Читать книгу Küssen auf eigene Gefahr - Susan Andersen - Страница 8
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ОглавлениеDieser Fall war erst ein paar Stunden alt und schon jetzt eine einzige Katastrophe. Mom, es ist wirklich schade, dass du nicht mehr unter uns weilst, dachte Sam grimmig, während er sich nach Kräften bemühte, seine mürrische Beifahrerin zu ignorieren und sich stattdessen auf den dichten Verkehr in der Innenstadt zu konzentrieren. Du hättest dich wirklich wunderbar unterhalten.
Die Situation enthielt nicht nur Elemente, die fester Bestandteil der Handlung von Lenore McKades Lieblingsserien waren, sie passte auch hervorragend zu ihrer pessimistischen Alltagstheorie, die da lautete: »Seiner Herkunft entkommt man nicht«.
Es war nicht so, dass sie ihm oder sonst irgendjemandem etwas Böses gewünscht hätte. Sie hatte nur einfach nicht geglaubt, dass Menschen etwas an ihrem Schicksal ändern konnten. Sie hatte sich abgeschuftet, und es hatte ihr nichts gebracht als viel Arbeit für wenig Geld, einen letzten Lohnstreifen ohne Anspruch auf Altersversorgung und den Gang zum Sozialamt. Mit anderen Worten, sie endete genau da, wo sie angefangen hatte. Also hatte sie für andere Leute gebügelt, ferngesehen und Sam erklärt, er müsse sich mit der Tatsache abfinden, dass auch er dort enden würde, wo er angefangen hatte. Der Junge mochte die Sozialwohnungsbauten verlassen, aber früher oder später würde ihm das Leben einen Fußtritt verpassen, und er wäre wieder ganz unten.
Sam hatte das anders gesehen. Er war zur Armee gegangen und Militärpolizist geworden, und mehr als zwölf Jahre lang hatte er die Prophezeiungen seiner Mutter Lügen gestraft. In einem Umfeld, in dem Gesetz und Ordnung herrschten, hatte er es zu etwas gebracht. Aber dann hatte sein Partner Gary Proscelli eine Kugel abbekommen, die für Sam bestimmt gewesen war, und war seither querschnittgelähmt..
Und Sam hatte sich gefragt, ob seine Mutter letzten Endes nicht doch Recht gehabt hatte. Man musste sich nur ansehen, was er jetzt tat.
Aber aufgeben, den Schwanz einziehen und den Dingen ihren Lauf lassen? Niemals! Er hatte den Dienst quittiert, als er erfahren hatte, dass er auf den Militärstützpunkt in Oakland versetzt werden sollte. Wer zum Teufel hätte sich denn um Gary kümmern sollen, wenn sie ihn ans andere Ende des Kontinents schickten? Wenn man aus der Armee ausschied, war das von Bergen von Papierkram begleitet, und wenn man einen Anspruch auf Invalidenrente durchsetzen wollte, musste man noch größere Berge bewältigen. Ganz zu schweigen davon, dass sein Freund jemanden brauchte, der ihm dabei half, sich in dem neuen Leben zurechtzufinden.
Gott, die Schuldgefühle, die Sam überkamen, wenn er Gary dabei zusah, wie er sein Leben wieder in den Griff zu bekommen versuchte, hatten ihn beinahe aufgefressen, und er hatte gewusst, dass er etwas unternehmen musste. Nachdem er mit Gary in eine kleine, ebenerdige Wohnung in Miami gezogen war, hatte er nach einer Möglichkeit gesucht, den Traum zu verwirklichen, den sie beide seit vielen Jahren hegten.
Sie hatten immer davon geredet, ihre fünfundzwanzig Jahre bei der Armee abzureißen und dann ihren Abschied zu nehmen und sich eine Fischerhütte zu kaufen. Von vornherein schien das ein Ziel zu sein, das in ferner, kaum vorstellbarer Zukunft lag. Als dieser Plan jedoch von derselben Kugel zunichte gemacht wurde, die Gary an den Rollstuhl fesselte, hatte Sam einen Weg finden müssen, schnell zu Geld zu kommen.
Die Aussichten für einen ehemaligen Berufssoldaten, der zwar einen High-School-Abschluss, aber kein abgeschlossenes College-Studium vorweisen konnte, waren nicht allzu rosig. Etwas Illegales kam nicht in Frage, und der Dienst im Namen des Gesetzes brachte nicht genug ein, jedenfalls nicht, wenn er ihren Plan noch irgendwann in diesem Leben in die Tat umsetzen wollte. In gewisser Weise war das bedauerlich, weil er gern Polizist gewesen wäre – zumindest war er gern bei der Militärpolizei gewesen. Aber hier ging es nicht um ihn. Es ging darum, etwas zu unternehmen, damit Garys Zukunft gesichert war. Die Arbeit als Kopfgeldjäger schien die beste Möglichkeit zu sein, schnell Geld zu verdienen. Was spielte es da schon für eine Rolle, dass Sam nicht die geringste Neigung dazu verspürte und diesen Job umso mehr hasste, je länger er ihn machte.
Er hatte es bis oben hin satt, sich tagtäglich mit dem kriminellen Teil der Einwohnerschaft von Miami auseinander setzen zu müssen. Nach eineinhalb Jahren winkte jedoch auf einmal der Lohn für seine Mühen, da wenige Wochen zuvor die Fischerhütte, von der Gary und er träumten, zum Verkauf angeboten worden war. Und zwar genau dort, wo sie ihre beste Zeit verlebt hatten, an einem abgeschiedenen Ort in North Carolina, an dem sie mehrere Jahre hintereinander ihren Urlaub verbracht hatten. Es war das Paradies auf Erden, und sie hätten nie damit gerechnet, dass es jemals zum Verkauf stehen würde.
Sam würde dafür sorgen, dass es bald ihnen gehörte. Die Anzahlung war höher, als er erwartet hatte, aber er hatte dreißig Tage Zeit, um die erforderliche Summe aufzutreiben, bevor ihre Option auslief und die Hütte an einen anderen ging.
Er warf einen Blick auf seine Gefangene, die gelangweilt aus dem Seitenfenster sah und den Verkehr beobachtete. Im Gegensatz zu den schrägen Vögeln, die er sonst einfangen musste, war sie wenigstens nicht als gewalttätig bekannt. Es hatte ihn überrascht, wie hoch ihre Kaution war. Vermutlich hatte sie das Pech gehabt, an einen Richter zu geraten, der eine Abneigung gegen die von ihr praktizierte Form von Abendunterhaltung hatte. Aber das war nicht sein Problem. Im Gegenteil, für ihn war es sogar umso besser, je höher ihre Kaution war, weil er zehn Prozent davon als Prämie kassierte, wenn er sie ablieferte.
Zuerst musste er den Rotschopf allerdings nach Miami zurückschaffen, ohne dass ihm ein weiteres Missgeschick wie das von heute Morgen widerfuhr. Sam griff nach der Straßenkarte und faltete sie auseinander.
Catherine hörte ihn vor sich hin murmeln und sah ihn verstohlen von der Seite an. Jedes Mal, wenn sie an einer roten Ampel halten mussten, was alle paar Minuten der Fall zu sein schien, beugte er den Kopf über die Karte auf der Mittelkonsole und fluchte leise vor sich hin. Sie ertappte sich dabei, dass sie auf seine große Hand starrte, mit der er die ausgebreitete Karte festhielt. Seine Finger waren lang und sahen kräftig aus, und sie beeilte sich, ihren Blick abzuwenden und wieder aus dem Fenster zu sehen, als sie feststellte, dass der Anblick der roten Kratzspuren auf Sams Handrücken sie mit tiefer Befriedigung erfüllte. Du lieber Gott. Sie hätte nie gedacht, dass sie einmal den Tag erleben würde, an dem sie sich darüber freute, jemandem irgendwelche Verletzungen zugefügt zu haben.
Die Straßen, durch die sie fuhren, wurden von den hoch aufragenden Gebäuden auf beiden Seiten in ein unnatürliches Dämmerlicht getaucht, und zum ersten Mal nahm sie bewusst etwas von der Umgebung wahr, die an ihr vorbeizog. Sie war zu aufgeregt gewesen, um darauf zu achten, als sie die Schnellstraße verlassen hatten, und musste jetzt feststellen, dass sie durch das Zentrum von Seattle fuhren.
Warum das denn? Der SeaTec Airport lag gute fünfzehn Kilometer weiter im Süden.
Ein paar Häuserblocks weiter gab Sam ein tiefes, zufriedenes Knurren von sich und bog auf den Parkplatz einer Autovermietung ein. Kurze Zeit später hatte er den Wagen abgestellt und stand mit Catherine, Kaylees Gepäck und seiner eigenen Reisetasche vor dem Schalter in dem winzigen Verschlag, der als Büro diente. Während er mit dem Angestellten die Formalitäten zur Rückgabe des Wagens erledigte, versuchte Catherine sich behutsam aus dem harten Griff zu befreien, mit dem er ihr Handgelenk umklammerte. Sofort hielt Sam mit dem inne, was er gerade tat, und richtete einen dieser stechenden Blicke aus seinen goldbraunen Augen auf sie, dabei machte er eine leichte Drehung, um mit seiner breiten Schulter dem Mann hinter dem Schalter die Sicht zu versperren.
»Wir können diese Sache auf zwei Arten hinter uns bringen«, sagte er mit gesenkter Stimme. »Wir können es auf die angenehme und freundliche Tour machen. Ich kann Ihnen aber auch Handschellen anlegen und Sie in aller Öffentlichkeit wegschleppen, da können Sie schreien und um sich treten, so viel Sie wollen. Ehrlich gesagt, Red, ist es mir scheißegal, wie lächerlich Sie sich dabei machen, es liegt also ganz bei Ihnen.«
Catherine überließ ihren Arm seinem Griff, ohne weiteren Widerstand zu leisten. Obwohl sie innerlich vor Wut kochte, folgte sie ihm gehorsam, als er eine Minute später das Büro der Autovermietung verließ und die Straße entlangging. Sie bemerkte, dass er beim Gehen leicht auf dem rechten Bein hinkte, und gratulierte sich im Stillen, weil sie es wenigstens geschafft hatte, dass dieser Job kein Sonntagsspaziergang für ihn war. Ihm zu einer Prellung am Schienbein und ein paar Kratzern an der Hand zu verhelfen hatte ihre Situation allerdings auch nicht wirklich verbessert. Er schleifte sie nichtsdestoweniger hinter sich her in Richtung... ja, wohin eigentlich?
Einen Block weiter hielten sie an der Ecke achte Straße und Stewart vor einem mit braunen Marmorplatten verkleideten Gebäude an. Als Sam einen Schritt nach vorne tat, um die Tür zu öffnen und hineinzugehen, blieb Catherine wie angewurzelt stehen und starrte auf das blau-weiße Schild über ihrem Kopf. »Greyhound?«, fragte sie fassungslos. »Wir fahren mit dem Bus nach Miami?«
Zu Catherines Überraschung erschien eine leichte Röte auf Sams Hals und zog sich über sein kantiges Kinn bis zu den glatt rasierten Wangen. Er wich ihrem Blick aus und sah stattdessen an ihrem linken Ohr vorbei auf irgendeinen in der Ferne liegenden Punkt. Durch sein offensichtliches Unbehagen gewann sie etwas zurück, das sie seit dem Moment, als er in ihr Leben geplatzt war, verloren hatte: einen Hauch von Macht. Sie sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Was soll das eigentlich, McKade? Kriegen große, böse Kopfgeldjäger wie Sie etwa keine Reisespesen?«
Für einen kurzen Augenblick wurde sein Griff um ihr Handgelenk noch fester, aber dann knurrte er nur: »Wirklich witzig, Red, ich lach mich gleich tot«, bevor er sie hinter sich her zum Fahrkartenschalter zog. Fünfzehn Minuten später verstaute er ihre Fahrkarten in der Brusttasche seines Hemdes und führte sie zu einer Plastikbank, die vor dem Raum mit den Spielautomaten am Boden festgeschraubt war. Er stellte ihr Gepäck davor ab. »Setzen Sie sich.«
»Wie könnte ich wohl einer solch charmanten Einladung widerstehen?« Sie suchte sich die sauberste Stelle aus und ließ sich darauf nieder.
Er schob das Gepäck mit dem Fuß näher an sie heran und setzte sich breitbeinig neben sie. Das weiße Hemd spannte sich über seinen Schultern, als er sich vorbeugte, die Ellbogen auf die Oberschenkel stützte und mit zwischen den Knien baumelnden Händen auf die quadratischen orangefarbenen Fliesen zu seinen Füßen starrte. Sein linker Oberschenkel ragte so weit zu Catherine hinüber, dass er sie beinahe berührte.
Sie saß stocksteif da und drückte ihre zusammengepressten Knie demonstrativ zur Seite, um dem muskulösen Bein, das da in ihren Bereich eindrang, nicht zu nahe zu kommen. Ihr war klar, dass sie wie eine prüde alte Jungfer aussah, aber das war ihr egal. Was sollte sie sonst tun, um den Ansturm von Gefühlen unter Kontrolle zu halten? Sie lauschte dem Pfeifen und Piepsen, das aus dem Raum mit den Videospielen drang, und blickte ins Leere.
Sam beobachtete sie aus dem Augenwinkel, und sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich. Sie hatte etwas an sich, das ihm das Gefühl gab, ein ungehobelter Klotz zu sein. So wie sie da saß, wirkte sie wie eine Königin inmitten des gemeinen Volks, und es war nur schwer zu glauben, dass sie ihren Lebensunterhalt damit verdiente, sich mit ein paar Stofffetzen bekleidet zur Schau zu stellen. Was für eine begnadete Schauspielerin! Er spielte mit dem Gedanken, sein linkes Bein noch ein bisschen weiter in ihre Richtung zu schieben, nur um zu sehen, was sie dann tun würde.
Aber das war vermutlich keine gute Idee. Verdammt. Wie stellte sie das bloß an, dass er ständig in Versuchung war, den Grund seines Hierseins zu vergessen?
Er beugte sich vor und hob die Reisetasche auf seinen Schoß. Dann öffnete er den Reißverschluss und begann Sachen herauszuziehen, um sich einen Überblick über den Inhalt zu verschaffen, und seine Laune besserte sich schlagartig. Die Dinge standen bei weitem nicht so schlecht, wie er befürchtet hatte.
»Was machen Sie denn da?«
Er blickte auf und stellte fest, dass sie sich umgedreht hatte und ihm zusah. Sie starrte auf den Stapel Jeans, T-Shirts und Unterwäsche, den er auf seinem Schoß aufgetürmt hatte und auf dem ganz oben sein Rasierzeug thronte.
»Ich sehe nach, was in der Tasche ist.«
»Warum, hat Ihre Frau sie für Sie gepackt, oder was?«
Sam ließ ein kurzes, unfrohes Lachen hören. »Lady, sehe ich vielleicht wie ein glücklich und zufrieden verheirateter Mann aus?«
Ihre großen grünen Augen blieben völlig ausdruckslos, als sie seinen Blick erwiderte. »Ich glaube nicht, dass Sie wirklich wissen wollen, wie Sie meiner Meinung nach aussehen, McKade. Aber sie wirken zumindest intelligent genug, um sich daran erinnern zu können, was Sie gestern Abend oder heute Morgen in Ihre Tasche gepackt haben.«
Aus irgendeinem Grund entlockte ihm diese Unverschämtheit ein Lächeln. Eins musste er ihr lassen, sie war nicht auf den Mund gefallen. »Die Tasche hat im Kofferraum meines Autos gelegen seit... ich weiß nicht, wie lange«, sagte er. Dass sie mit einem Vorrat an den nötigsten Dingen ständig dort deponiert war, hatte sich schon bei mehr als einer Überwachung als nützlich erwiesen. »Ich hatte den Wagen auf dem 24-Stunden-Parkplatz abgestellt und deshalb heute Morgen gerade noch Zeit, die Tasche zu holen, bevor mein Flug ging. Eine ausgesprochen glückliche Fügung, wie mir scheint, sonst hätte ich mich auch noch neu einkleiden müssen, nachdem Sie mir im MIA entwischt sind.«
»MIA? Ist das vielleicht die Kopfgeldjäger-Abkürzung für mitten in Aktion?«
Schon recht. Als ob du das nicht wüsstest. »In Ordnung, ich spiele das Spielchen mit«, sagte er in übertrieben geduldigem Ton. »Miami International Airport. Der Flughafen, von dem wir beide heute Morgen abgeflogen sind.« Mist. So viel zu seiner guten Laune. Er hätte für den Rest des Tages gut darauf verzichten können, daran erinnert zu werden, wie viel er ihretwegen bereits für Flugtickets und Busfahrkarten hatte hinblättern müssen.
Ein kleiner blonder Junge kletterte links neben Catherine auf die Bank. »Hallo!«, sagte er. Er hielt sich mit einem seiner Patschhändchen an der Rückenlehne fest und beugte sich zu ihr herüber, dabei hielt er den Becher mit Traubensaft in seiner anderen Hand so schief, dass der Saft bedenklich nahe an den Rand schwappte.
»Tommy! Lass die Frau in Ruhe.« Eine erschöpft aussehende blonde Frau in billiger, abgetragener Kleidung ließ sich auf den freien Platz neben ihrem Sohn fallen.
Zu Sams Verblüffung bedachte Catherine Mutter und Kind mit einem Lächeln. »Das ist schon in Ordnung«, versicherte sie der Frau und fügte dann, an den Jungen gewandt, freundlich hinzu: »Hallo, Tommy.«
»Weißt du was?«, verkündete der Knirps. »Nächste Woche werde ich vier.« Er grinste und plapperte weiter: »Ich und Mommy fahren nach Portland.« Er vollführte eine weit ausholende Geste mit der Hand, in der er den Saft hielt. »Da wohnen wir bei meiner Granny. Und du? Wo fährst du hin?« Kaum hatte er die letzten Worte gesagt, schwappte der Traubensaft aus dem Becher, beschrieb einen Bogen in der Luft und landete auf Catherines Bluse, ihren bloßen Knien und dem Boden. Sie schrie vor Schreck auf, sprang auf die Füße und hielt den durchnässten Baumwollstoff von ihrer Brust weg.
»Oh Tommy, sieh nur, was du wieder gemacht hast!«, jammerte die Mutter. »Tut mir Leid, Miss, tut mir furchtbar Leid.« Sie stand auf und tupfte hilflos mit einer Papierserviette an Catherines nasser Bluse herum. Ihre Verzweiflung übertrug sich auf den Jungen, und sein anfänglich leises überraschtes Wimmern steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Gebrüll.
»Es ist nicht so schlimm. Wirklich. Die Bluse ist schon alt.« Catherine nahm der Frau die feuchte Serviette aus der Hand und wischte damit den Saft von ihren Beinen.
Sam war erstaunt, dass sie so ruhig blieb. Er hätte erwartet, dass sie zu den Frauen gehörte, die wegen einer solchen Sache völlig außer sich gerieten. Er stand ebenfalls auf. »Kommen Sie«, sagte er und hob ihr Gepäck auf. »Sie können sich auf der Toilette umziehen.«
Er fasste Catherine am Ellbogen und führte sie an der fortwährend Entschuldigungen stammelnden Frau und dem heulenden Jungen vorbei zur Damentoilette. Er stieß die Tür auf und steckte den Kopf hinein, um sicherzugehen, dass es keine anderen Ausgänge gab, durch die Catherine sich aus dem Staub machen konnte. Eine Frau, die sich am Waschbecken gerade die Hände abtrocknete, schnappte empört nach Luft, er schenkte ihr jedoch keine Beachtung und drückte Catherine den Koffer in die Hand. »Ziehen Sie sich um.«
Catherine nahm eine Hand voll Papierhandtücher, hielt sie unter den Wasserhahn und entfernte damit die klebrigen Traubensaftreste von ihrer Haut. Dann zog sie die Bluse aus und warf sie nach einem kurzen, wehmütigen Blick in den Abfalleimer. Da war nichts mehr zu machen, die war völlig ruiniert. Sie hockte sich vor Kaylees Koffer, ließ die Schlösser aufschnappen und schlug den Deckel zurück.
Für eine Frau, die sich ihr ganzes Leben lang bemüht hatte, ihre allzu auffälligen Rundungen zu verbergen, war die Auswahl, die sich da bot, ein einziger Alptraum. Sie probierte ein Oberteil nach dem anderen an, und jedes schien ihr noch mehr zu enthüllen als das vorherige. Schließlich entschied sie sich für ein smaragdgrünes T-Shirt, doch als sie sich damit im Spiegel sah, zog sie verzweifelt an dem dünnen Stoff, damit der Saum wenigstens bis zum Bund ihrer Radlerhose reichte. Du lieber Himmel, und dann musste es zu allem Überfluss auch noch derart ihre Brüste betonen! Sie durchwühlte ein letztes Mal vergeblich den Inhalt des Koffers. Besaß Kaylee denn kein einziges Kleidungsstück, das nicht glitzerte, schimmerte oder so eng war, dass es wie eine zweite Haut anlag?
Ein ungeduldiges Klopfen an der Tür ließ sie zusammenfahren. »Machen Sie auf, Red«, ertönte McKades Stimme. »Sie haben genug Zeit gehabt.«
Mit einem Satz war sie an der Tür und riss sie auf. »Lassen Sie mich in Ruhe. Ich bin nicht Ihr dressierter Affe. Ich komme raus, wenn ich fertig bin.«
Seine Augen richteten sich wie zielgesteuerte Raketen auf ihre Brüste. Dann wanderte sein Blick über ihren Körper, und sie sah, wie sich der Adamsapfel an seinem kräftigen Hals einmal langsam hob und senkte. »Äh, ja. Sicher. Okay«, stammelte er. Er richtete seine Augen wieder auf ihr Gesicht, und seine dunklen Brauen zogen sich über seiner Nasenwurzel zusammen, während er die Fassung wiederzugewinnen versuchte. »Ich gebe Ihnen noch zwei Minuten, MacPherson.«
Sie schlug ihm die Tür vor der Nase zu. »Machen Sie dieses, Red, machen Sie jenes«, äffte sie ihn verbittert nach. »Das hat mir echt gefehlt, dass mich ein mieser Kopfgeldjäger durch die Gegend schleift und mir sagt, was ich zu tun und zu lassen habe.« Sie bückte sich und legte Kaylees Sachen zurück in den Koffer, dann richtete sie sich auf und sah sich in dem Raum um.
Warum in aller Welt vergeudete sie nur ihre Zeit damit, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie in den Klamotten ihrer Schwester aussah, statt die Gelegenheit zu nutzen, wenn sie endlich einmal eine Minute allein war, und sich zu überlegen, wie sie aus diesem Schlamassel herauskam? Verdammt noch mal! Sie hätte sich in den Hintern beißen können. Gab es hier ein Fenster? Sie sah sich suchend um. Nein, kein Fenster. Gut, denk weiter nach. Was sonst? Lippenstift! Sie würde einen Hilferuf auf den Spiegel schreiben. Vielleicht würde ihn ja jemand lesen und das FBI benachrichtigen oder so.
Sie suchte in der Handtasche nach Kaylees überdimensional großem Kosmetiktäschchen, kramte von ganz unten einen Lippenstift hervor, entfernte die Kappe und drehte ihn heraus. Dann stützte sie sich mit einer Hand auf das Waschbecken und beugte sich zum Spiegel.
Hinter ihr wurde die Tür aufgerissen.
»Haben Sie vielleicht ein Problem?«, fragte sie Sams Spiegelbild. Seinen Blick festhaltend, formte sie mit den Lippen ein O und begann den cremigen Lippenstift aufzutragen. »Ist das Männerklo außer Betrieb, oder was?« Sie beobachtete ihn, während er ihr dabei zusah, wie sie ihre Lippen mit einem Papiertuch abtupfte, und sein Blick dann zu ihrem herausgestreckten Hintern wanderte. Sie machte eine kleine Schnute und trat einen Schritt zurück, um sich kritisch im Spiegel zu begutachten. Dann warf sie den Lippenstift mit Schwung in die Handtasche, drehte sich um und deutete auf die Toilettenkabine. »Fühlen Sie sich wie zu Hause.«
Ehe sie sich’s versah, hatte er den Raum durchquert, stützte sich mit seinen großen Händen links und rechts von ihren Hüften auf das Waschbecken und drängte sie dagegen. »Treiben Sie es nicht zu weit, Red.«
Sie reckte ihr Kinn in die Höhe. »Was passiert dann? Transportieren Sie mich quer durchs Land und werfen mich ins Gefängnis?«
An seinem Kiefer zuckte ein Muskel. Gleich darauf trat er einen Schritt zurück, und sein kalter Blick zeigte, dass er sich wieder unter Kontrolle hatte. »Kommen Sie schon. Der Bus wird gleich da sein.«
Catherine fühlte Panik in sich aufsteigen. In wenigen Minuten würden sie tatsächlich abfahren, und auf einmal kam ihr das alles viel zu real vor – ihr kleiner Aufstand endete nicht im Triumph, sondern im Katzenjammer. Nein! Das konnte sie nicht zulassen! Sie hatte sich hier ein Leben aufgebaut, ein sicheres Leben, unberührt von den Katastrophen, von denen das Leben ihrer Schwester begleitet war. Und jetzt, wegen Kaylee, sollte sie...
»Nein!« Sie versuchte, an Sam vorbei zur Tür zu kommen. Ein vergeblicher, dummer Versuch – das wurde ihr klar, noch bevor Sam sie aufhielt und mit dem Arm um die Taille fasste und hochhob. In Moment war sie jedoch zu keinem vernünftigen Gedanken imstande. Instinktiv begann sie wild um sich zu schlagen und zu treten, zielte mit Fäusten und Füßen auf jeden erreichbaren Teil seines Körpers, bis er sie schließlich mit beiden Armen umklammerte und zur Seite zog. Im nächsten Moment war sie so fest zwischen der Wand der Toilettenkabine und seinem muskulösen Körper eingeklemmt, dass sie sich nicht mehr rühren konnte.
»Beruhigen Sie sich«, befahl er dicht an ihrem Ohr mit einer Stimme, die tief aus seiner Brust kam und erstaunlich sanft klang. »Reißen Sie sich zusammen, Red.« Er veränderte leicht seine Haltung, so dass er eine Hand frei hatte, ohne dass sie sich deswegen auch nur einen Zentimeter von der Stelle hätte bewegen können. Er legte seine Hand auf ihren Scheitel und drückte ihren Kopf an seine Brust, und sie konnte die Wärme, die von ihm ausging, bis auf die Kopfhaut spüren. Dann strich er ihr über die Haare. »Denken Sie mal kurz nach«, sagte er in demselben, fast freundlichen Ton. »Solche Aktionen führen doch zu nichts.« Die Wärme seines Körpers begann in ihre verspannten Muskeln zu dringen.
Sam spürte, wie sie überrascht zusammenzuckte. Er fragte sich, wie sie wohl darauf reagieren würde, wenn er ihr sagte, dass er damit gerechnet hatte oder zumindest mit etwas Ähnlichem. Früher oder später kam immer der Punkt, an dem seinen Gefangenen klar wurde, dass er sie tatsächlich zurück ins Gefängnis bringen würde und anschließend die Verhandlung auf sie wartete, der sie zu entkommen versucht hatten. Die Reaktion auf diese Erkenntnis war immer die gleiche – sie versuchten zu fliehen. Die Männer brachte er mit brutaler Gewalt und, wenn es sein musste, mit Hilfe seiner Waffe zur Räson. Bei den Frauen bemühte er sich meistens um ein etwas sanfteres Vorgehen, vorausgesetzt, sie forderten ihn nicht heraus. Der Rotschopf war allerdings die einzige seiner Gefangenen – egal ob Mann oder Frau –, bei der er jemals auf Handschellen verzichtet hatte.
Nicht dass sie irgendetwas Besonderes gewesen wäre – er tat es nicht ihr zuliebe. Sie hatten einen weiten Weg vor sich, und bei der Prämie waren die Kosten für einen Flug, der sie schneller zurückgebracht hätte, einfach nicht drin. Er glaubte ihr keine Sekunde lang die hanebüchene Geschichte von irgendwelchen belauschten Gesprächen, in denen es um Mordabsichten, vergrabene Leichen und Auftragskiller gegangen sein sollte. Aber er war vorsichtig, und falls in dem, was diese Frau sagte, auch nur ein Körnchen Wahrheit steckte, dann durfte er möglichst kein Aufsehen erregen, wenn er sie quer durchs Land zurück nach Miami schaffte. Ein Blick auf den Rotschopf genügte, um zu wissen, dass es ziemlich unwahrscheinlich war, dass sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde, und die Klamotten, die sie jetzt trug, machten die Sache nicht besser. Wenn er ihr zu allem Überfluss auch noch Handschellen anlegte, konnte er das Ganze gleich vergessen und sich darauf einstellen, dass er bei ihrer Rückkehr nach Miami reif für die Klapsmühle sein würde, vorausgesetzt, sie kämen überhaupt so weit.
Sein Gesicht bekam einen grimmigen Ausdruck. Das würde nicht passieren, nicht, solange er seinen Job gut machte. Und nicht, solange es galt, eine Prämie zu kassieren und diese Fischerhütte für Gary zu kaufen.
Er löste sich von Catherine und trat einen Schritt zurück. Sie schwankte leicht, und er legte seine Hände auf ihre Schultern und stützte sie gegen die Wand der Toilettenkabine. »Kommen Sie«, sagte er heiser. »Es ist Zeit, dass wir uns auf den Weg zum Bus machen.«
Sie blinzelte. »Was?«
Sam presste die Lippen zusammen, als er ihre großen verschreckten Augen sah. Oh Mann. Sie hatte wirklich ihren Beruf verfehlt. In Hollywood wäre sie die Sensation gewesen – und zwar ohne dass sie dafür 95 Prozent ihres Körpers hätte enthüllen müssen.
Er hatte keine Ahnung, warum ihn dieser Gedanke nicht losließ.
Hinter ihnen ging die Tür auf. Sams Kopf fuhr herum, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass er in dieser Haltung unmöglich schnell genug an seine Waffe kommen konnte. Eine Frau trat durch die Tür, blieb jedoch abrupt stehen, als sie ihn sah. Ihre Augen verengten sich, während ihr Blick von ihm zu Catherine wanderte.
»Geht zum Knutschen gefälligst woandershin«, blaffte sie. »Es gibt nämlich Frauen, die Wert darauf legen, dass sie nur Menschen ihres Geschlechts vorfinden, wenn sie eine Damentoilette betreten.«
»Kommen Sie, Red.« Sam griff sich Koffer und Reisetasche, legte einen Arm um Catherines Schultern und führte sie an der empörten Frau vorbei zur Tür und dann weiter durch den Wartesaal zum Ausgang. »Der Bus wird in ein paar Minuten hier sein.« Ein rascher Blick auf seine Uhr zeigte ihm, dass es zwanzig vor sechs war. Das erinnerte ihn daran, dass es allmählich Zeit wurde, sich ein paar Gedanken ums Abendessen zu machen, da sie vor dem nächsten fahrplanmäßigen Halt stundenlang im Bus sitzen würden. »Haben Sie Hunger?«
Sie antwortete mit einem Kopfschütteln.
»Vermutlich reicht die Zeit noch, um einen Hamburger zu kaufen.« Er deutete mit dem Kopf auf den Burger King, zu dem man vom Wartesaal aus Zugang hatte.
Sie schüttelte sich kurz und sah weg.
»Okay, kein Hamburger. Ich denke, ich werde trotzdem ein bisschen Proviant besorgen. Sie könnten es sich auf der Fahrt ja anders überlegen.« Er zog sie zu einer Reihe von Verkaufsautomaten und wählte ein paar Sachen aus, die er in seine Reisetasche warf. Dann führte er sie nach draußen, wo bereits einige Fahrgäste herumstanden und rauchten oder auf und ab gingen, während sie auf den Bus warteten. Sam griff automatisch nach den Zigaretten in seiner Brusttasche, bevor ihm einfiel, dass er das Rauchen ja aufgegeben hatte.
Einen Augenblick später fuhr der Bus vor. Sobald er stand, öffneten sich mit einem leisen Zischen die Türen. Sam brachte seine Gefangene an Bord, und wenige Augenblicke später hatte er Catherine zu einem Fensterplatz geführt und das Gepäck auf der Ablage über ihren Köpfen verstaut. Er ließ sich auf dem Platz neben ihr nieder.
Sie sagte kein Wort. Genau genommen schenkte sie ihm nicht die geringste Beachtung. Sie hatte sich von ihm weggedreht und sah aus dem Fenster, als der Bus den Busbahnhof verließ. Sam hätte genauso gut nicht da sein können.
Ihm sollte es recht sein. Je weniger sie sprachen, umso besser. Er war wirklich nicht wild darauf, sie näher kennen zu lernen. Die Lichter der Stadt beleuchteten ihr Profil, als der Bus Richtung Schnellstraße fuhr, und Sam starrte finster vor sich hin. Sie war nichts als eine Ware für ihn – das merkwürdige Gefühl, das er in seinem Inneren verspürt hatte, als er ihr dabei zusah, wie sie den Lippenstift auftrug, hatte überhaupt nichts zu sagen. Zum Teufel, wahrscheinlich war das nur der Hunger gewesen – im Gegensatz zu ihr hätte er jetzt gut einen Hamburger vertragen können. Ware, wiederholte er im Stillen. Sie ist nichts als eine Ware.
Ein Päckchen, das er abliefern musste, bevor er endlich seine Pläne verwirklichen konnte.