beherrscht wurden. Ihnen haben sie stets die größten Denkmäler errichtet. Wenn sie den gestürzten Despoten gern mit Füßen treten, so geschieht das, weil er seine Macht eingebüßt hat und in die Reihe der Schwachen eingereiht wird, die man verachtet und nicht fürchtet. Das Urbild des Massenhelden wird stets Cäsarencharakter zeigen. Sein Helmbusch verführt sie, seine Macht flößt ihnen Achtung ein, und sein Schwert fürchten sie.
Stets bereit zur Auflehnung gegen die schwache Obrigkeit, beugt sich die Masse knechtisch vor einer starken Herrschaft. Ist die Haltung der Obrigkeit schwankend, so wendet sich die Masse, die stets ihren äußersten Gefühlen folgt, abwechselnd von der Anarchie zur Sklaverei, von der Sklaverei zur Anarchie.
Übrigens würde man die Psychologie der Massen ganz missverstehen, wenn man an die Vorherrschaft ihrer revolutionären Triebe glaubte. Nur ihre Gewalttaten täuschen uns über diesen Punkt. Die Ausbrüche der Empörung und Zerstörung sind immer nur von kurzer Dauer. Die Massen werden zu sehr vom Unbewussten geleitet und sind also dem Einfluss uralter Vererbung zu sehr unterworfen, als dass sie nicht äußerst beharrend sein müssten. Wenn sie sich selbst überlassen werden, erlebt man bald, dass sie, ihrer Zügellosigkeit überdrüssig, instinktiv die Knechtschaft zusteuern. Die kühnsten und schroffsten Jakobiner stimmten Bonaparte entschieden zu, als er alle Freiheiten aufhob und seine eiserne Hand schwer fühlen ließ.
Die Geschichte der Völkerrevolutionen ist fast unverständlich, wenn man die von Grund aus beharrenden Triebkräfte der Massen verkennt. Sie wünschen zwar die Namen ihrer Einrichtungen zu wechseln, und um diesenWechsel zu vollziehen, machen sie zuweilen sogar große Revolutionen durch, aber der Kern dieser Einrichtungen ist zu sehr Ausdruck der erblichen Bedürfnisse der Rasse, als dass sie nicht immer wiederkehren müssten. Die unaufhörliche Veränderlichkeit der Massen erstreckt sich nur auf ganz äußerliche Dinge. In Wahrheit haben sie nicht weiter erklärbare Beharrungsinstinkte, und wie alle Primitiven eine fetischistische Ehrfurcht vor den Überlieferungen, einen unbewussten Abscheu vor allen Neuerungen, die ihre realen Lebensbedingungen ändern könnten. Hätte die Demokratie in der Zeit der Erfindung der mechanischen Webstühle, der Dampfmaschine, der Eisenbahnen, die Macht besessen, über die sie heute verfügt, so wäre die Verwirklichung dieser Erfindungen unmöglich gewesen. Es ist ein Glück für den Fortschritt der Kultur, dass die Übermacht der Massen erst dann geboren wurde, als die großen Entdeckungen der Wissenschaft und der Industrie vollendet waren.
V. Sittlichkeit der Massen
Wenn wir mit dem Begriff Sittlichkeit den Sinn für die Achtung vor gewissen sozialen Gebräuchen und die beständige Unterdrückung eigennütziger Antriebe verbinden, dann liegt es auf der Hand, dass die Massen zu triebhaft und veränderlich sind, um für Sittlichkeit empfänglich zu sein. Wenn wir aber unter dem Begriff der Sittlichkeit das augenblickliche Auftreten gewisser Eigenschaften, wie Entsagung, Ergebenheit, Uneigennützigkeit, Selbstaufopferung, Rechtsgefühl verstehen, so können wir sagen: Die Massen sind oft eines sehr hohen Maßes von Sittlichkeit fähig.
Die wenigen Psychologen, die sich mit dem Studium der Massen befasst haben, taten es nur in Bezug auf ihre verbrecherischen Handlungen. Und in Anbetracht der Häufigkeit solcher Taten haben sie die Massen als sittlich sehr tiefstehend beurteilt.
Gewiss erbringen sie oft den Beweis dafür: Aber wie kommt das? Nur weil die Triebe zerstörerischer Wildheit Überreste aus der Urzeit sind, die in jedem von uns schlummern. Für den Einzelnen wäre es zu gefährlich, diese Triebe zu befriedigen, während ihm sein Untertauchen in einer unverantwortlichen Masse, durch die ihm Straflosigkeit gesichert ist, völlige Freiheit der Triebbefriedigung gewährt. Da wir diese Zerstörungstriebe gewöhnlich nicht an unseren Mitmenschen ausüben können, so beschränken wir uns darauf, sie an Tieren auszulassen. Derselben Quelle entspringen die Jagdleidenschaft und die Grausamkeit der Massen. Die Masse, die ein wehrloses Opfer langsam zu Tode quält, gibt den Beweis feiger Grausamkeit; für den Philosophen aber ist sie in hohem Maße mit der Grausamkeit der Jäger verwandt, die dutzendweise zusammenkommen, um mit Vergnügen zu sehen, dass ihre Hunde einem unglücklichen Hirsch den Bauch aufreißen.
Wenn nun die Masse imstande ist, Mordtaten, Brandstiftungen und Verbrechen aller Art zu begehen, so ist sie ebenso zu Taten der Hingabe, Aufopferung und Uneigennützigkeit fähig, sogar in höherem Maße als der Einzelne. Besonders wirkt man auf den Einzelnen in der Masse, wenn man sich auf die Gefühle für Ruhm und Ehre, Religion und Vaterland beruft. Die Geschichte ist voller Beispiele dieser Art, wie sie die Kreuzzüge bieten und die Freiwilligen von 1793. Nur die Gesamtheiten sind großer Uneigennützigkeit und Aufopferung fähig. Wie viele Massen haben sich für Überzeugungen und Ideen, die sie kaum verstanden, heldenhaft hinschlachten lassen! Massen, die in Streik treten, streiken oft wohl mehr, um einem Kampfruf zu folgen, als um einen Lohnzuschlag zu erlangen. Das persönliche Interesse ist bei den Massen selten eine mächtige Triebkraft, während es bei dem Einzelnen fast den ausschließlichen Antrieb bildet. Es ist wahrlich nicht der Eigennutz, der die Massen in so viele Kriege führte, die für ihren Verstand unbegreiflich waren, und in denen sie sich so leicht niedermetzeln ließen, wie die Lerchen, die durch den Spiegel des Jägers hypnotisiert werden.
Selbst die ausgemachtesten Schufte nehmen oft allein durch die Tatsache der Vereinigung in einer Masse sehr strenge moralische Grundsätze an. Taine zeigt, dass die Menschenschlächter der Septembertage (1792) die bei ihren Opfern vorgefundenen Brieftaschen und Schmuckstücke, die sie leicht an sich nehmen konnten, auf den Tisch der Ausschüsse niederlegten. Die heulende, wimmelnde, elende Volksmasse, die in der Revolution vom Jahre 1848 in die Tuilerien eindrang, nahm nichts von den Gegenständen, die sie blendeten und von denen ein jeder Brot für viele Tage bedeutet hätte.
Diese Versittlichung des Einzelnen durch die Masse ist gewiss keine feste Regel, aber sie ist häufig zu beobachten, und selbst unter viel weniger ernsten Umständen als den von mir angeführten. Wie ich bereits sagte, verlangt die Masse im Theater von dem Helden des Dramas übertrieben hohe Tugenden, und selbst eine Zuhörerschaft, die aus niedrigen Elementen zusammengesetzt ist, erweist sich oftmals als sehr prüde. Der berufsmäßige Lebemann, der Zuhälter, der Bummler und Sportvogel murrt oft bei einer etwas gewagten Szene oder einer schlüpfrigen Rede, die doch im Vergleich zu ihren übrigen Unterhaltungen recht harmlos ist.
Frönen die Massen also oft niedrigen Instinkten, so bieten sie manchmal auch wieder Beispiele hochsittlicher Handlungsweise. Wenn Uneigennützigkeit, Entsagung, bedingungslose Hingabe an ein eingebildetes oder wirkliches Ideal sittliche Tugenden sind, dann kann man sagen, dass die Massen diese Tugenden oft in einem so hohen Grade besitzen, wie ihn die weisesten Philosophen selten erreicht haben. Gewiss üben sie diese Tugenden unbewusst aus, aber darauf kommt es nicht an. Hätten die Massen zuweilen nachgedacht und ihren eigenen Vorteil wahrgenommen, dann hätte sich vielleicht keine Kultur auf der Oberfläche unseres Planeten entfaltet, und die Menschheit wäre ohne Geschichte geblieben.