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2Briefe aus der Zelle

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Beat Meier hatte immer wieder Briefe an die Redaktion geschrieben. Der Absender auf Meiers Briefen lautet unverfänglich: Roosstrasse 49. Das ist die Adresse der Justizvollzugsanstalt Pöschwies, das größte Gefängnis der Schweiz, nicht weit vom Flughafen Zürich entfernt.

Am Tag des ersten Besuches liegt der Himmel wie ein grauer Deckel über Regensdorf mit seinen Hochhäusern, Mehrfamilienhäusern, Einfamilienhäusern und der Justizvollzugsanstalt (JVA). Von der Busstation geht man an der Pöschwies 45 vorbei. So heißt das Geschäft, das aussieht wie eine gewöhnliche Gärtnerei, aber der Gefängnisladen ist. Dort kann man alles kaufen, was die Häftlinge produzieren. Taschen, die »Jail-Bag« heißen, Geschreinertes, Blumen und viel Krimskrams. Hinter dem Laden verläuft der Zaun. Oben ist er dreifach mit scharf geschliffenem Stacheldraht gesichert. Es folgt ein Streifen Wiese. Dahinter erhebt sich ein hoher Betonwall. Hinter dem Wall gibt es nochmals einen Zaun mit Stacheldraht, doch das sieht man nur auf Luftaufnahmen.

Der Zaun endet. Die Mauer wird unterbrochen durch einen Betontrichter mit Hütchen und weißer Tür. Darüber steht »Eingang«. Es gibt keinen Türgriff. Nirgends ein Fenster, nirgends ein Schild, nirgends ein Mensch, den man fragen könnte.

Auf der Besuchsbewilligung stand, wenn man zu spät sei, werde das von der Besuchszeit abgezogen. Neben dem Eingang eine Gegensprechanlage mit Klingelknopf, darüber eine Kugel. Man ahnt, dass das eine Kamera ist.

Es ist zehn vor neun. Eine Frau mit einer schweren Tasche kommt hinzu. Sie scheint sich auszukennen, geht zum Eingang, klingelt. Eine Stimme weist an, zu warten. Es beginnt sanft zu regnen. Die Betonbänke neben dem Eingang sind feucht. Es gibt nichts, wo man sich unterstellen könnte. Die Architektur dieses Eingangs macht jeden klein, der davor steht.

Die Frau mit ihren beiden Taschen sagt, dass sie ihren Mann besuche. In den Taschen hat sie Essen, weil er das Essen drinnen nicht mag. Sie spricht kaum Deutsch. Wir warten und werden nass.

Nach zehn Minuten, exakt um neun Uhr, schiebt sich die Türe lautlos auf. Ausweis abgeben, persönliche Sachen in einem Kästchen einschließen, durch die Schleuse gehen. Wie am Flughafen muss man einen Metalldetektor passieren.

Nur Stift und Papier sind erlaubt. Uhr ist nicht erlaubt, Kaugummi ist nicht erlaubt, Aufnahmegerät auch nicht.

Im Besucherraum stehen ein Dutzend Tische und Stühle. Der Raum hat die Aura eines Bahnhofwartesaals. Hinter einer Glasscheibe sitzt ein Uniformierter und wacht über Besuch und Gefangene.

Ein Mann schlurft auf einen Stock gestützt herein. Das muss Beat Meier sein. Das weiße lange Haar fällt ihm ins Gesicht. Er trägt eine ausgebeulte Hose. Sein T-Shirt hat Flecken. Der weiße Bart reicht bis zum Bauchnabel. Seine Nägel und Haare sind gelb verfärbt. Er riecht nach Zigarettenrauch.

Meier bittet mich an einen Tisch in der Ecke, dort seien wir ein bisschen ungestörter. Er mag es nicht, wenn die anderen zuhören können. Am Automaten lässt er zwei Kaffees heraus und beginnt zu erzählen. Er scheint nervös und möchte vieles gleichzeitig sagen. Er weiß, er hat für seine Geschichte nur eine Stunde Zeit. Es ist schwer, ihm zu folgen.

Er war ein Verdingkind, in Heimen untergebracht, wurde misshandelt und sexuell missbraucht. Später ging er zur See, war viel im Ausland unterwegs. Dann lernte er jemanden kennen, der ihn in diese unglaubliche Geschichte hineingeritten hat. Über diesen Bekannten traf er eine Frau aus der ehemaligen DDR; sie hatte zwei minderjährige Söhne. Meier heiratete die Frau. Die Familie zog in den Aargau. Dort begann die Hexenjagd, sagt er. Sein Bekannter beschuldigte Meier, er habe die Stiefsöhne missbraucht und andere schlimme Sachen gemacht. Alles nicht wahr, sagt Meier, aber er habe sich nicht wehren können. Seine Stiefsöhne hätten ihn bei den ersten Befragungen noch entlastet. Sie seien dann aber sehr unter Druck gesetzt worden. Am Ende hätten sie ausgesagt, was die Polizei von ihnen habe hören wollen.

Beharrlich beteuert er, er habe sich nie an seinen Stiefsöhnen vergangen. Früher, ja, da habe er einen Fehler gemacht, das wisse er. Aber das mit den Stiefsöhnen stimme nicht. Die kämen ihn immer noch besuchen. Sie würden heute auch sagen, dass das alles gar nicht wahr sei, was sie damals vor der Polizei bezeugt hätten.

2011 hat er mit sieben anderen Verwahrten die Selbsthilfegruppe Fair-wahrt? gegründet. Es ist ein Verein, der von Leuten draußen unterstützt wird, sagt er. Er könne Adressen vermitteln.

Ein Gong. Die Stunde Besuchszeit ist vorbei. Das Gespräch ist mitten im Satz zu Ende.

Zurück durch die Schleuse, die Sachen aus dem Kästchen holen, Ausweis zurücknehmen. Die Türe öffnet sich lautlos. Man steht wieder auf dem Parkplatz vor dem Tor.

Sexualstraftäter sind schwierige Täter. Eine Freundin von mir, eine Psychiaterin, hat einmal apodiktisch gesagt, Vergewaltiger könne man nicht therapieren. Die täten es immer wieder, deshalb müsse man sie wegsperren, da lasse sich leider nicht viel machen. Bei Pädophilen sei das nicht viel anders. Die könnten noch im hohen Alter übergriffig werden.

Beat Meier gehört wie Peter Vogt zu den prominenten Häftlingen. Über ihn wurde schon viel geschrieben, stets mit vollem Namen.

Die Nachrichtenagentur sda berichtete 1997 über den Prozess.

»›Ich bin pädophil‹, sagte Beat Meier vor Gericht unumwunden. Er habe diese Veranlagung seit frühester Kindheit, sei von der Familie abgeschoben, als Heimkind geschlagen und von einem Kapuzinermönch sexuell missbraucht worden. Bekannt ist der Mann seit 15 Jahren: 1982 wurde er Mitglied der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft Pädophilie (SAP), 1986 deren Präsident. Er trat öffentlich für die gesellschaftliche Anerkennung der Pädophilie ein und bot mit Kinder-Pornovideos ›Hilfe zur Selbsthilfe‹ an. Die Bezirksanwältin verlangt für den Missbrauch zweier Buben sechseinhalb Jahre Zuchthaus oder Verwahrung. Die Vertreter der Opfer fordern für die Buben je 25 000 Franken Schmerzensgeld. Meier wies die Anschuldigungen zurück; er habe die Kinder nur platonisch geliebt, erklärte er. Die Aussagen der Kinder seien unter Druck der Polizei entstanden. Sein Verteidiger verlangte Freispruch und sofortige Haftentlassung.«

Die sda schreibt weiter, Meier sei zuvor bereits in Großbritannien wegen sexueller Übergriffe gegen drei Buben zu einer Gefängnisstrafe von achtzehn Monaten verurteilt worden. Diesen Übergriff hat Meier gestanden.

Das Bezirksgericht Zürich verurteilt ihn zu fünf Jahren und fünf Monaten, ohne Verwahrung. Meier zieht das Urteil an die nächste Instanz weiter. Das Obergericht reduziert die Strafe auf vier Jahre und vier Monate – hängt aber eine Verwahrung an, weil es Meier für nichttherapierbar hält. Hätte er nicht rekurriert, wäre er schon lange wieder draußen. Er sagt: »Ich musste rekurrieren, weil ich die Tat ja nicht begangen habe.«

Nun steckt Meier in der Zwickmühle. Er bestreitet die Tat, deshalb gilt er als uneinsichtig. Weil er als uneinsichtig gilt, gilt er auch als nichttherapierbar. Meier hätte irgendwann sagen können: »Ich war es doch.« Mit einem nachträglichen Geständnis – ob wahr oder nicht – wäre er therapiert worden und längst wieder in Freiheit. Er aber beharrt auf seiner Unschuld.

Ein Grundsatz unseres Rechtssystems lautet, niemand muss sich selbst belasten. Ein Geständnis wirkt lediglich strafmildernd. Ein nichtgeständiger Täter sitzt seine Strafe ab und kommt danach frei. Bei der Verwahrung gilt das nicht mehr. Deshalb sitzt Meier schon über ein Vierteljahrhundert im Gefängnis.

Er wünsche sich nichts mehr, als dass man an seine Unschuld glaube. Den Einwand, das Gericht habe ihn verurteilt, will er nicht gelten lassen. Er verweist auf eine Recherche der Neuen Zürcher Zeitung. Das sei doch ein Beweis, dass er nicht lüge.

In besagtem Text schreibt die NZZ: »›Gerechtigkeit, ich verlange nichts Anderes als Gerechtigkeit. Wie ist es möglich, dass jemand so lange weggesperrt wird?‹ Es ist ein 37-jähriger Mann, Vater von drei Kindern, der diese Aussage macht. Und er spricht von seinem Stiefvater Beat Meier, dem angeblichen Monster und Übeltäter, der ihn und den jüngeren Bruder jahrelang sexuell missbraucht haben soll.«

Es folgt die Schilderung, wie die französische Polizei die Wohnung in Paris stürmte und alle festnahm, auch die beiden Buben, die mutmaßlichen Opfer.

Weiter O-Ton der NZZ: »Er werde diesen Morgen in Paris nie vergessen, sagt jener Stiefsohn, der Jahrzehnte später über die Ereignisse berichten mag. Es sei schrecklich gewesen, der reinste Horror. Polizisten mit Maschinengewehren seien in den frühen Morgenstunden in die Wohnung gestürmt, hätten sie auf den Posten gebracht, eingesperrt, wie Schwerverbrecher, auch die Kinder. Dann hätten die Einvernahmen begonnen, eine Befragung nach der anderen, immer allein, getrennt von den Brüdern. Man habe ihm, dem damals Dreizehnjährigen, vorgehalten, was der Stiefvater alles mit ihm gemacht haben soll. Irgendwann habe er einfach Ja gesagt: Weil man ihm versprochen habe, dass er dann wieder nach Hause dürfe: ›Ich war dreizehn Jahre alt, ich wollte nur noch nach Hause gehen. ›Der Druck war enorm.‹«

Die Gerichte stützen sich vor allem auf die früheren Aussagen der beiden Stiefsöhne. Sie widerrufen. Der eine nach zwei, der andere nach drei Jahren. Das Obergericht hält die beiden Widerrufe für nicht glaubwürdig.

»Es sei eine frustrierende Erfahrung, sagt der 37-jährige Familienvater heute, dass man ihm einfach nicht glaube; dass man nicht wahrhaben wolle, unter welch enormem Druck er und sein Bruder damals gestanden hätten, als sie den Stiefvater wider besseren Wissens belastet hätten. ›Mein Anwalt hat mir vom Widerruf abgeraten‹, sagt der Mann, ›doch ich musste es einfach tun. Warum so spät? Ich war erwachsen geworden, erst dann hatte ich die Kraft und den Mut dazu. Ich nahm auch in Kauf, wegen Falschanschuldigung verurteilt und bestraft zu werden. Umsonst.‹« Damit endet der NZZ-Text.

Der Artikel stammt von Brigitte Hürlimann. Sie ist Juristin und eine renommierte Gerichtsberichterstatterin. Ihre Recherche hat aber nichts bewirkt; das Bundesgericht wies die Revision ab. Meier hofft weiter, dass sein Fall neu aufgerollt wird.

Beat Meier ist heute weit über siebzig Jahre alt. In einem Brief schildert er sein Leben als Verwahrter:

»Alltag: Kaum mehr Selbstverantwortung, alles ist geregelt. Aufstehen um 7. Frühstück: Kaffee oder Tee. Butter, Konfi + Brot vom Vortag. Mittagessen um 11:45. Abendessen um 16:45. Einschluss zirka 19:35 (Wochenende zirka 16:35). Hofgangzeit: Mo/Di/Do/Fr 12:15 bis 13:30, Mi 14 bis 16:30, abends zirka 17 bis 19:30, Wochenende zirka 8 bis 11:30 oder 13 bis zirka 16 Uhr. Donnerstag früh Einkauf vom fixen Kioskangebot, relativ gute Auswahl, aber sehr selten einzelne Alternativen, Hygieneartikel nur vom Kiosk. Bett- und Kleiderwäsche werden für einen wöchentlich erledigt, Putzlappen, Reinigungsutensilien stehen frei zur Verfügung.

Besuch: Unter acht Jahren Haftzeit: eine Stunde pro Woche. Über acht Jahren: sieben Stunden pro Monat.

Telefonieren: zirka 160 Minuten. Wer häufig kurze Gespräche führt und/oder lange klingeln lassen muss und womöglich niemanden erreicht, hat entsprechend deutlich weniger monatliche Sprechzeit. Anwalts- und gewisse behördliche Gespräche sind davon nicht betroffen.

In jedem Fall begrenzt auf max. 100 Franken Gebühren pro Monat. Gefangene mit Kontakten einzig in ihre ferne Heimat (Afrika, Asien, Südamerika) sind massiv benachteiligt. Ein junger Taubstummer hier kann natürlich nie telefonieren. Alternativen wie etwa Mail oder Bildtelefon werden ihm auch nicht angeboten. Nach 10 Minuten Gespräch ist die Karte jeweils für eine Stunde gesperrt.

Es gibt einen Apparat für dreißig Gefangene. Gespräche bleiben sechs Monate lang aufgezeichnet und können überwacht werden.«

Mit 65 Jahren, also im AHV-Alter, wollte Beat Meier im Gefängnis nicht mehr arbeiten, weil er der Ansicht war, er habe mit seinem Verein Fair-wahrt? genug Arbeit. Meier prozessierte. Die Gerichte argumentierten, die Arbeit im Gefängnis verhindere, dass Haftschäden aufträten. Meier zog den Fall an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiter. Auch dort hatte er keinen Erfolg.

Darum ging es in meinem Zeitungsartikel. Meier sollte seine Zitate gegenlesen können, bevor der Text erscheint. Es eilte, der Redaktionsschluss rückte näher. Meier hatte versucht, auf der Redaktion anzurufen, erreichte mich aber nicht. Übers Handy rief ich im Gefängnis an. Die Frau am Empfang war freundlich und verband mich mit Meiers Abteilung. Ein Aufseher nahm ab: »Ich sage nichts.« Ich erklärte ihm, Herr Meier habe mich gebeten, zurückzurufen. Was hiermit geschehe.

»Aber Sie rufen von einem Handy an.«

»Ja und?«

»Dann kann ich Sie nicht verbinden. Es sei denn, Sie können mir den Vertrag mit dem Handyanbieter faxen, damit wir verifizieren können, dass Sie die Besitzerin dieses Handys sind. Ist ein bisschen kompliziert, ich weiß. Aber sonst geht es nur über die Redaktionsnummer.«

Also bat ich, er solle Meier ausrichten, dass ich am nächsten Morgen auf der Reaktion zu erreichen sei.

Kurz nach 9 Uhr rief Meier an. Er sagte, er habe nur zehn Minuten.

Wir preschten durch den Text. Nach neun Minuten begann es in der Leitung zu piepen.

In einer Stunde habe er nochmals zehn Minuten verfügbar. Prompt rief er nach einer Stunde nochmals an, aufgeregt. Er könne sonst für den Rest des Monats mit niemandem mehr telefonieren.

Einen Tag später rief ich erneut von der Redaktion aus an.

Das Spiel ging von vorne los. Die Frau in der Zentrale wollte mich nicht in die Abteilung durchstellen. Ich bat darum, zumindest Herrn Meier auszurichten, dass ich angerufen hätte. »Nein, das machen wir nicht.«

In einem Brief schreibt er: »Was mir am meisten fehlt: Freiheit natürlich. Die Natur, Kontakt zu Bezugspersonen, Freunden, die über die geregelten Besuchsstunden, Telefonate, Briefverkehr hinausgehen. Und jede Nacht fehlt mir eine von innen verriegelbare Zellentür, und damit das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit. Es fehlt mir seit einem Vierteljahrhundert ein Abend, an dem ich nicht in eine Betonzelle eingesperrt werde und endlich nicht mehr gegen das kaum je völlig verschwindende, obskure unterschwellige Gefühl ankämpfen muss, es könnte mir in dieser Lage etwas passieren, dem ich völlig wehrlos ausgesetzt wäre, dem ich nicht entrinnen könnte.«

Auge um Auge

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