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6Steiner unterwirft sich nicht

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Stefan Steiner sitzt in der Strafanstalt Lenzburg ein. Es ist ein klassischer panoptischer Bau. Von oben sieht er aus wie ein fünfzackiger Stern. Das Gefängnis wurde vor hundertfünfzig Jahren gebaut. Damals galt es als sehr modern. Es ist ein historischer Bau, ausgestattet mit modernster Technik. Das erlaubt es den Gefangenen, sich relativ frei zu bewegen. Sie reden nicht schlecht über Lenzburg, auch, weil die Leitung als progressiv gilt. Sie lässt unkonventionelle Projekte zu, wie zum Beispiel ein Knasttheater.

Für das Interview mit Steiner wird mir erlaubt, ein Aufnahmegerät mitzubringen. Wir dürfen uns in einem Anwaltszimmer unterhalten.

Ein schlanker, durchtrainierter Mann steht vor mir, kurzes Haar, grüner Pullover, Turnschuhe, klassische Gefängniskleidung. Er steht aufrecht wie ein Gardesoldat. Zum Gruß reicht er die Hand und bietet etwas zu trinken an. Es folgt das übliche Gefängnisbesuchsritual – man geht zum Automaten, lässt Kaffee raus oder ein Fläschchen Mineralwasser und beginnt eine erste unverfängliche Unterhaltung.

In den folgenden zwei Stunden erzählt er sein Leben.

Als Kind kam er in Pflegefamilien, wurde von Heim zu Heim verschoben und immer wieder misshandelt. Er war sicher kein einfaches Kind, sagt er heute von sich. Aber er habe nicht verstanden, was damals abging. Und vor allem hatte er lange Zeit niemandem erzählt, wie schrecklich die Misshandlungen waren. Er wehrte sich, schlug um sich, versuchte sich zu verteidigen.

»Verprügelt zu werden war aber nicht das Schlimmste«, sagt er.

»Was war denn das Schlimmste?«

»Das Internat war in einem alten Restaurant untergebracht. Es hatte einen tiefen, betonierten Weinkeller, mit einer schweren Eichentüre. Ohne Licht im Weinkeller eingesperrt zu sein … zwei, drei Tage … das war übel.« Er spricht ruhig, hält kurz inne. »Da habe ich angefangen, Panik zu bekommen.«

»Wie konkret?«

»Vor allem müssen Sie sich vorstellen, wie das ist. Sie sind noch ein Kind, und Ihnen wird ständig klar gemacht: Wir dürfen das, das ist Gerechtigkeit.«

»Im Gutachten steht, dass Sie im Alter von neun Jahren mit der rechten Szene in Kontakt gekommen sind. Wie kam das?«

»Im Internat hatte es zwei, drei Rechte.«

»Jugendliche?«

»Ja. Das war so mein erster Kontakt.«

»Waren die für Sie cool? Waren die Familie?«

»Familie nicht unbedingt. Man hat sich einfach verstanden. Sie hatten bezüglich Internat die gleichen Ansichten.«

»Aber sich Nazisymbole zu tätowieren ist dann doch noch ein Schritt.«

»Mit dem Hakenkreuz konntest du provozieren. Es war ursprünglich reine Provokation, nichts anderes. Vieles ist aus Frust und Wut entstanden, nicht wirklich überlegt. Inzwischen sind die meisten Nazi-Tattoos überstochen. Demnächst komme ein Tätowierer ins Gefängnis, um auch noch die restlichen Tattoos zu überstechen.«

»Wann sind Sie aus der rechten Szene raus? Was war der Anlass?«

»Bis 2007 war ich sicher aktiv. Und von da an habe ich lange gebraucht, um mich selbst zu distanzieren. Ich stand zum Teil immer noch mit Leuten in Kontakt, mit denen ich eine persönlich gute Beziehung hatte. Aber mit der Zeit habe ich gemerkt: Es geht nicht, ich muss mich ganz distanzieren.«

»Das gab keine Probleme?«

»Ich bin auf schwarzen Listen von Rechten.«

»Das macht Ihnen keine Angst?«

»Nein. Die getrauen sich nicht, mir zu drohen. Die wissen, wie ich gewesen bin. Natürlich gibt es gewisse Leute, wo ich aufpassen müsste, wenn die kommen. Ganz klar.«

»Was war der Anlass, sich von der Szene zu distanzieren?«

»Meine Ex. Ich war seit 2006 mit ihr zusammen.«

»Hat sie sich auch in der Szene bewegt?«

»Nein. Und ich wollte das auch nie. Sie ist der Mensch, der immer zu mir gehalten hat. Es muss sehr schwierig für sie gewesen sein, weil sie auch nichts von meiner Geschichte wusste.«

»Ihretwegen sind Sie also raus?«

»Sie war ein wichtiger Grund. Aber ich habe auch ganz allgemein gemerkt, so kann es einfach nicht weitergehen.«

Er erzählt, die vielen Misshandlungen hätten dazu geführt, dass er seit vielen Jahren an heftigen Schlafstörungen leide. Dass er deswegen als Teenager begonnen habe zu trinken. Dass er immer mehr Alkohol gebraucht habe, um runterzukommen.

Noch heute halten die Schlafstörungen an. Inzwischen hat er gelernt, darüber zu sprechen. Dank der Therapie, sagt er. Er spricht nur gut von seinen Therapeutinnen. Er spricht auch offen über seine Tat. Er bestreitet nicht, den Mann angeschossen zu haben. Nur sagt er, dass es anders abgelaufen sei. Dass er angegriffen worden sei und dann aus Notwehr und im Reflex einen Schuss abgegeben habe.

Das Obergericht sieht das anders. Das Bundesgericht hat die Einschätzung bestätigt. Aber verwahrt ist er nicht. Wie genau sieht sein juristischer Status aus?

Er referiert die Urteile aus dem Kopf: Das Bezirksgericht: zwölf Jahre plus Verwahrung. Die Verwahrung sei aber nicht rechtens gewesen, da die zwei unabhängigen Gutachten, die es für eine Verwahrung brauche, nicht vorgelegen hätten. Das Obergericht: vierzehn Jahre, hob die Verwahrung auf, verhängte aber einen »63er«, sprich ambulante Therapie. »Und sie sagten noch: Wenn Sie die Endstrafe verbüßt haben und weiterhin als gefährlich gelten sollten, kann man Sie immer noch nachträglich verwahren.«

Ich lese Steiner den Satz vor, den sein Gutachter über ihn geschrieben hat: »Es zeigte sich recht bald, dass er [Steiner] sämtliche Behörden und Ämter verachtete und sein Selbstbild daraus bestand, gegen dieses verhasste System zu kämpfen. Es ist absehbar, dass sich daraus ein Dilemma ergeben muss, da im Rahmen einer Maßnahme unter anderem gefordert wird, sich dem ›System‹ zu unterwerfen.«

Ohne Unterwerfung werde er schwerlich rauskommen, sage ich zu ihm.

Steiner zögert. »Wissen Sie, was der Gutachter zu mir gesagt hat? Wir saßen hier, im selben Zimmer.«

»Was?«

»Ein Schaf müssen Sie sein, Herr Steiner, ein Schaf. Wir sind alles Schafe.«

Er habe geantwortet: »Seien Sie ein Schaf, von mir aus, kein Problem. Aber ich bin sicher kein Schaf.«

Er schickt mir noch einen dicken Brief mit Plädoyers und Gerichtsentscheiden. Darunter ist auch der Bericht der Therapeutin. Darin listet sie die diversen Diagnosen auf, die Steiner erhalten hat. Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens, Störung der Persönlichkeitsentwicklung – da war Steiner vierzehn Jahre alt –, psychische Störung, dissoziale Persönlichkeitsstörung und eine Alkoholabhängigkeit – da war Steiner achtzehn Jahre alt.

Die Therapeutin kam zu anderen Schlüssen. Steiners aggressives Verhalten sei, ihrer Meinung nach, das Resultat der Gewalt, die er als Kind erlebt hat. Das habe bei ihm zu einer posttraumatischen Belastungsstörung geführt. Unter dem Stichwort »Therapieverlauf« schildert sie Steiner als zuverlässig, offen, zugewandt. Sie attestiert ihm auch, dass er sich ernsthaft mit seinem Delikt beschäftigt habe.

Steiner hat sie von der Schweigepflicht entbunden. Sie ist bereit, sich über ihren Klienten zu äußern. Zum Gutachten, dessen Einschätzung sie nicht teilt, will sie aber nichts sagen; das gebe sonst nur Probleme.

Über Steiner sagt sie, er habe sie nie belogen oder versucht, sie zu manipulieren. Sie kenne das von anderen Klienten. Aber er, nein, habe das nie getan. Und ja, seine Distanzierung von der rechten Szene nehme sie ihm ab. Sie finde es wichtig, dass er endlich Vollzugslockerungen bekomme.

Inzwischen hat sie als Gefängnistherapeutin aufgehört. »Ich habe genug davon, mich mit den Behörden herumzuschlagen«, sagt sie: »Wenn man über einen Klienten, der es auch verdient, positiv schreibt, wird man nicht ernst genommen, wenn man schlecht über Klienten schreibt, schon. Das ist frustrierend.« Man könne nichts erreichen. Wer seinen Job ernst nehme, halte das auf Dauer nicht aus. »Oder es ist einem egal. Man hält sich raus, schreibt, was sie von einem erwarten, und hört auf, für seine Meinung zu kämpfen.« Deshalb hat sie gekündigt.

Hat ein Häftling die Hälfte der Strafe abgesessen, bekommt er für gewöhnlich als Vorbereitung auf die Entlassung Vollzugslockerungen. Er darf in den Ausgang oder ausserhalb der Anstalt arbeiten. Die Vollzugsbehörden müssen entscheiden, ob sie der Therapeutin oder dem Gutachter glauben. Ihre Menschenbilder könnten unterschiedlicher nicht sein. Die Therapeutin glaubt, dass sich ein Nazi zum Guten entwickeln kann. Der Gutachter hält das für unmöglich. Folgen die Behörden dem Gutachter, werden sie Steiner nicht entlassen.

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