Читать книгу Das Vermächtnis der Feuerfrau - Susan Carroll - Страница 6
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ОглавлениеLady Rosalind Carlyon saß am geöffneten Fenster und stützte das Kinn auf die Hände. Ihr langes Haar floss in einem goldenen Zopf den Rücken ihres weißen Batistnachthemds hinab, und ihre nackten Zehen lugten unter dessen Saum hervor.
Mit Augen vom Blau eines ruhigen Sommersees schaute sie sehnsuchtsvoll aus dem Fenster ihrer Kammer im ersten Stock des Gasthofs Dragon’s Fire. Ihr Blick wanderte vom Hof der Herberge zu der Wiese, auf der man bis zum Einbruch der Dunkelheit den Jahrmarkt abgehalten hatte. Rosalind hatte den ganzen Abend hinübergeschaut. Es hatte ein Puppenspiel gegeben, ein Feuerschlucker war aufgetreten, Musikanten hatten zum Tanz aufgespielt, und die vielen Zelte hatte man in der Tradition mittelalterlicher Turniere mit Fähnchen, Wimpeln und bunten Bändern geschmückt. Einmal hatte Rosalind sogar geglaubt, dass Ritter in einem Turnier gegeneinander angetreten waren. Aber an der Stelle hatte ein solches Gedränge geherrscht, dass sie unmöglich mehr erkennen konnte.
Rosalind hatte impulsiv nach ihrem Schal gegriffen und sich schon erhoben, um nach unten und zum Festplatz zu laufen und selbst herauszufinden, was sich da vorn tat, ja, sich überhaupt in den vielen Farben und Attraktionen zu verlieren. Aber ihre Zofe hielt sie zurück.
Kaum hatte sie ihren Wunsch geäußert, die Festwiese zu besuchen, hatte sich Jenny Greys normalerweise ernster Blick in einen höchsten Entsetzens verwandelt.
»O nein, Mylady!«, rief die Zofe. »Diese ländlichen Jahrmärkte bergen viel zu viele Gefahren. Und allerlei grobes, vulgäres und auch sonst gemeines Gesindel treibt sich dort herum. Auf gar keinen Fall sind solche Volksbelustigungen ein Ort für eine junge Lady, um dort allein spazieren zu gehen. Und was würde Seine Lordschaft – Gott sei seiner edlen Seele gnädig – davon halten? Und was seine Tanten?«
Die bloße Erwähnung von Clothilde und Miranda Carlyon mit ihren sauertöpfischen Mienen und ihren ewig tadelnden Blicken reichte fast schon für Rosalind aus, um durch die Tür nach draußen zu rennen und nur noch das zu tun, was ihr gerade Spaß machte. Immerhin war sie kein dummes Schulmädchen mehr, sondern eine einundzwanzigjährige Witwe.
Am Ende hatte sie jedoch Jennys Drängen nachgegeben und sich mit ihrer reichlich zerlesenen Ausgabe von Thomas Malorys Meisterroman Der Tod Arthurs an den Ofen zurückgezogen.
Als Rosalind jetzt am offenen Fenster saß und auf die leere Festwiese schaute, bedauerte sie ihren Gehorsam von vorhin. Die lachende Menge hatte sich längst entfernt, alle Fackeln waren gelöscht, die Zelte abgebaut. Sie hatte das Gefühl, verloren und allein zurückgelassen worden zu sein, während der Rest der Welt weiterzog. Dabei hatte sie sich doch nicht mehr gewünscht als ein klitzekleines bisschen Spaß, den Hauch von Abenteuer und Aufregung. Davon hatte sie nämlich in ihrem schon über zwei Jahrzehnte währenden Leben noch viel zu wenig abbekommen. ,
Sie war die einzige Tochter eines älteren Ehepaars gewesen, das ihr Kind nach Kräften verwöhnt hatte. Als Walter und Sarah Burne dann einer Cholera-Epidemie zum Opfer gefallen waren, war Rosalind in die Obhut ihres Vormunds gelangt, des Lords Arthur Carlyon, einem höchst ehrenwerten Gentleman.
Trotz des Altersunterschieds zwischen ihnen – der Lord war zwanzig Jahre älter als sie – hatte Rosalind es als vernünftig und natürlich angesehen, Arthur Carlyon zu heiraten. Seit einem Jahr war sie nun Witwe und trauerte immer noch um ihren verschiedenen Gemahl.
Der Ort lag jetzt in völliger Stille da. Die Häuser kuschelten sich unter ihren strohgedeckten Dächern, so als hätten sie sich ihre Nachtmützen aufgesetzt und dann zur Ruhe begeben.
Rosalind glaubte der einzige wache Mensch weit und breit zu sein und fühlte sich allein. Seit Arthurs Tod hatte sie Schwierigkeiten, einzuschlafen. Jenny hatte sich in die Küche der Herberge begeben, um einen Tee zu brauen, von dem sie schwor, dass er Schlaflosigkeit vertreibe.
Rosalind konnte nur hoffen, dass ihre Zofe damit Recht behielt. Sie bedurfte dringend der Ruhe, denn sonst wäre sie morgen viel zu ermattet. Sie wollte nämlich jemanden besuchen, bevor sie ihre Reise fortsetzte. Schon immer hatte sie sich geschworen, dass sie, sollte ein günstiges Geschick sie jemals in diesen Teil des Landes führen, einen alten Freund ihres Vaters aufsuchen würde, den Reverend Septimus Fitzleger.
Sie war dem ältlichen Geistlichen erst einmal begegnet, und das vor vielen Jahren, als Septimus Fitzleger sie in ihrem Haus in Hampshire besuchte. Sie erinnerte sich aber immer noch lebhaft an den freundlichen älteren Gentleman, der sie auf seine Knie gesetzt hatte. Er hatte allerlei Naschwerk dabeigehabt, und sie hatte mit seiner Taschenuhr spielen dürfen. Damals war er ihr eher wie ein gutmütiger Zauberer als wie ein Gottesmann erschienen. Ja, er hatte sie mit seinem weißen Haarkranz und den weisen, leuchtenden Augen an Merlin erinnert.
Septimus hatte ihr lustige und auch spannende Geschichten über das Land erzählt, aus dem er stammte – und das unterschied sich gar sehr von dem wohlgeordneten Haus und Garten, in dem sie wie eine behütete Prinzessin aufwuchs.
Der Reverend war in einer Gegend zu Hause, in welcher Stürme gegen Küstenklippen anfegten, in dem es wilde Moore gab und in dem sich hoch über der See ein Märchenschloss erhob. »Cornwall« hatte Rosalind den Namen dieses wundersamen Landes für sich wiederholt und war der festen Überzeugung gewesen, dass es nicht zu England gehöre, sondern ein ganz eigenes, ein verzaubertes Königreich sei.
»Und eines Tages, Miss Rosalind«, hatte Mr. Fitzleger sie mit einem wissenden Lächeln gebeten, »wenn Ihr eine erwachsene Lady seid, müsst Ihr mich unbedingt in meinem Land am Meer besuchen.«
Rosalind hatte ihm darauf ihr feierliches Ehrenwort gegeben. Und jetzt, viele Jahre später, war es endlich so weit. Dabei wusste sie nicht einmal, ob der gütige alte Mann überhaupt noch unter den Lebenden weilte.
Morgen früh wollte sie es herausfinden. Und da durfte sie natürlich nicht verschlafen, weil sie heute zu lange aufblieb.
Sie schloss das Fenster und wollte zum Bett gehen, als die Tür aufflog und Jenny hereinplatzte. Aber die Zofe trug keinen Tee in den zitternden Händen.
Jenny warf die Tür hinter sich zu und lehnte sich dagegen. Ihr Gesicht war so weiß wie ihre Haube, die ihr sonderbar schief auf dem Kopf hing. Sie war außer Atem und zitterte wie ein Hase, der gerade von einem Rudel Jagdhunde umzingelt wird.
Rosalind hatte sich rasch von ihrem Schrecken erholt und lief zu ihrer Zofe.
»Aber Jenny, was ist denn mit dir, du armes Ding?«
Die Zofe schüttelte den Kopf, um anzuzeigen, dass sie noch nicht sprechen konnte. Sie keuchte nicht nur, sie drohte auch jeden Moment in Ohnmacht zu fallen. Rosalind konnte sie schließlich von der Tür fortziehen und zu dem Sessel am offenen Kamin führen. Sie hockte sich zu ihr auf die Lehne und rieb Jenny die Handgelenke. Als etwas Farbe in deren Gesicht zurückkehrte, wagte sie es, ihr Fragen zu stellen.
»Willst du mir jetzt verraten, was vorgefallen ist?«
»Ach, Mylady ... ach, Mylady ...«, konnte die Zofe nur ächzen.
Rosalind drückte ihr die Hand. »Du scheinst ja einen tüchtigen Schrecken bekommen zu haben. Ist dir unten in der Schankstube irgendein Flegel zu nahe getreten? Oder hat sonst jemand versucht, dir etwas anzutun?«
»Nicht jemand«, stammelte Jenny rätselhaft, »kein Mensch.«
»Wie bitte?«
Jenny gewann ihre Fassung so weit zurück, dass sie sich etwas aufsetzen und zögernd berichten konnte: »Ich ... machte mich auf den Weg ... in die Küche ... und habe mich wohl verlaufen ... Da stieß ich auf ... auf eine Vorratskammer ... in der es ganz dunkel war ... und im nächsten Moment stand das Furchtbarste ...« Sie konnte vor Bibbern und Zittern nicht weitersprechen.
»Eine Ratte?«, fragte Rosalind vorsichtig.
»Nein, Mylady, viel, viel schlimmer ... Ein G-G-Geist!«
Rosalind starrte ihre Zofe verständnislos an.
»Ich sage die Wahrheit.« Jennys Haube wackelte auf und ab, während sie zur Bestätigung ihrer Worte heftig nickte. »Das schwöre ich beim Grab meiner Mutter. Ein Geist tauchte vor mir auf, ein Ritter in seiner Rüstung. So einer wie der, von dem Ihr mir berichtet habt.« Jenny schluckte und errötete, konnte danach aber etwas freier sprechen. »Ich bekam solche Angst, dass ich keinen Ton hervorbrachte. Dann ging meine Kerze aus, bevor ich mir das Gespenst genauer ansehen konnte. Aber ich bin mir sicher, dass es sich bei ihm um die grässliche Erscheinung handelte, die schon den armen Sir Gawein heimsuchte.«
»O nein«, murmelte Rosalind. »Hör zu, Jenny, was ich dir über Sir Gawein erzählt habe, war doch nur eine Geschichte aus dem Sagenkreis um König Artus und seine Tafelrunde.«
»Aber Ihr habt doch gesagt, Mylady, dass es König Artus wirklich gegeben habe. Dass Ihr deswegen nach Cornwall wolltet, um Euch die Reste der Burg anzusehen, in welcher er geboren wurde, und auch die Höhlen, in welchen Merlin seine Zauber trieb.«
»Nun ja, das habe ich vor«, gestand Rosalind ein, »und Artus soll es tatsächlich vor langer, langer Zeit gegeben haben. Nur ...«
»Dann ist ja wohl auch der Rest wahr, und also habe ich wirklich den Geist gesehen, der immer noch sein Unwesen treibt.«
Für Jenny schien das vollkommen logisch zu sein, und sie hatte sich von ihrem Schrecken noch nicht erholt, so dass Rosalind ein schlechtes Gewissen bekam und nicht im Traum daran dachte, über ihre törichte Zofe zu lachen.
Das war ihre Schuld. Würde sie es jemals lernen? Arthur hatte sie oft genug ermahnt. Wenn sie sich so lebhaft für die alten Sagen erwärmte, mochte das ja noch angehen, aber sie sollte sich vor der Dienerschaft zügeln, um die nicht mit ihrer Begeisterung anzustecken. Und sie sollte sich erst recht davor hüten, dem Gesinde Flausen über Vampire und Toten- und Poltergeister in den Kopf zu setzen. Mr. James, ihr Butler, hatte sich bereits darüber beschwert, dass er keinen Knecht mehr dazu bewegen könne, allein und ohne Schutz eine Flasche Portwein aus dem Keller zu holen.
Rosalind hatte sich danach wirklich zurückgehalten. Aber dann hatte sie ihre neue Zofe, Jenny, bekommen, eine Frau, die offensichtlich nichts erschüttern konnte und die Rosalinds besondere Vorliebe für alte Ritter- und Schauergeschichten teilte.
Erst vorhin noch hatte Jenny mit den anderen Bediensteten in der Herberge Klatsch und Tratsch ausgetauscht, ehe sie das Abendessen für Rosalind auftrug. Sie kam mit faszinierenden Geschichten und Gerüchten zurück, die sich vornehmlich um eine geheimnisvolle Burg ganz in der Nähe drehten, welche von der merkwürdigen Familie St. Leger bewohnt werde.
Rosalind und Jenny verbrachten ein wunderbares Abendessen, bei dem sie sich mit allerlei Geschichten über Zaubermächtige, Gespenster und noch schaurigere Dinge zu übertrumpfen versuchten. Aber Rosalind musste sich jetzt eingestehen, dass sie es wieder einmal gründlich übertrieben und der armen Jenny einen Floh ins Ohr gesetzt hatte, der sie nun um den Verstand zu bringen drohte. Rosalind versuchte die Zofe zu besänftigen, drängte sie, die ganze Sache zu vergessen, und forderte sie auf, sich zur Ruhe zu begeben. Aber Jenny hörte nicht auf zu zittern.
»O nein, Mylady, ich ... ich werde einfach hier in diesem Sessel sitzen bleiben ... bis zum Morgengrauen. Ich bin sicher, ich würde kein Auge zubekommen. Nicht in einem so heimgesuchten Gasthof!«
Mit anderen Worten, Rosalind würde ebenfalls keinen Schlaf finden. Sie seufzte, denn ihr fiel nur eine Möglichkeit ein, den Schaden, welchen sie angerichtet hatte, wieder gutzumachen, und die löste nicht gerade Begeisterung in ihr aus.
Sie legte ihrer Zofe eine Hand auf die Schulter und meinte: »Was hältst du davon, wenn ich mich jetzt zu dieser Vorratskammer begebe und mich dort ein wenig umsehe? Und wenn ich dir danach berichten kann, dass dort unten kein Geist sein Unwesen treibt, wirst du dich dann beruhigen?«
»Oh!«, machte Jenny und verzog bekümmert den Mund. »Ich würde niemals zulassen, dass Ihr Euch einer solchen Gefahr aussetzt, Mylady. Und wenn das Gespenst immer noch dort herumspukt? Fürchtet Ihr Euch denn nicht vor solchen Erscheinungen?«
»Weiß nicht«, antwortete Rosalind aufrichtig, »ich bin noch nie einer begegnet.«
Dann kamen ihr aber doch einige Bedenken. Vielleicht sollte sie besser den Wirt verständigen und von ihm verlangen, einen seiner Diener dort nachschauen zu lassen. Aber Mr. Silas Braggs hatte etwas Schmieriges an sich. Seine schmalen und zu eng zusammenstehenden Augen und das hinterhältige Grinsen hatten Rosalind von Anfang an abgestoßen. So beschloss sie, lieber selbst die Vorratskammer zu erkunden, als sich den öligen Komplimenten dieses Mannes auszusetzen.
Davon abgesehen, hörte es sich doch ganz abenteuerlich an, nachts um die dunklen Ecken eines Gasthofs zu schleichen. Sicher nicht das Bedeutendste ihres Lebens, aber immerhin.
Gesagt, getan. Rosalind erhob sich und nahm eine Kerze, ehe sie es sich anders überlegen konnte. Jenny flehte sie an, doch hier zu bleiben.
Die Zofe zitterte noch immer so arg, dass Rosalind ihr ihre eigene Stola um die Schultern legte und ihr eine Schachtel mit Schokoladenköstlichkeiten brachte. Dann versprach sie, so bald wie möglich zurückzukehren, und verließ den Raum.
Draußen zögerte Rosalind einen Moment, denn die Ortsangaben ihrer Zofe waren ein wenig unzusammenhängend erfolgt. Es würde doch gehörig den Spaß an dem Abenteuer dämpfen, wenn sie die falsche Tür aufriss und damit einen nichts ahnenden Gast aufschreckte.
Vorsichtig setzte sie sich in Bewegung und schützte die Kerzenflamme mit einer Hand vor der Zugluft, die hier von überall gleichzeitig zu kommen schien. Zu ihrem Glück erwies es sich dann doch als nicht so schwierig, die Vorratskammer zu finden. Die war am Ende eines langen Gangs, und Jenny hatte es wegen ihrer Flucht nicht mehr geschafft, die Tür zu schließen.
Rosalind öffnete sie ganz und spähte mit schneller klopfendem Herzen in die Finsternis, welche sie dahinter erwartete. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, schlich hinein und hielt die brennende Kerze wie ein Schwert vor sich. Im Grunde genommen erwartete sie hier nichts Unheimlicheres vorzufinden als ein ausgemustertes Möbelstück, das im Mondlicht bizarre Schatten an die Wand warf.
Rosalind fand sich in einem größeren Raum wieder, in dem es sogar ein Fenster gab. Wenn nicht gerade eine Wolke am Mond vorüberzog, fielen dessen Strahlen tatsächlich auf den Boden. Vor Zeiten war hier gewiss ein hübsches Schlafzimmer, das man für die illusteren unter den Gästen bereithielt.
Doch heute schien man den Raum nur noch als Abstellkammer zu nutzen, wie sich an den vielen Kisten, Truhen und Stühlen erkennen ließ, die um einen Tisch mit einem abgebrochenen Bein gruppiert standen. Der rußgeschwärzte offene Kamin wirkte traurig, wahrscheinlich, weil er so lange nicht benutzt worden war.
Rosalind drehte die Hand mit der Kerze, damit das Licht in jede Ecke dringen konnte. Wenn sich hier wirklich ein Geist herumgetrieben haben sollte, so ließ er sich jetzt nicht blicken. Sie seufzte. Zum einen war sie ja froh, auf nichts Außergewöhnliches gestoßen zu sein. Doch zum anderen fühlte sie sich auf unerklärliche Weise enttäuscht. Den Ritter, der aus der Wand schwebte, bemerkte sie allerdings erst, als sie durch ihn hindurchschritt.
Ihr ganzer Körper erbebte von diesem Gefühl - so als würden ihre Adern von Lichtsplittern durchbohrt. Und ihre Seele drohte an zwei widerstrebenden Gefühlen zu zerreißen: Wärme von intimer Nähe und Kälte von Verzweiflung.
Rosalind stolperte ein paar Schritte weiter und fühlte sich wie betäubt, weil sie keine Ahnung hatte, was genau ihr gerade widerfahren war. Sie zitterte am ganzen Körper. Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen, und ihre Nackenhaare stellten sich auf.
Ganz langsam drehte sie sich um.
Da stand das Gespenst, vielleicht einen halben Meter von ihr entfernt, und sah sie an, als wollte es sie mit seinem Blick durchbohren. Sein schwarzes Haar, sein Umhang und das dunkle Metall seines Kettenhemds schienen danach ausgesucht, mit der Dunkelheit zu verschmelzen - ein Ritter, der direkt aus Artus’ Hallen auf Camelot kam.
Rosalind begriff, was ihr gerade geschehen war – sie war soeben durch einen Geist gelaufen.
Unter anderen Umständen, vor allem, wenn ihr noch ihre Stimme geblieben wäre, hätte sie jetzt geschrien, aber so kam nur ein leises Stöhnen zu Stande. Sie ließ die Kerze fallen, zog sich vor der Erscheinung zurück und wich nach hinten, bis es nicht weiterging. Sie presste sich so flach wie möglich an die Wand.
Die Kerze verlosch, aber sie stand mitten in einem Mondstrahl. Eine halbe Ewigkeit regte der Ritter sich nicht und starrte sie nur an. Rosalind erholte sich von ihrem ersten Schrecken und konnte sogar schon wieder atmen, als der Geist sich bewegte ...
... und auf sie zukam.
Sie schluckte und versuchte gleichzeitig einzuatmen und zu schreien. Der Ritter schwebte in ihren Lichtkreis. Rosalind traute sich nicht, ihn anzusehen, weil sie befürchtete, ein grausiges Antlitz erblicken zu müssen.
Dann wagte sie doch einen vorsichtigen Blick - und ihr blieb das rasende Herz von einem Moment auf den anderen stehen.
Das Licht offenbarte ihr die Züge eines Helden, der direkt einem Sagenbuch oder den geheimsten Träumen einer Frau entstiegen sein musste. Hohe Wangenknochen und ein markantes Kinn, volle Lippen und Augenbrauen wie gerade Striche und vom selben köstlichen Schwarz wie sein Haupthaar. Ein starkes männliches Gesicht, aus dem für einen Geist bemerkenswert viel Charakter und Vitalität strahlten. Der Ärmste konnte im Moment seines Todes noch nicht sehr alt gewesen sein, höchstens dreißig.
Dieser Gedanke erfüllte Rosalind mit unglaublicher Trauer.
Aus der Nähe betrachtet, wirkte dieses Gespenst auch nicht mehr sehr bedrohlich. Und die schwarzen Augen schauten nicht so sehr grimmig als vielmehr müde und gepeinigt drein. Der Ritter konnte einen mit diesem Blick gefangen nehmen.
»Bitte, fürchtet Euch nicht«, sagte er jetzt sanft.
»Ich ... ich fürchte mich doch gar nicht«, stammelte Rosalind und stellte zu ihrer Verblüffung fest, dass das nicht einmal falsch war.
»Ihr werdet doch jetzt nicht schreien?«, fragte der Ritter. »Oder in Ohnmacht fallen?«
Sie schüttelte den Kopf und versuchte sich zusammenzureißen, während ihr Blick staunend über den Geist wanderte. Dabei ging Rosalind durch den Kopf, dass sie sich noch nie Gedanken darüber gemacht hatte, wie ein Gespenst aussehen würde, wenn sie denn einmal einem begegnen würde. Vielleicht etwas durchsichtiger, unwirklicher.
Aber sie hatte doch gesehen, wie er aus der Wand gekommen war, oder? Wenn sie ihn jetzt betrachtete, wirkte er viel zu fest und solide, um so etwas bewerkstelligen zu können. Rosalind hatte den Eindruck, diesen Mann wirklich spüren zu können, wenn sie ihm eine Hand auf die breite, harte Brust legte.
Sie streckte die Rechte aus, aber ihre Finger fuhren einfach durch den Ritter hindurch, und das hinterließ wieder ein Prickeln. Hastig zog sie ihre Hand zurück.
Somit bestand kein Zweifel mehr. Dieser Ritter stammte nicht von dieser Welt. Vielleicht würde sie ja doch gleich in Ohnmacht fallen.
Rosalind ließ sich aber nur mit wackligen Beinen auf der Truhe nieder. Der Geist betrachtete die Stelle, an der die zarten Mädchenfinger ihn durchstoßen hatten. Rosalind konnte nicht, ausmachen, ob seine Miene Verärgerung oder nur Verwunderung ausdrückte.
»Das ... das war sehr ungehörig von mir«, entschuldigte sie sich, als sie endlich ihre Stimme wiedergefunden hatte. »Verzeiht bitte, ich hätte Euch nicht mit meiner Hand stechen dürfen.«
»Das macht überhaupt nichts, Mylady. Ich bin mir sicher, dass Eure Finger sich zart und weich anfühlen. Wie schade, dass ich diese Berührung nicht spüren konnte.« Ein Hauch des Bedauerns lag über seinem Lächeln.
»Ihr seid wirklich ein Geist,« murmelte Rosalind, so als müsste sie sich selbst davon überzeugen, nicht zu träumen.
»Ein Geist?«, wiederholte der Ritter verwirrt, als wäre ihm das vorher noch gar nicht aufgefallen. »Äh ... nun ... ja, richtig, genau das bin ich.«
»Aber wessen Geist seid Ihr? Wie heißt Ihr?«
»Lancelot.«
»Doch nicht Lancelot vom See?«, sagte Rosalind ergriffen.
»Wer? Oh ... äh ... ja, derselbe. Lancelot vom See. Ich stehe Euch zu Diensten, Mylady.« Der Ritter beugte ein Knie vor ihr.
Niemals hatte Rosalind etwas Romantischeres von einem Mann erlebt. Diese Geste kam so selbstverständlich und mühelos, als hätte er sein ganzes Leben nichts anderes getan, als Ladys auf diese Weise zu huldigen. Das war doch ein eindeutiger Beweis dafür, dass er wirklich der war, für den er sich ausgab.
Und ihr fiel nichts Besseres ein, als sich mit beiden Händen am Truhendeckel festzuhalten und ihn wie ein Fisch auf dem Trockenen mit offenem Mund anzustarren.
Lancelot vom See? Der echte, einzige Lancelot! Der Geist des berühmtesten Ritters von Artus’ Tafelrunde. Konnte das denn wirklich möglich sein?
Aber welchen Grund sollte ein Geist haben zu lügen?
In ihrem Leben gab es viele Menschen, die sie eine Närrin. schimpfen würden, einem Gespenst so etwas zu glauben. Nur ihr Papa hätte sie verstanden. Walter Burne hatte selbst Forschungen über den Sagenkönig betrieben. Oft genug hatte er den Spott seiner gelehrten Kollegen ertragen müssen, weil er darauf beharrte, dass es tatsächlich einmal einen König Artus in Britannien gegeben habe. Und damit auch seine Tafelrunde.
Der kniende Ritter vor ihr bewies doch wohl ausreichend, dass ihr Vater sich keinen versponnenen Ideen hingegeben hatte. Rosalind erlebte ein Wechselbad der Gefühle. Ungläubigkeit wich vor Ehrfurcht zurück, und der folgte eine Woge ungekannter Freude.
»Papa hatte Recht«, flüsterte sie.
»Wie meinen, Mylady?«
»Mein Vater lag richtig!«, rief Rosalind mit inbrünstiger Überzeugung. »Lancelot vom See! Das ist wirklich zu schön, um wahr zu sein! Wusstet Ihr, dass ich nur aus dem Grund nach Cornwall gereist bin, Euch zu finden?«
»Das seid Ihr?«, fragte er verwundert und erhob sich. »Ich meine, solches tatet Ihr?«
»Na ja, nicht direkt Eigentlich halte ich seit langem nach allem Ausschau, was mit der Artussage zu tun hat. Aus diesem Grund habe ich mich auch auf den Weg nach Cornwall gemacht, um hier solche wundersamen Orte wie die Burg Tintagel, King’s Wood oder Maiden Lake zu besuchen. Edler Ritter, Ihr wärt erstaunt, ja, vielleicht sogar verärgert, wenn Ihr wüsstet, wie viele Menschen sich schlichtweg weigern zu glauben, dass es Euch und Eure Gefährten wirklich gegeben hat.« Rosalind hob den Kopf und strahlte ihn an. »Aber Ihr seid ja der beste Beweis dafür, so wie Ihr hier vor mir steht.«
Lancelot wurde blass, was man doch eigentlich nach landläufiger Meinung nicht von einem Geist erwarten durfte, oder? Er wich jetzt vor ihr zurück, verschwand in den Schatten und machte auch sonst den Eindruck, als wollte er vor ihr fliehen.
»O bitte, ich bin ein ... äh ... Geist im Ruhestand. Wenn Ihr meine Existenz publik macht, sehe ich mich täglich aufs Neue von Horden von Gaffern umringt. Und so etwas behagt mir ganz und gar nicht.«
»Aber nein, natürlich nicht«, versuchte Rosalind ihn zu beruhigen, »ich hatte auch gar nicht vor, das irgendwem zu erzählen. Dann würden die Menschen mich noch mehr als vorher als eine Närrin betrachten. Mir reicht es vollkommen, Beweise für Eure Existenz erhalten zu haben. Wenn Ihr es nicht wünscht, soll niemand sonst je davon erfahren.«
»Das wäre mir sehr lieb. Allerdings befürchte ich, mich schon unbedachterweise jemandem gezeigt zu haben. Dem Mädchen, das vor einer Weile hier hereinplatzte.«
»Jenny Ja, der habt Ihr einen tüchtigen Schrecken eingejagt.« Rosalind kicherte. »Aber sie kam nicht dazu, sich Euch genauer anzusehen. Ich bin auch nur hierher gekommen, um ihr versichern zu können, dass es an diesem Ort nicht spukt. Und genau das werde ich auch tun. Aber Ihr müsst mir versprechen, sie nicht noch einmal zu erschrecken.«
»Sehr gern sogar. Ich hoffe, sie erholt sich wieder.«
»Natürlich. Ich habe ihr meine Stola um die Schultern gelegt und ihr eine Schachtel mit Naschwerk vorgesetzt. Schon bei mehreren Gelegenheiten durfte ich nämlich feststellen, dass Schokolade eine erstaunlich beruhigende Wirkung auf die Nerven besitzt.«
Rosalind glaubte nach diesen Worten ein Lächeln bemerkt zu haben. Auf jeden Fall vertraute er ihr jetzt genug, um in den Lichtkreis zurückzukehren. Wenn sie allerdings bedachte, dass er einst ein tapferer Ritter gewesen war, berührte es sie sehr, ihn so unsicher und sogar verletzlich zu erleben..
Seine Schüchternheit bezauberte sie sogar. Rosalind neigte selbst dazu, sich wie ein scheues Reh zu geben, vor allem in Gesellschaft gut aussehender junger Männer. Deswegen war es auch so angenehm für sie, Arthur zu heiraten; den hatte sie immerhin schon seit frühester Kindheit gekannt.
Wenn Lancelot lebendig, in Fleisch und Blut, vor ihr gestanden hätte, wäre sie so überwältigt gewesen, dass ihr keine zwei zusammenhängenden Worte über die Lippen gekommen wären. Seine Schönheit übermannte sie, und übergroß war er auch nicht; sie könnte sich gerade unter sein Kinn stellen – wenn er denn noch am Leben wäre.
Doch ein Geist versetzte sie eigenartigerweise nicht in Unruhe. Sie erhob sich und stellte befriedigt fest, dass ihre Beine nicht mehr zitterten, auch wenn Lancelot sich nun daran machte, sie mit seinen schönen dunklen Augen von Kopf bis Fuß zu mustern.
»So seid Ihr die Gouvernante von Jenny?«, fragte er.
»Aber nein«, antwortete Rosalind lachend. »Sie ist meine Zofe.« Die Heiterkeit verging ihr jedoch im nächsten Moment, als ihr bewusst wurde, dass sie sich dem edlen Ritter noch gar nicht vorgestellt hatte. Was musste er nur von ihr denken?
»Verzeiht, wo sind bloß meine guten Manieren geblieben? Ich habe Euch noch nicht einmal gesagt, wer ich bin.«
»Ich glaube, das weiß ich bereits.«
»Wirklich?«
»Ihr müsst die Herrin vom See sein, die bezaubernde Jungfer, die aus ihrer Burg unter den schimmernden Wassern des Maiden Lake stieg, um meinem Lehnsherrn Artus das Wunderschwert Excalibur zu überreichen.«
»O nein, nein!«, rief Rosalind, enttäuscht über seinen Irrtum.
»Aber Ihr besitzt die Augen dieser Zauberin, von der Farbe von Juwelen, und Ihr seid gekleidet in weißes Sammet.«
Weißes Sammet? Was redete der Ritter denn da? Rosalind sah an sich hinab und entdeckte zu ihrem maßlosen Entsetzen, dass sie die ganze Zeit im Nachthemd vor Lancelot auf und ab lief. Warum musste sie immer so impulsiv sein? Sie war aus dem Gästezimmer gestürmt, ohne daran zu denken, sich einen Schal oder einen Morgenmantel umzulegen.
Rosalind errötete und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Geist schien ihre Verlegenheit zu spüren, denn er wandte den Blick ab. Ob dieser Mann nun tot oder lebendig war, er verstand sich vorzüglich auf die Ritterlichkeit.
Vorsichtshalber trat Rosalind auch noch einen Schritt zur Seite, um nicht mitten im Licht zu stehen. »Das ist kein Samt, sondern nur ein leinenes Nachthemd«, erklärte sie und errötete noch mehr.
»Dann seit Ihr wohl nicht meine Herrin vom See?«
»Leider nicht.«
»Und Ihr habt auch kein Zauberschwert für mich?«
»Ich fürchte, ich muss schon wieder verneinen. Braucht Ihr denn eine solche Klinge?«
»Ihr ahnt ja nicht, wie sehr.«
Rosalind verwirrte diese Antwort. Was wollte ein Geist mit einem Schwert? Selbst wenn es sich bei ihm um Lancelot handelte?
Als sie ihn danach wieder ansah, bemerkte sie das Funkeln in seinen Augen und das Lächeln in den Mundwinkeln. Jetzt begriff sie, was hier vor sich ging.
»Ah, Ihr habt das nie wirklich geglaubt ... mich nur aufgezogen.«
»Ich bekenne mich schuldig. Vergebt Ihr mir, Mylady?«
Rosalind bemühte sich, empört zu erscheinen, aber das wollte ihr nicht gelingen. Ihr verstorbener Gemahl war ein lieber, aber sehr ernster Mensch gewesen. Und auch sonst hatte man Rosalind nur selten aufgezogen. Aber jetzt musste sie feststellen, dass ihr das eigentlich nichts ausmachte.
Der Ritter blickte auch gar nicht spöttisch. Nein, eher amüsiert und fast zärtlich. Auf der ganzen Welt gab es wohl keine Frau, die Lancelot nicht in diesem Moment vergeben hätte. Und Rosalind hatte gewiss nicht vor, hierin eine Ausnahme zu bilden.
»Verzeiht mir, Mylady«, bat er noch einmal und noch sanfter.
»Das will ich tun«, entgegnete sie, »aber nur, weil es mich freut, dass Ihr nach so vielen Jahrhunderten Euren Humor noch nicht verloren habt.«
»Mehr ist mir ja auch kaum geblieben.« Etwas schien ihm in den Sinn gekommen zu sein, das ihn mit großer Trauer erfüllte. Aber es gelang dem Ritter, seine Aufmerksamkeit wieder auf Rosalind zu richten.
»Wenn Ihr also weder eine Gouvernante noch die Herrin vom See seid, wie darf ich Euch dann anreden?«
»Ich bin Lady Rosalind Carlyon«, antwortete sie mit einem Knicks und reichte ihm höflich die Hand, bloß um sie gleich wieder zurückzuziehen, als ihr einfiel, was vorhin geschehen war.
»Und Ihr reist auf der Suche nach Belegen für die alten Sagen durch Cornwall, Lady Rosalind?«
»Ja. Das hört sich für Euch sicher sonderbar an, weil Ladys so etwas zu Eurer Zeit nicht zu tun pflegten. Aber das mussten sie auch gar nicht, denn sie lebten ja inmitten von Sagen und Legenden. Solche Unternehmungen sind allerdings auch heute kein Normalfall. Doch mein eigener Vater hat sich der Erforschung der Artus-Zeit verschrieben. Vermutlich habe ich seine Besessenheit geerbt. Schon als kleines Mädchen wollte ich diese Reise ins Land dieses bedeutenden Königs antreten, Tintagel sehen, wo Artus geboren wurde, und den magischen See, aus dem er das Schwert Excalibur empfing. Aber als Kind hätte ich nie gedacht, dass ich diese Reise allein würde antreten müssen.«,
»Oh, dann ist Euer Vater ... von Euch gegangen?«
»Sie haben mich alle verlassen. Mama, Papa und ...«, Rosalind konnte ein leises Schluchzen nicht unterdrücken, »... und mein Ehemann, den ich erst letztes Jahr verlor.«
»Das tut mir sehr Leid zu hören«, bemerkte der Ritter leise und sah sie dann wieder an. »Ihr wirkt so jung für eine Witwe, seid ganz allein auf der Welt. Habt Ihr denn keine Brüder oder Schwestern?«
»Nein, ich habe niemanden mehr ...« Rosalind senkte rasch den Kopf, weil sie befürchtete, wieder viel zu vertrauensselig zu sein. Ihr Gemahl hatte ihr auch schon immer vorgehalten, zu wenig nötigen Abstand zu Fremden zu wahren. Jeder, der ihr mit ein wenig Freundlichkeit begegnete, den zog sie gleich in ihr Vertrauen. Aber musste man auch gegenüber einem freundlichen Geist misstrauisch sein?
Rosalind spürte einen Hauch auf der Wange, so als wäre der sanfteste Luftzug vorübergestrichen. Sie hob den Kopf wieder und sah, wie Lancelot versuchte sie zu berühren. Vergeblich natürlich.
Mit hilfloser und unglücklicher Miene ließ er die Hand hinabsinken. Dafür trafen sich ihrer beider Blicke.
In diesem Moment durchfuhr es Rosalind. Etwas, das sie wiedererkannte. Eine so starke und innige Verbindung, dass diese sich nicht mit Worten beschreiben ließ. Die beruhigende Gewissheit, dass dieser Ritter ihren Verlust voll und ganz verstand – weil er nämlich ebenso allein war.
Je länger sie ihm in die Augen blickte, desto mehr Gewissheit gewann sie. Lancelot vom See war ihr vertraut. Dank der Bücher und Geschichten kannte sie ihn schon ihr Leben lang, hatte von seiner Vornehmheit, seiner Tapferkeit und seiner Ritterlichkeit erfahren, wusste mehr von ihm als von ihrem teuren Arthur.
Rosalind spürte aber auch, dass all ihr Gerede darüber, niemanden mehr zu haben, ihn traurig machte. Das durfte natürlich nicht sein. Er hatte genug eigenen Kummer auf den breiten Schultern zu tragen. So setzte sie ein Lächeln auf und nahm sich vor, ihn aufzuheitern.
»Allerdings bin ich nicht ganz allein. Ich vergesse doch immer wieder Miranda und Clothilde.«
»Oh, ich verstehe, Ihr sprecht von Euren teuren Haustieren. Sind das etwa Eure Hunde?«
»Nein, die unverheirateten Tanten meines verschiedenen Gemahls. Wir leben nun zusammen, müsst Ihr wissen. Nur ...«, sie verzog das Gesicht, »... nur hat sich diese Regelung nicht immer als die glücklichste erwiesen.«
Lancelot legte die Stirn in Falten. »Die beiden begegnen Euch mit Grausamkeit, Mylady?«
»Aber nein. Im Grunde handelt es sich bei ihnen um sehr liebe Frauen, nur haben sie eben ihre ganz eigenen Ansichten darüber, was sich für eine junge Witwe schickt und was nicht.« Rosalind errötete schuldbewusst. »Die Tanten haben keine Ahnung, warum ich diese Reise in Wirklichkeit angetreten habe. Sie glauben, ich sei unterwegs, um einige ältliche Kusinen meines Gemahls in Conway zu besuchen. Natürlich werde ich das auch noch tun. Ich habe lediglich einen kleinen Abstecher eingelegt und will dem noch weitere folgen lassen.«
»Euer Geheimnis ist bei mir so sicher wie in Abrahams Schoß, Mylady«, beteuerte Lancelot mit einem lustigen Zwinkern.
»Danke«, sägte Rosalind verlegen lächelnd. »Sonst müsste ich nämlich gleich nach Kent zurück und dort Socken stopfen und Gläser mit Kalbskopfsülze an die Armen und Bedürftigen verteilen.« Bei der Erinnerung musste sie wieder grinsen. »Dabei macht Ihr Euch keine Vorstellung, wie scheußlich meine Kalbskopfsülze schmeckt. Die Armen in unserem Dorf haben längst begriffen, dass sie sich besser verziehen, wenn ich mit meinem Korb anrücke.«
Lancelot grinste ebenfalls, und sein Grinsen wirkte fast noch charmanter als sein Lächeln. Rosalind spürte, dass dieser Mann schon lange nicht mehr gelacht hatte und sich danach sehnte. Aber er durfte nicht den falschen Eindruck von ihr gewinnen.
»Natürlich ruft es in mir nicht Missmut hervor, den Armen zu helfen«, beeilte sie sich zu versichern. »Nur glaube ich, dass man das sinnvoller angehen sollte, als ihnen mit meiner Sülze den Magen zu verderben. Bitte haltet mich jetzt nicht für hartherzig.«
»Niemals, Mylady«, entgegnete er mit einem Lächeln, dem weniger Belustigung als vielmehr Zärtlichkeit innewohnte. »Ich habe doch gleich gespürt, dass Ihr gar nicht anders könnt als freundlich sein.«
Rosalinds Wangen röteten sich wieder, denn dieses Kompliment erfreute sie mehr, als sie sich zu erklären vermochte. »Aber das könnt Ihr gar nicht wissen«, widersprach sie. »Wir sind uns doch gerade erst begegnet.«
»Können bei ihr sich messen Güte und Schönheit? Denn nur mit Güte Schönheit erblüht. Ihrer Augen Liebe ihm helfen aus seiner Blindheit- und so er genesen, ziehet sie dort ein.«
»Das ist ja wunderbar!«, rief Rosalind strahlend aus und wusste nicht, was ihr besser gefallen hatte, seine Verse oder der Wohlklang seiner Stimme. »Das hörte sich nach Shakespeare an, oder ...« Rosalind unterbrach sich und fühlte sich zutiefst verwirrt. »Aber das kann doch gar nicht sein. Shakespeare war zu Eurer Zeit doch noch lange nicht geboren. Wie könnt Ihr da ...«
Lancelot schluckte und verbarg seine Miene hinter der Hand. Doch schon einen Moment später erwiderte er lächelnd: »Seit meinem Tod bin ich in vielen Zeiten gewesen und habe viele Orte besucht. Die Barden am Hof des Königs vermisste ich so sehr, dass ich mich schließlich bei London in der Nähe des Theaters The Globe niederließ, um den Versen dieses Dichters zu lauschen, den Ihr Shakespeare nennt.«
»Dann habt Ihr also nicht immer nur in Cornwall ...« Rosalind konnte sich gerade noch zurückhalten, weil ihr der unpassende Begriff »herumgespukt« auf der Zunge lag. Rasch beendete sie den Satz mit einem »geweilt?«.
»Ganz im Gegenteil, Mylady. Ich fürchte, ich bin eher ein ruheloser Geist und dazu verdammt, auf ewig über die Erde zu wandeln.«
Das bestürzte Rosalind und füllte ihr Bewusstsein mit Bildern von Lancelot an, wie er mit wundem Herzen durch die Jahrhunderte wanderte und doch nirgendwo Frieden finden konnte.
»Dann seid Ihr wohl verdammt? Aber warum?«
»Vermutlich als Buße für meine Sünden.«
»Aber Ihr wart doch Artus’ tapferster Ritter. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr Euch etwas habt zu Schulden kommen lassen, das eine solche Strafe rechtfertigen würde.«
»Ach, da ließe sich so manches nennen. Mein größtes Verbrechen bestand darin, mich in die falsche Frau zu verlieben.«
»Oh ...«, machte Rosalind nur. Lancelot spielte damit sicher auf seine Leidenschaft für Guinevere an, die wunderschöne Frau des Königs. Die romantischste und traurigste Geschichte, welche sie je vernommen hatte. So oft hatte sie die alte Sage gelesen und sich dabei jedes Mal vorzustellen versucht, wie es wohl wäre, von so starken Gefühlen fortgetragen zu werden.
Natürlich hatte Rosalind ihren Gemahl Arthur stets geliebt. Aber das war nicht so sehr stürmische Leidenschaft gewesen und hatte auch nicht beinhaltet, vom ersten Moment an nach dem anderen verrückt zu sein.
»Solche Herzensstürme zu erleben«, murmelte sie. »So starke Liebe, die zu Recht auch nach vielen Jahrhunderten die Gemüter der Menschen bewegt. Wie könnte eine solche Liebe jemals falsch sein?«
»Das ist nicht schwer zu erklären«, antwortete Lancelot bitter. »Wenn solche Leidenschaft zu Lasten der Ehre entbrennt, wenn als Preis dafür, diese Liebe zu erfüllen, ein anderer Mann zum Hahnrei gemacht wird.«
»Aber Euer Herz stand doch in Flammen. Wie wollte man Euch da vorwerfen, dass Euer Verstand sich ausgeschaltet hatte?«
»Ich habe Ehebruch begangen. Das ist die ganze hässliche Wahrheit hinter dieser Geschichte.«
Lancelot klang so hart, dass Rosalind vor ihm zurückzuckte.
Deutlich ruhiger fuhr er dann fort: »Ein Mann wird stets vor die Wahl gestellt, Mylady. Und wenn er sich für das Falsche entscheidet, muss er die Folgen tragen. Unglücklicherweise kommen dabei gelegentlich auch Unschuldige zu Schaden und müssen für seine Vergehen leiden. Und dies ist die allerschlimmste Sünde und verdammt ihn bis ans Ende der Ewigkeit.«
Diese Worte verwirrten Rosalind eher, als dass sie ihr den Sachverhalt erhellten. Aber eines begriff sie sehr deutlich - den ungeheuren Schmerz in den Augen des Geistes. Ganz gleich, welche Sünden Lancelot begangen haben mochte, der Himmel konnte ihn nicht härter bestrafen als er selbst.
Der Ritter schwieg. Er schien sich ganz in seinen schwarzen Gedanken verloren und Rosalind darüber vergessen zu haben. Sie stand neben ihm und wusste nicht, wie sie ihn trösten sollte. In diesem Moment erkannte sie schmerzlich, wie ahnungslos sie doch in solchen Angelegenheiten war. Sünde, Leidenschaft und die Qualen der Reue, darüber wusste sie genauso wenig wie ein junges Mädchen, das schon als Novizin in ein Kloster eingetreten war.
Während sie noch mit sich rang, hörte sie ihn murmeln: »Und als ob ich noch nicht genug Narreteien hinter mir hätte, muss ich jetzt auch noch dieses verwünschte Schwert verlieren.«
Rosalind wollte sich zwar eigentlich nicht mehr in seine Angelegenheiten einmischen, aber diese Bemerkung erweckte doch ihr Erstaunen. »Dann sucht Ihr also wirklich nach einem Schwert und habt eben nicht gescherzt?«
»Bei Gott, ich wünschte, es wäre nur eine Alberei gewesen!«
Der Ritter konnte nur ein Schwert meinen, eine sagenhafte und sehr berühmte Klinge. »Ihr redet doch nicht etwa von Excalibur?« Sie sprach den Namen voller Ehrfurcht aus.
»Was? Äh ... ach so, ja, genau, es geht um Excalibur.«
»Aber ich dachte, nachdem König Artus gestorben war, sei das Schwert in den See zurückgeworfen worden und dort bis zum heutigen Tage geblieben?«
»Ach, was gäbe ich darum, wenn die Klinge dort wäre. Wenn das Schwert bis auf den Grund gesunken wäre, würde ich wohl endlich meinen Frieden finden dürfen. Aber den gibt es für mich nicht, solange ich den verwünschten Stahl nicht aufgespürt habe!«
Rosalind presste die Hände an die Schläfen. Selbst für jemanden wie sie, die mit Hingabe die Artussage erforschte, war das Gehörte mehr, als sie verarbeiten konnte:
»Ich verstehe überhaupt nichts mehr!«, rief sie aus. »Was hattet Ihr denn mit Excalibur zu schaffen?«
»Man hat mich zum Hüter dieses Schwerts bestimmt - bis zu dem Tag, an dem mein Lehnsherr zurückkehrt. Aber durch eine Unachtsamkeit verlor ich die Klinge an einen Dieb. Nun muss ich versuchen, sie dem Taugenichts wieder abzujagen.«
Über diesen Aspekt der Sage hatte Rosalind noch nie etwas gehört oder gelesen. Doch bevor sie ihn darüber ausfragen konnte, starrte er erschrocken auf das Fenster, und ein »Tod und Verdammnis!« entfuhr ihm.
»Was ist denn?«, wollte sie wissen und schaute selbst auf das Fenster. Doch dort zeigte sich nichts Ungewöhnliches, bis auf den Umstand, dass das erste Dämmerlicht die Nacht zu vertreiben begann.
Lancelot wandte sich wieder ihr zu, entschuldigte sich dafür, in ihrer Gegenwart geflucht zu haben, und verabschiedete sich mit den Worten: »Verzeiht, schöne Lady, aber ich muss nun fort.«
»Nein!«, rief Rosalind. »Da wäre doch noch so viel, was ich Euch fragen will. Müsst Ihr denn wirklich schon scheiden?«
»Ich fürchte, mir bleibt keine andere Wahl. Die Sonne ist im Begriff, aufzugehen, und es wäre gefährlich für mich, durch Tageslicht zu treiben, womöglich sogar tödlich.«
Rosalind blickte ihn erstaunt an. Tageslicht war tödlich für ihn? Aber der Mann war doch bereits tot!
Doch sie erhielt keine Gelegenheit, darüber nachzudenken, denn schon schickte der Ritter sich an, zurück durch die Wand zu verschwinden: »Seid bedankt für Eure Freundlichkeit, Mylady«, sagte er traurig lächelnd, »aber mir bleibt nichts anderes übrig, als Euch Gottes Segen zu wünschen. Ich würde mich gern auf die rechte Weise von Euch verabschieden, aber ...«
»Nein, bitte, wartet!« Rosalind lief ihm vergeblich hinterher. »Sagt mir doch wenigstens, ob ...«
Lancelot löste sich bereits in die Wand auf, und sie erhielt von ihm lediglich einen bedauernden Blick.
»... ich Euch wiedersehen werde«, beendete sie leise ihren Satz. Ihr Herz schlug schneller, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung an der Wand wahrnahm - aber dabei handelte es sich nur um den Schatten eines Schwarms Möwen, der über den Himmel zog.
Lancelot war fort, und Rosalind würde ihm wohl nie wieder begegnen.
Das löste einen unbeschreiblichen Stich in ihrem Herzen aus. Doch als sich ein paar Momente später die Sonne über den Horizont schob und die Nacht mitsamt ihren Geheimnissen verscheuchte, begann Rosalind ernsthaft an ihrem Verstand zu zweifeln.
Wahrscheinlich hatte sie das alles nur geträumt oder war geschlafwandelt. Schon Papa hatte sich früher darüber gesorgt, was seine Kleine für eine lebhafte Phantasie hatte. Für ihn hatte das Studium der Artusdichtung eine intellektuelle Herausforderung dargestellt, für seine Tochter hingegen ..:
Nicht zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie in dieser Nacht eine Vision von Lancelot erhalten. Mehrfach hatte man sie früher dabei beobachten können, wie sie im Garten ihr Puppengeschirr aufgebaut und den berühmten Ritter zum Tee empfangen hatte. Auch Bedivere, Gawein und ihre anderen Lieblinge von der Tafelrunde hatten sich dienstags eingestellt. Am Mittwoch kamen dann die Feen zu Besuch, während der Freitag für die Zwergenfamilie reserviert war, die unter den Hecken lebte.
Rosalind lächelte jetzt traurig, als ihr das alles wieder einfiel. Offensichtlich war damals manchmal die Phantasie mit ihr durchgegangen. Aber was hätte sie sonst tun sollen, hatten ihr doch keine Spielkameraden zur Verfügung gestanden.
Und heute Nacht? Hatte sie sich da erneut so schrecklich einsam gefühlt, dass ihre Phantasie noch einmal Lancelot wiedererweckt hatte? Aber nein, dieser Ritter hatte sich doch sehr von den Edelmännern ihrer Kindheit unterschieden. Die hatten mehr einem imaginären großen Bruder geglichen.
Aber dieser Lancelot hatte alles andere als schwesterliche Gefühle in ihrem Busen geweckt, mit seinen breiten Schultern, den kräftigen Armen und feinen, markanten Zügen, dem sinnlichen Mund, den vollen Lippen, der tiefen Stimme, die einem keine Ruhe mehr ließ, und den dunklen Augen, die in einem Moment lustig lachten und im nächsten weich und bedauernd dreinblickten.
Konnte ihre Phantasie tatsächlich ein so lebhaftes Bild ihrer Sehnsüchte entwerfen?, fragte sie sich dann jedoch kritisch. Außerdem hatte Jenny ihn auch gesehen.
Jenny!
»O mein Gott!« Sie hatte ihre Zofe die ganze Zeit allein gelassen. Wenn sie nicht unangenehme Erklärungen abgeben wollte, sollte sie sich beeilen, zu ihr zurückzukehren.
Rosalind wirbelte herum, stürmte los und stieß sich den Fuß an etwas Hartem. Der Atem stockte ihr, und sie humpelte auf einem Bein weiter, bis sie einen Stuhl fand, auf dem sie sich niederlassen konnte.
Sie hob den betreffenden Fuß und wackelte mit dem schmerzenden Zeh. Er schien nicht gebrochen zu sein, aber bis morgen würde er sich wohl grün und blau verfärbt haben. Sie sah sich um und entdeckte den Gegenstand, über den sie gestolpert war – ein loses Dielenbrett. Sie würde wirklich ein ernstes Wort mit Mr. Braggs, dem Wirt, darüber reden müssen, in welch traurigem Zustand sich sein Vorratsraum befand. Aber dann würde sie ihm auch einen Grund dafür nennen müssen, was sie am frühen Morgen dort verloren hatte.
Rosalind näherte sich missmutig dem losen Brett und sah dort etwas glänzen. Sie ließ sich, vorsichtig auf die Knie nieder, ohne den verletzten Zeh zu beanspruchen, und stellte fest, dass man die Diele herausnehmen konnte und sich darunter ein Hohlraum befand.
Ein Versteck!
Rosalind schaute hinein, und ihr stockte der Atem. Ein Schwert von unbeschreiblicher Schönheit lag unter dem Brett, der Griff aus kunstvoll geschmiedetem Gold, und in den Knauf hatte man einen funkelnden Edelstein eingelassen.
Sie konnte nur dort knien und das Schwert anstarren, es zu berühren wagte sie zunächst nicht.
Schließlich streckte Rosalind eine zitternde Hand aus und hob es aus seinem Versteck. Das erwies sich als recht mühsam, denn es besaß einiges Gewicht.
Was für ein herrliches Stück, geschmiedet aus Sagen und Träumen an einem fernen Ort und zu einer noch ferneren Zeit.
Sie hob das Schwert ins Licht, und der Kristall im Knauf erstrahlte so hell, dass es sie blendete. Ein Schauer von Funken in allen Farben des Regenbogens ergoss sich über die dunklen Holzwände. Rosalinds Herz hämmerte vor Ehrfurcht und Triumphgefühl.
Dies war ein unumstößlicher Beweis dafür, dass sie sich die magische Nacht nicht eingebildet hatte. Sie hatte tatsächlich einige Zeit mit Lancelot vom See verbracht. Und nun würde sie ihn auch wiedersehen, denn schließlich hatte sie sein Schwert gefunden.
Excalibur!