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5Ilg und der Nazi

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Walo C. Ilgs Wohnung ist eingerichtet wie ein Museum.

Mit edlen Möbeln aus dem 19. Jahrhundert. Von einer Wand schaut ein schneidiger Militär mit gezwirbeltem Schnauzbart. »Napoleon der Dritte«, sagt Ilg. Darüber hängt noch ein kleineres Bild von Napoleon III., eines, dass es tausendfach gab, damit sich auch gewöhnliche Leute einen Napoleon im Wohnzimmer leisten konnten.

Seit vierzig Jahren arbeite Ilg an einem Napoleon-Buch. Napoleon III. lebte im Schloss Arenenberg im Kanton Thurgau, bevor er Präsident und dann Kaiser von Frankreich wurde. Ilgs Großvater, Konrad Ilg, war ein einflussreicher Gewerkschafter. Er stammte aus der Nähe des Arenenberg. Als Kind begleitete Walo seinen Großvater oft, wenn der in seine alte Heimat fuhr. Der kleine Walo trieb sich gerne im Schloss herum. Seither fasziniert ihn Napoleon III.

Ilg lebt heute in Bern, ist ein stattlicher Mann, elegant gekleidet, mit gepflegtem Schnauz- und Spitzbart. An diesem heißen Septembermittag setzt er sich einen Strohhut auf, bevor wir ins Quartierrestaurant gehen.

Als Anwalt hat er einige große Prozesse geführt, war auch Vertrauensanwalt der Gewerkschaften. Heute hat er noch einige Klienten, die schon lange im Gefängnis sitzen. Er selbst war auch einmal in Haft, wegen Veruntreuung; aber das ist lange her. Seit er pensioniert ist, arbeitet er als ehrenamtlicher Jurist für Reform91. Die Organisation ist vor vielen Jahren von einigen Gefangenen in der Justizvollzugsanstalt Lenzburg gegründet worden. In der Öffentlichkeit kennt man vor allem Peter Zimmermann, einen der Gründer von Reform91. Zimmermann hat sich regelmäßig bei den Medien gemeldet. Er war für die Gefangenen eine zuverlässige Verbindung nach draußen. Zimmermann wusste immer, wann, wo und warum ein Gefangenenstreik stattfand. Er war es auch, der Peter Vogt rund um seinen Exit-Wunsch beraten hat.

Seit Monaten war es jedoch ruhig geworden um Zimmermann. Es kamen keine Mails und keine Infos mehr. Einmal noch hatte seine Lebensgefährtin ausrichten lassen, Zimmermann habe gesundheitliche Probleme. An diesem Mittag bei Spaghetti und einem Glas Rotwein erzählt Ilg, dass es komplizierter sei. Zimmermann werde in wenigen Tagen vor Gericht erscheinen müssen. Er sitze in U-Haft, weil er einen Jungen missbraucht haben solle.

Ilg zweifelt an der Geschichte des Jungen, aber es ist müssig, darüber zu diskutieren. Falls Zimmermann verurteilt werde, das sagt Ilg schon an diesem Mittag, habe Reform91 ein gröberes Problem.

Das Gericht hat dem Jungen geglaubt und Zimmermann zu dreißig Monaten Gefängnis verurteilt. Nach vielen Jahren war Zimmermann wieder zum Rückfalltäter geworden.

Das ändere nichts an seiner Überzeugung, sagt Ilg, dass Fotres, aber auch die anderen Prognoseinstrumente wertlos seien. »Man wird in eine Gruppe eingereiht – aber nicht für das, was man begangen hat, sondern für das Potenzial, das man hat.« Die forensische Psychiatrie tue so, als ob sich die Gefährlichkeit eines Berges allein aufgrund der Neigung des Geländes beurteilen ließe. »Dabei kann auch ein nicht so steiler Berg gefährlich sein, wenn viel Geröll da ist.« Die Forensiker machten, so Ilg, dasselbe, was Cesare Lombroso vor über hundert Jahren demonstriert habe, Verbrecher vermessen.

An einem Dezember Morgen im Jahre 1870 untersuchte Lombroso den Schädel eines berühmten Mörders. Da überkam ihn eine Vision. »Beim Anblick dieses Schädels schien es mir, als sähe ich plötzlich, wie eine weite Ebene erhellt von einem flammenden Himmel, das Problem der Natur des Verbrechers vor mir liegen – eines atavistischen Wesens, das in seiner Person die wilden Instinkte der primitiven Menschen und der niederen Tiere reproduziert. So erklärten sich anatomisch die riesigen Kiefer, die vorstehenden Wangenknochen, die Knochenwülste der Augenbrauen, die vereinzelten Handlinien, die Übergröße der Augenhöhlen, die henkelförmigen Ohren, wie sie bei Verbrechern, Wilden und Affen zu finden sind, die Schmerzunempfindlichkeit, die extreme Sehschärfe, die Tätowierungen, der übertriebene Müssiggang, die Vorliebe für Orgien und die verantwortungslose Sucht nach dem Bösen um des Bösen willen, der Wunsch, nicht nur das Leben des Opfers auszulöschen, sondern auch die Leiche zu verstümmeln, ihr Fleisch zu essen, und ihr Blut zu trinken.«

Lombroso ordnete die Menschen einem Straftätertypus zu. Große Nase, fliehende Stirn, eng beieinanderliegende Augen – über das Äußere las er die Gefährlichkeit ab. Das war das Vermächtnis von Cesare Lombroso. Die Ideologie des Nationalsozialismus war getränkt von dieser Logik.

»Früher haben sie Gesichter vermessen«, sagt Ilg, »heute vermessen sie die Psyche.« In den Gutachten stecke so viel Ideologie. »Ein autoritäres Menschenbild führt zu ganz anderen Resultaten als ein emanzipatorisches Menschenbild.«

»Nennen Sie ein Beispiel.«

Er denkt nach. Ein junger Mann mache ihn ratlos. »Etwa dreißig. Er war bei den Neonazis …«

»… ein Aktiver?«

»Nein, nein. Er hat die rechte Szene verlassen.«

»Nehmen Sie ihm das ab?«

»Der Gutachter glaubt ihm eigentlich nicht, aber ich glaube ihm. Er wurde schon als Kind ständig hin- und hergeschoben, immer wieder sehr schlecht behandelt und hat Übergriffe erlebt. Den Neonazis hat er sich angeschlossen, weil er eine Familie suchte. Dort fand er sie.«

Ilg schildert, wie der junge Mann ins Gefängnis kam. 2012 habe er in einem Streit einen Mann angeschossen. Die Medien hätten ihn stets beim vollen Namen genannt. Aber falls er wirklich einmal rauskomme, sei es besser, wir nennten ihn hier Stefan Steiner. Inzwischen habe er die Hälfte seiner Strafe verbüßt. Die Therapeutin sei der Meinung, er mache gute Fortschritte, und empfehle Vollzugslockerungen. Nun gebe es aber ein neues Gutachten. »Ein verheerendes«, sagt Ilg, »mit einem solchen Gutachten kommt er so schnell nicht raus.«

Der junge Mann hat Ausländer gejagt und sich Nazisymbole auf den Körper tätowieren lassen. Prügelnd hat er Angst und Schrecken verbreitet.

Das Gutachten umfasst fast zweihundert Seiten. Ein Psychiater hat es im Auftrag der Zürcher Vollzugsbehörde erstellt. Auf der ersten Seite heißt es: »Sie baten mich, zu den Fragen einer psychischen Störung, der Deliktdynamik, des Maßnahmenverlaufs, der Legalprognose sowie der Indikation für (die Fortführung) eine(r) strafrechtlichen Maßnahme Stellung zu nehmen.« Er habe Steiner angeboten, das Gutachten zu lesen, um sich zu allfälligen Missverständnissen zu äußern und Korrekturvorschläge zu machen. »Steiner schlug diese Möglichkeit mehrfach aus.«

In der Zusammenfassung steht: »Das gesamte Leben von Herrn Steiner ist schwer belastet. Die familiäre Situation wurde von allen Vorbeurteilern als sehr ungünstig eingestuft. Er entwickelte auf Grund fehlender verlässlicher Bezugspersonen (Heimkarriere) keinen sicheren Bindungsstil und mangelnde Ich-Strukturen. Er rebellierte schon im Primarschulalter und musste oft versetzt werden. Damals schon fiel er mit ›Tobsuchtsanfällen‹ auf und zerstörte Mobiliar und Gegenstände.« Immer wieder sei er weggelaufen. Immer wieder habe man ihn in geschlossene Einrichtungen eingewiesen.

»Mit zirka vierzehn Jahren lernte er die rechtsextreme Szene kennen und betrachtete sie als seine Ersatzfamilie«, schreibt der Psychiater später. »Er delinquierte wiederholt mit rassistisch motivierten Straftaten, fiel durch permanentes Tragen von (auch Schuss-)Waffen auf und wurde mehrfach von der Jugendanwaltschaft verurteilt. Daneben fand sich Gewalt auch in Alltagssituationen ohne rassistischen Hintergrund. Verschiedene ambulante wie stationäre Jugendmaßnahmen schlugen fehl, bis die Jugendanwaltschaft mit Erreichen des 18. Lebensjahres resigniert feststellte, dass sämtliche zur Verfügung stehenden Hilfestellungen ausgeschöpft seien und er mit Erreichen der Volljährigkeit eine 10-monatige Haftstrafe antrat.« So geht es über Seiten weiter.

Im Mai 2012 kam es zu der Tat.

»Obwohl Herr Steiner annahm, von der Polizei ausgeschrieben zu sein, steckte er sich eine durchgeladene und schussbereite Pistole in den Hosenbund und ging in den Ausgang. Auch diesmal befürchtete er, angegriffen zu werden und bewaffnete sich, um sich bei Bedarf verteidigen zu können«, heißt es im Gutachten. »Im Ausgang traf er zufällig auf das spätere Opfer X.Y. Das Obergericht ging später davon aus, dass es aus verschiedenen Gründen […] zu einem Streitgespräch gekommen sei. Herr Steiner eskalierte den Konflikt in erheblichem Maße und schoss X.Y. aus nächster Nähe in die Brust. Dabei nahm das Gericht an, dass er unter anderem aus einem Rachebedürfnis heraus gehandelt habe.«

Das Opfer hatte sich wie Steiner früher in der rechten Szene bewegt. Es überlebte. Steiner floh nach Deutschland, wo er verhaftet und an die Schweiz ausgeliefert wurde.

Im Gutachten heißt es weiter: »Im Rahmen des Strafverfahrens gab Herr Steiner zwar die Tat zu, bestritt aber, vorsätzlich gehandelt zu haben. Er zeigte keine Reue und gab dem Opfer sogar die Schuld, ihn zur Tat provoziert zu haben, was das Gericht widerlegen konnte. Der Prozess bis zur rechtskräftigen Verurteilung 2016 dauerte sehr lange, was unter anderem auf die fehlende Kooperation von Herrn Steiner zurückzuführen war, da er die Mitwirkung am Gutachten verweigerte, verschiedene Beschwerden einreichte und gegen die erstinstanzliche Verurteilung, die unter anderem eine Verwahrung ausgesprochen hatte, appellierte.«

Stefan Steiner wurde schließlich wegen versuchter vorsätzlicher Tötung und mehrfachem Vergehen gegen das Waffengesetz zu einer Freiheitsstrafe von vierzehn Jahren verurteilt. Die Verwahrung, die die erste Instanz noch ausgesprochen hatte, wurde aufgehoben. Stattdessen ordnete das Gericht eine ambulante Maßnahme an. Steiner bekommt während des Strafvollzugs eine Therapie.

Die ersten Jahre saß er in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies ab. Später wurde er ins Gefängnis Lenzburg verlegt. Inzwischen hat Steiner eine Therapeutin, mit der er sich gut versteht. Das steht auch so im Gutachten. Trotzdem habe Steiner eigentlich keine therapeutischen Fortschritte gemacht. »Statt sich mit seinen problematischen Anteilen auseinanderzusetzen, verstrickte er sich in umfangreichen Vorwürfen und Beschwerden. […] Es zeigte sich recht bald, dass er das gesamte Schweizer Rechtssystem, sämtliche Behörden und Ämter verachtete und sein Selbstbild daraus bestand, gegen dieses verhasste System zu kämpfen. Es ist absehbar, dass sich daraus ein Dilemma ergeben muss, da im Rahmen einer Maßnahme unter anderem gefordert wird, sich dem ›System‹ zu unterwerfen und sich zu integrieren. Gerade dies lehnt Herr Steiner vehement ab.« Und wenn Steiner behauptet habe, vor zehn Jahren die rechtsextreme Szene verlassen zu haben, könne es sich um eine taktische Angabe handeln. Noch 2008 seien eine Hakenkreuzfahne und ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Amok gegen das System« bei Steiner sichergestellt worden.

Der Psychiater nutzt vier verschiedene Prognoseinstrumente, um Steiners Rückfallrisiko abzuschätzen. Es sind sogenannte aktuarische oder statistische Instrumente. Die Methode stammt eigentlich aus der Versicherungswirtschaft. Steiner kommt in allen sehr schlecht weg. Mit solchen Ergebnissen wird sich kaum eine Vollzugsbehörde getrauen, den Mann rauszulassen.*

*Mehr zur Entstehungsgeschichte verschiedener Prognoseinstrumente siehe Anhang S. 224

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