Читать книгу Das Vermächtnis der Feuerfrau - Susan Carroll - Страница 7
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ОглавлениеLance steckte in Schwierigkeiten.
Diese Erkenntnis breitete sich wie eine Pulverexplosion in Val St. Legers Bewusstsein aus und riss ihn aus dem Schlaf. Mit heftig schlagendem Herzen saß er aufrecht in seinem Bett und versuchte sich zwischen dem Reich des Traums und der Welt der Wirklichkeit zurechtzufinden. Er strich sich die Locken aus der Stirn, welche für einen jungen Mann von siebenundzwanzig Jahren entschieden zu viele Sorgenfalten aufwies.
Val lag ausgebreitet auf der Bettdecke, noch Hose und Hemd tragend, und blickte auf die Fährte von Büchern und Schriften, die sich vom Schreibtisch über den Teppich bis zum Bett hinzog. Auf Ersterem befand sich ein silberner Kerzenhalter. Dessen Kerze war erloschen und hatte ihr mittlerweile hart gewordenes Wachs über den Rand vergossen.
Schon wieder war es ihm passiert. So lange hatte er über seinen Studien gesessen, bis ihm die Augen zugefallen waren. Und was hatte ihn geweckt? Ein Albtraum? Nein, ein durchaus handfestes Gefühl, dass Lance sich in Gefahr befand.
Ein törichtes Gefühl, denn Lance lag natürlich längst in den Federn und schlief den Rausch aus, den er sich auf dem Mittsommernachtsfest angetrunken hatte, oder was auch immer er dort angestellt hatte. Val hätte seinen Bruder begleiten sollen, das hätte ihm bestimmt gut getan. Aber die Gesellschaft, mit der Lance in letzter Zeit verkehrte, war ganz und gar nicht nach Vals Geschmack.
Bestimmt war er wieder mit diesem Saufbold Rafe Mortmain zusammen gewesen. Diese Vorstellung reichte schon aus, Val zutiefst zu beunruhigen. Und jetzt beschlich ihn auch die düstere Vorahnung, dass Lance sich noch nicht in sein Bett begeben hatte.
Nur ein dummes Gefühl, aber stark genug, dass ein St. Leger es nicht einfach ignorieren konnte. Noch nie hatten sich die Eingebungen über seinen Bruder als falsch erwiesen.
Val schwang die Beine aus dem Bett und stöhnte vor Schmerzen, als ihm beim Aufstehen sein rechtes Knie wieder zu schaffen machte. Er griff nach seinem Gehstock und humpelte ein paar Schritte weit, um die Steifheit aus dem Gelenk zu zwingen.
Die Halle wirkte in der Stille des frühen Morgens grau und vernebelt. Vom Gesinde war noch niemand auf den Beinen, und Val hörte auf dem Weg zum Gemach seines älteren Bruders nichts außer dem leisen Klacken seines Stocks und dem fahrigen Rasseln seines Atems.
Lance war einen Tag älter als Val, und das kam nur zu Stande, weil es ihm bei der Geburt gelang, ein paar Sekunden, bevor die Uhr Mitternacht schlug, zur Welt zu kommen. Val hatte sich ein wenig mehr Zeit gelassen.
Lance hatte ihn öfter deswegen aufgezogen und ihn verspottet, er hänge so sehr seinen Tagträumereien nach, dass er selbst im Mutterleib versäumt habe, rechtzeitig geboren zu werden.
Doch damit war es längst vorbei, wie Val sich traurig sagte. Als sie sich gegenseitig neckten, hatte Lance’ Rastlosigkeit ihn noch nicht zu immer weiteren Reisen aus Castle Leger getrieben und Val sich noch nicht die Verletzung zugezogen, nach der sein Bein gelähmt geblieben war.
Er stützte sich schwer auf seinen Stock und klopfte an Lance’ Tür. Als sein Bruder nicht antwortete, hämmerte er gegen das Holz.
»Lance?«, rief er besorgt und hoffte inständig, dafür mit einem Fluch bedacht zu werden, er solle sich zum Teufel scheren.
Aber niemand öffnete, und niemand fluchte. Nach einer Weile gelangte Val zu der Überzeugung, dass irgendetwas nicht stimmte.
Er öffnete die Tür. Lance würde zwar schimpfen und ihn einen Störenfried nennen, aber das durfte ihn jetzt nicht zurückhalten.
Und im nächsten Moment bestätigten sich seine Ahnungen. Auf dem Bett lag sein Bruder und bot keinen beruhigenden Anblick.
Lance hatte die Arme vor der Brust verschränkt, das Gesicht lag unter dem langen Haar verborgen, und am Leib trug er ein Kettenhemd und einen schwarzen Umhang.
Doch viel schlimmer als das erschien Val die bleiche Hautfarbe seines Bruders. Er regte sich nicht, atmete nicht einmal und wirkte wie ein steinernes Abbild seiner selbst ... oder wie tot.
Val sah seinen Bruder heute nicht zum ersten Mal in diesem Zustand, und dennoch würde er sich wohl nie daran gewöhnen können. Er hatte ausgiebige Studien über die St. Legers angestellt, und da insbesondere über die merkwürdigen übernatürlichen Gaben und Fähigkeiten, die mit jeder neuen Generation wieder über die Familienmitglieder kamen. Eine eigentümliche Folge von Wahrsagern, Wünschelrutengängern, Gedankenlesern oder Wunderheilern war dabei herausgekommen. Val selbst war davon nicht verschont geblieben und verstand sich auf besondere Heilkünste.
Doch bei all seinen Forschungen war er nie auf ein Talent gestoßen, das ihn mehr erschreckte als das seines Bruders. Lance besaß nämlich die Fähigkeit, seine Seele von seinem Körper zu trennen. Er konnte seinen Geist hinaus in die Nacht schicken, während der Leib zurückblieb.
»Nachtströmen« nannte Lance seine erstaunliche Kunst. Val hielt die ganze Sache hingegen für höchst gefährlich. Niemand wusste zu sagen, wie lange sein Bruder diese Trennung aufrechterhalten konnte, ohne ernstlich Schaden zu nehmen, oder was geschehen würde, wenn die Seele es nicht rechtzeitig vor dem hellen Tageslicht zurück in den Körper schaffte.
Besorgt humpelte Val zum Fenster, öffnete die Vorhänge einen Spaltbreit und sah, dass die Sonne im Aufgehen begriffen war. Ihre ersten Strahlen erreichten bereits den Garten unter ihnen.
Sein Herz verkrampfte sich vor Furcht, als er an die Seite seines Bruders zurückhumpelte. Grundgütiger! Lance’ Hände fühlten sich kälter und steifer an, als der Wunderarzt das je bei einem Menschen festgestellt hatte. Wie lange mochte er schon durch die Nacht strömen? Vermutlich zu lange.
»Verdammt, Lance, nicht einmal du kannst so tollkühn sein! Komm zurück! Sofort!« Er rieb die Hand seines Bruders, um etwas von seiner eigenen Körperwärme hineinfließen zu lassen.
Was könnte er sonst noch tun? Ihn zudecken. Wenn er genügend Decken auf Lance’ Körper schichtete, würde vielleicht bis zur Rückkehr genügend Wärme darin bleiben.
Und falls das nicht reichte ...
Val weigerte sich, diese Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen. Er humpelte zu dem großen Schrank und suchte darin nach einem Umhang, einer Decke oder sonst etwas. Er war so damit beschäftigt, dass er gar nicht bemerkte, wie ein leiser Lufthauch die Vorhänge streifte.
Lance schwebte über seinem Bett und erlebte wieder dieses unheimlich mulmige Gefühl, als er auf seinen eigenen Körper hinabblickte. Er zögerte, denn der Wiedereintritt verlief nie besonders angenehm, und er hatte die ungute Vorahnung, dass es heute noch schlimmer sein würde als sonst.
Als er hinabschwebte, glaubte er auf eine Eisfläche zu gelangen. Sein Leib fühlte sich starr und verschlossen an. Lance musste all seine Willenskraft aufbieten, um den Eispanzer aufzubrechen und in den kalten Fluss der Finsternis einzutauchen.
Einige Sekunden blieb er dort wie betäubt, ehe er sich seiner Hände und Füße bewusst wurde, die den Körper abtasteten, als wollten sie den rastlosen Geist ergreifen und einsperren. Dieses unangenehme Gefühl breitete sich weiter in seinen Beinen, Armen und Schultern aus, stieg immer höher, bis er das Empfinden hatte, zur Gänze gefangen zu sein.
Lance bekam keine Luft. Panik befiel ihn, als er sich wand und gegen die erstickenden Mauern seines eigenen Körpers wehrte. Dann schlug sein Herz, das bisher nur unmerklich gepocht hatte, mit aller Macht, und sein ganzer Leib zuckte, als die Lunge sich wieder mit Luft füllte.
Er ließ sich zurücksinken und atmete dankbar ein. Bald beruhigten sich seine Organe zu einem gleichmäßigen Rhythmus, und die Wärme kehrte in seinen unterkühlten Körper zurück.
Verdammt, das war knapp gewesen, aber er hatte es noch einmal geschafft. Ein Segen, doch keine reine Wohltat, sich wieder in seiner eigenen Haut zu fühlen. Er roch seinen sauren Schweiß, spürte die Schmerzen in den Muskeln, die zu lange das Kettenhemd hatten tragen müssen, und litt wieder unter Kopfschmerzen, welche von dem Schlag herrührten, den er unten am Strand erhalten hatte. Lance blieb ganz still liegen, wagte nicht, sich zu rühren, und wollte nicht einmal denken. Ein unmögliches Unterfangen, denn schon setzte die Erinnerung an das ein, was er in der zurückliegenden Nacht erlebt hatte. Man hatte ihn unweit seines eigenen Dorfs überfallen und beraubt, dann war er nach dem Fest durch den Ort geschwebt, um das verwünschte Schwert wiederzufinden. Und schließlich war er einer jungen Frau begegnet, die ihn allen Ernstes für den Geist des Lancelot vom See gehalten hatte.
Letzteres erheiterte ihn so sehr, dass er sich gestattete, länger an Lady Rosalind zu denken. Wer von beiden sich bei der Begegnung mehr erschrocken hatte, wusste er im Nachhinein nicht mehr zu entscheiden. Sie war durch ihn hindurchgeschritten, und er hatte es gefühlt. Dabei hatte er, wenn er sich im Zustand des Nachtströmens befand, noch nie irgendeine körperliche Empfindung verspürt.
Im ersten Moment hatte Lance geglaubt, auf einen anderen Geist gestoßen zu sein. Und daraus konnte man ihm keinen Vorwurf machen, denn welche junge Frau irrte schon mitten in der Nacht durch einen ihr fremden Gasthof, um einen Geist aufzuspüren? Entweder eine unfassbar mutige oder eine komplett wahnsinnige.
Schon auf dem Rückflug war Lance zu dem Schluss gelangt, dass Rosalind Carlyon von beidem etwas an sich haben musste. Nachdem sie ohne Vorwarnung durch ihn hindurchgelaufen war, hatte sie sich nicht laut kreischend zur Flucht gewandt, wie das jeder normale Mensch getan hätte. Nein, sie hatte ihn bis zum frühen Morgen in ein Gespräch verwickelt und ihm die aberwitzigsten Fragen gestellt.
Aber wenn das Rosalind als Verrückte qualifizierte, traf solches Urteil dann nicht auch auf ihn zu? Er hatte sich ja auf das Gespräch mit ihr eingelassen, statt nach seinem Schwert zu suchen, und er hatte gar nicht an die Zeit gedacht, obwohl ihn das in die größte Gefahr hätte bringen können.
Fast möchte man meinen, Rosalind habe einen Bann über ihn gelegt. Seine gewohnte ruppige und unfreundliche Art war wie fortgeblasen gewesen, im Gegenteil, er hatte sensibel und sanft reagiert, und der Umstand hatte ihn zutiefst bestürzt, dass sie bereits in so jungen Jahren ihren Ehemann verloren hatte. Hinzu kam, wie sie da in Nachthemd und mit nackten Füßen vor ihm stand.
Diese junge Frau bedarf dringend eines Ritters, eines Helden, hatte Lance gedacht, und da hatte es ihm gefallen, für sie in diese Rolle zu schlüpfen. Anfangs war ihm dieses Spiel sogar recht gelegen gekommen, weil es ihn der Mühsal enthob, sich erklären zu müssen. Aber dann war die Sache vielleicht doch ein wenig zu weit gediehen.
Lance zuckte zusammen, als ihm einfiel, welch blühenden Unsinn er Rosalind erzählt hatte. Zeitweise hatte er selbst kaum noch unterscheiden können, ob er da von sich selbst berichtete oder von Lancelot vom See fabulierte.
Er hatte eindeutig zu viel erzählt und damit Erinnerungen hochgebracht, die besser unter Verschluss geblieben wären.
Als er jetzt wieder in seinem Bett lag, konnte er sich sein Verhalten von vorhin nicht mehr erklären. Welcher Teufel mochte ihn geritten haben? Er wollte jetzt nur noch ganz still daliegen und aufs Sterben warten.
Doch dieses Privileg blieb ihm versagt, denn mit einem Mal bemerkte er, dass noch jemand in seinem Schlafgemach war - eine Bodendiele knarrte.
Jemand kam näher und deckte ihn mit einer schweren Decke oder etwas Ähnlichem zu. Lance zwang seine Lider, sich einen Spaltbreit zu öffnen, und spähte durch seine langen Wimpern auf den Menschen, der sich da über ihn beugte - ein Gesicht, das dem seinen enorm ähnlich sah. Die gleiche Adlernase, doch etwas gerader als seine, die dunkelbraunen Augen und das kantige Kinn, nur dass seinem Gegenüber das Grübchen fehlte. Dafür hatte er deutlich mehr Sorgenfalten.
Val.
Lance hatte bis vor wenigen Sekunden geglaubt, dass er sich nicht mehr schlechter fühlen könnte. Aber nun, da sein Bruder vor ihm stand, würde er die Kapriolen der letzten Nacht nicht geheim halten können.
Ein Stöhnen unterdrückend, hielt er die Augen wieder fest geschlossen. Diese unmerkliche Bewegung entging seinem Bruder jedoch nicht, denn er beugte sich gleich tiefer und fragte: »Lance? Bist du zurückgekehrt? Lance? Antworte mir!«
So blieb ihm wohl nichts anderes übrig, und er öffnete die Augen, um das sofort zu bereuen, da das Sonnenlicht ihm in die Pupillen stach.
»Ja, ja, ich bin zurück«, stöhnte Lance. »Das ist aber noch kein Grund zu brüllen.«
Vals Gesicht verzog sich zu einem erleichterten Strahlen. »Dem Himmel sei Dank. Du hast es wieder einmal geschafft, und dir geht es gut.«
Darüber kann man geteilter Meinung sein, dachte Lance. Gerade wollte er seinen Bruder fragen, was er zu dieser frühen Stunde in seinem Gemach herumzuschleichen habe, aber dann sah er dessen zerknitterte Kleidung und die angespannten Gesichtszüge.
Val hatte offensichtlich die halbe Nacht am Lager seines totenstarren Bruders gewacht. Woher zum Teufel hatte er überhaupt gewusst, dass er wieder entströmt war?
Was für eine törichte Frage, sagte Lance sich dann. Val wusste stets, wenn er in Schwierigkeiten geriet.
Val fuhr sich mit einer Hand, die vor Erleichterung zitterte, durch das wellige schwarze Haar. »Diesmal hatte ich wirklich befürchtet, du wärst zu weit gegangen. Für einen Moment glaubte ich schon, du seist ...«
»Tot?«, führte Lance den Satz zu Ende, da sein Bruder das Wort offenbar nicht aussprechen konnte. Er stützte sich auf einen Ellbogen und schob den schweren Reisemantel beiseite, den Val über ihn gelegt hatte. »Was soll das denn hier? Wolltest du mich in dem Stück aufbahren? Da wäre mir mein schwarzer Reitumhang aber lieber gewesen. Der hätte auch besser zu dem geschwärzten Kettenhemd gepasst, oder?«
»Über so etwas scherzt man nicht, Lance.«
»Sehe ich denn so aus, als würde ich lachen?« Er schwang die Beine aus dem Bett, setzte sich und stöhnte wegen Schmerzwellen, die durch sein Rückgrat jagten. O Gott, er hätte meinen können, auf einem Nagelbrett genächtigt zu haben.
»Erinnere mich bitte beim nächsten Mal daran«, bat er Val, »zum Nachtströmen nicht das Kettenhemd anzulegen.«
»Warum hast du es überhaupt getan?«
»Wenn du dir die Mühe gemacht hättest, den Jahrmarkt zu besuchen, wäre dir bestimmt aufgefallen, dass sie dort so ein albernes Turnier veranstaltet haben ...«
»Verdammt noch mal, Lance!«, unterbrach ihn sein Bruder.’ »Du weißt genau, was ich meine. Warum musstest du dich wieder auf die Reise begeben. Und du hast nicht einmal darauf geachtet, vor Tagesanbruch zurück zu sein. Ist dir überhaupt bewusst, wie knapp es diesmal für dich gewesen ist?«
Val humpelte zum Fenster und riss den Vorhang auf. Lance fluchte leise und hielt sich eine Hand vor die Augen. Insgeheim erschrak er ja doch darüber, wie hoch die Sonne bereits am Himmel stand.
»Verdammt, ich habe mich wirklich zu lange mit meiner Herrin vom See verquatscht.«
»Mit wem?«
»Der Herrin vom See«, wiederholte Lance und lächelte, als Rosalind wieder vor seinem geistigen Auge erschien. »Die allerwundersamste Zauberin. Mit Haar aus gelocktem Mondlicht und Augen von der Farbe des Himmels. Sie hat mich mit einem Bann belegt.«
Val starrte ihn an, als wäre er ohne Verstand vom Nachtschwärmen zurückgekehrt, und meinte dann besorgt: »Lance, leg dich besser wieder hin. Du scheinst nicht ganz bei dir zu sein.«
»Mir geht es bestens«, wehrte dieser ab. »Ich fühle mich bloß ein wenig schwindlig, weil ich mich zu rasch aufgesetzt habe.«
Aber als Val ihn weiterhin bekümmert anstarrte, beschloss Lance, ihm Rosalind in etwas sachlicheren Tönen zu schildern - vielleicht auch, um sich selbst darüber klar zu werden, was ihm letzte Nacht eigentlich widerfahren war.
»Ich bin im Dragon’s Fire einer hübschen jungen Witwe begegnet. Gerade strömte ich aus einer Wand, da ist sie sozusagen in mich hineingelaufen ...«
»Ein Uneingeweihter hat dich beim Nachtströmen gesehen?«
»Ja. Aber das ist nicht weiter schlimm, denn sie hielt mich für den Geist von Lancelot vom See.«
»Wie ist sie denn darauf gekommen?«
»Na ja, vielleicht deswegen, weil ich mich ihr so vorgestellt habe.«
Die Falten in Vals Gesicht gruben sich noch tiefer ein. Die Vorstellung, einen anderen um eines persönlichen Vorteils wegen zu belügen, lag jenseits seines Fassungsvermögens.
»Du hast deine Kräfte dazu benutzt, dir diese Frau gewogen zu machen?«, fragte er entsetzt.
»Man kann das sicher auch weniger umständlich ausdrücken. Meintest du, ob ich die Witwe auf diese Weise verführen wollte?«
Doch dann schwieg er, weil er sich darin plötzlich selbst gar nicht mehr so sicher war. Ja, er fühlte sich von dieser ungewöhnlichen Frau angezogen. Aber die Vorstellung, sich mit ihr im Bett zu vergnügen, kam ihm ... ja, irgendwie ... profan vor.
»Nein«, gestand er schließlich, »mir ging es nicht um ein geschicktes Manöver, sie unter meine Bettdecke zu bekommen. So eine Frau ist sie nicht. Sie gehört eher zu deiner Art.«
»Wie bitte?«
»Nun ja, die edle Jungfer, um deretwillen der Ritter ausreitet und einen Drachen erschlägt. Und der danach nicht mehr verlangt, als vor ihr niederknien zu dürfen.«
Lance verfolgte mit verstohlener Belustigung, wie die Wangen seines Bruders erröteten.
»Und ganz gewiss eine junge Lady«, fuhr er lachend fort, »die man von einem Tunichtgut wie mir fernhalten sollte. Aber in diese Verlegenheit wird sie nicht mehr kommen. Die liebliche Witwe reist nämlich heute weiter, wir werden uns nie wiedersehen, und meine kleine Schelmerei braucht keine Aufdeckung zu befürchten.«
Doch dieser Gedanke löste einen Stich in seinem Herzen aus. Lance lenkte sich rasch davon ab, indem er sich vom Bett erhob und erfreut feststellte, dass er stehen blieb.
Nun erwartete ihn jedoch die aufwändige und mühevolle Arbeit, sich aus dem Kettenhemd zu befreien. Als das schwere Ding dann endlich auf dem Teppich gelandet war, seufzte er in ehrlicher Erleichterung. Sogar seine Kopfschmerzen ließen allmählich nach, und zum ersten Mal hatte er das Gefühl, das Weiterleben sei vielleicht doch keine so üble Angelegenheit.
Wenn er nur Val loswurde.
Aber sein Bruder schien sich bereits als feste Einrichtung in diesem Raum zu betrachten. Mit beiden Händen auf den Gehstock gestützt und unverrückbar, als hätte er Wurzeln geschlagen, sah er ihn mit einer Eindringlichkeit an, welche ihm mit jedem weiteren Moment unangenehmer wurde.
»War das dein einziger Grund für ein erneutes Nachtströmen?«, fragte Val dann streng. »Um einer unschuldigen armen Witwe einen dummen Streich zu spielen?«
»Reicht das denn nicht als Grund?«, erwiderte Lance, sah seinem Bruder aber an, dass der sich damit nicht zufrieden geben würde.
Lance hatte sich immer schon durchs Leben mogeln und seiner Umgebung alles Mögliche vormachen können. Nur bei Val hatte das noch nie geklappt. Das war nun mal das Ärgerliche mit einem Mann, mit dem man schon im Mutterleib Bekanntschaft geschlossen hatte. Er ließ sich aufs Bett fallen und mühte sich mit seinen Stiefeln ab.
Den ersten hatte er nach einer Weile ausgezogen. Aber dummerweise stand Val danach immer noch geduldig schweigend da. Und wartend.
»Also gut, also gut!«, schnaubte Lance schließlich und ließ den Stiefel auf den Boden fallen. »Wenn du es unbedingt wissen musst, ich bin erneut geströmt, weil ich mir sagte, . auf diese Weise am ehesten etwas wiederfinden zu können, was mir abhanden gekommen ist.«
»Was könnte das denn gewesen sein, wenn du schon bereit warst, dein Leben dafür zu riskieren?«
»Das St.-Leger-Schwert.«
Val riss Mund und Augen auf. »Doch nicht etwa Prosperos Klinge? Das Schwert mit dem Kristall im Knauf?«
»Genau das.«
Val ließ sich in den erstbesten Sessel fallen, und Lance erzählte ihm die ganze Geschichte, wobei er seinen eigenen unrühmlichen Anteil daran nicht verschwieg. Wie dumm es von ihm gewesen sei, das wertvolle Schwert zu seinem Ritterkostüm zu tragen; wie er damit auf dem großen Dorfplatz herumgefuchtelt und angegeben habe; wie er im Dragon’s Fire dem Festtagsbräu zu reichlich zugesprochen habe; wie er über den stockdunklen Strand heimwärts getorkelt sei; wie ihn dann jemand überfallen und niedergeschlagen habe, ohne dass er sich auch nur für einen Moment habe wehren können.
Er erzählte die Geschichte unaufgeregt und sagte sich dabei im Stillen, dass er immer schon versucht habe, seines Bruders übertriebenen Glauben an ihn zu zerstören. Mit diesem Vorfall sollte ihm das wohl endgültig gelingen. Niemand beschäftigte sich so sehr mit der Geschichte der St. Legers und den mit ihnen verwobenen Sagen wie Val. Der Verlust des traditionsreichen Schwerts musste ihm als vollkommene Katastrophe erscheinen.
Doch als er sich dem Ende näherte, zeigte die Miene seines Bruders keinen Anflug von Tadel. »Bei Gott, du hättest umgebracht werden können«, entsetzte sich Val stattdessen.
Was? Er hatte sich Prosperos Schwert abnehmen lassen, und Val sorgte sich nur um ihn? Lance starrte seinen Bruder in einer Mischung aus Irritation und Verwunderung an.
»Das wäre kein zu großer Verlust gewesen«, sagte Lance schließlich. »Dann hättest du eben Castle Leger geerbt.«
»Aber ich will die Burg nicht erben.«
»Was für ein Zufall, ich nämlich auch nicht«, meinte Lance. Er machte sich über den zweiten Stiefel her und bekam ihn nach einer Weile vom Fuß.
Seit Lance das Bewusstsein wiedererlangt und er sich erinnert hatte, dass er das Schwert verloren hatte, belegte er sich mit allen Schimpfnamen, die ihm einfielen. Doch inzwischen ging sein Vorrat zur Neige, und es wäre ihm angenehm gewesen, wenn jemand anders ihm diese Arbeit abgenommen hätte.
Aber Val schien nicht daran zu denken. Er wirkte noch nicht einmal wütend.
»Du hast doch gesagt, dass du den Mann nicht genau sehen konntest, der dich überfallen hat, oder?«
»Dazu war ich viel zu besoffen«, antwortete Lance. »Ich hätte nicht einmal meine eigene Hand wiedererkannt«
»Glaubst du, es könnte einer von den Schmugglern gewesen sein, die in letzter Zeit an der Küste ihr Unwesen treiben?«
»Schmuggler pflegen nur selten ihrem Gewerbe unter Vollmond und in der Nähe eines gut besuchten Jahrmarkts nachzugehen. Nein, bei diesem Burschen wird es sich um einen ganz gewöhnlichen Strauchdieb gehandelt haben.«
»Straßenräuber in unserem Dorf.« Val schüttelte langsam den Kopf. »Diebe auf dem Land der St. Legers. So etwas hatten wir nicht, bis ... bis ...«
Val zögerte und warf seinem Bruder einen unsichere Blick zu, und Lance beendete knurrig den Satz: »Bis Vater uns verließ? Bis ich zum Burgherrn wurde?«
»Nein, das habe ich nicht gemeint. Bestimmt nicht. Aber das, was ich eigentlich sagen wollte, wird dir noch weniger gefallen. Wir hatten hier kaum Ärger, bis Rafe Mortmain zurückgekehrt ist.«
Lance starrte ihn verständnislos an. »Was soll Rafe denn damit zu tun haben?«
»Nichts. Hoffe ich jedenfalls. War er auch auf dem Jahrmarkt, oder wo hat er sich herumgetrieben?«
»Keine Ahnung. Irgendwann haben wir uns getrennt. Rafe musste nämlich dienstlich fort. Er hatte einen Hinweis erhalten ...« Lance unterbrach sich und runzelte die Stirn. »Du willst damit doch nicht etwa andeuten, dass Rafe etwas mit dem Überfall auf mich zu tun haben könnte? Bei allen Himmeln! Der Mann ist Offizier bei der Zollpolizei, und ihm untersteht der Schutz der Küste.«
»Dennoch dürfen wir diese Möglichkeit nicht von vornherein ausschließen«, entgegnete Val düster.
»Verdammt noch mal, warum sollte er denn hinter meinem Schwert her sein?«
»Jeder hier in der Gegend weiß doch, dass dem St.-Leger-Schwert eine ungewöhnliche Macht innewohnt. Und die Mortmains hat es immer schon nach Macht verlangt.«
»Unsinn!«, schimpfte Lance, erhob sich und schlug sich auf den Oberschenkel. »Wir werden mit dieser Tradition brechen und das Spiel nicht weiterbetreiben!«
»Was denn für ein Spiel?«
»Die beliebteste Freizeitbeschäftigung der St. Legers seit vielen Generationen. Wann immer irgendetwas schief geht, suchen wir uns einen Mortmain, dem wir die Schuld anhängen können.«
»Dafür hat es leider viel zu oft gute Gründe gegeben. Wenn du die Geschichte dieser beiden Familien so gründlich studieren würdest, wie ich das getan habe ...«
»Mich interessiert alte Geschichte aber nicht!«
»Nun, so furchtbar lange ist das auch noch gar nicht her. Rafes eigene Mutter hatte einen heimtückischen Plan entwickelt, um unsere Eltern zu ermorden.«
»Und dafür musste sie mit ihrem Leben büßen«, warf Lance ungeduldig ein. »Das alles geschah etliche Jahre vor unserer Geburt, und Rafe war damals noch ein kleines Kind. Außerdem hat er mir schon mehrfach versichert, dass er nie große Liebe für seine Mutter verspürt habe. Evelyn Mortmain hat ihn nämlich seinerzeit allein in Paris zurückgelassen.«
»Ja, so behauptet er.«
»Und ich glaube auch nicht«, fuhr Lance fort, ohne sich von diesem Einwand ablenken zu lassen, »dass unsere Eltern jemals Rafe als Gefahr angesehen haben. In dem Sommer, in dem er sechzehn geworden war, luden sie ihn sogar dazu ein, bei uns zu leben.«
»Ja, bis du beinahe im Maiden Lake ertrunken wärst.«
»Das war ein Unfall!«, erregte sich Lance. »Wie oft muss ich das denn noch sagen? Ich erinnere mich recht gut daran, dort abgerutscht und ins Wasser gefallen zu sein. Rafe hat mich herausgezogen und mir damit das Leben gerettet!«
»Mir kam es damals aber so vor, als wäre Rafe erst dann ins Wasser gesprungen, als er mich und Vater heranreiten sah.«
»Dann lässt dich dein Gedächtnis ziemlich im Stich. Oder du bist geblendet von dem Vorurteil, dass ein Mortmain gar nicht anders kann als kriminell zu werden. Ich jedenfalls habe erst einen Mortmain kennen gelernt und bin mit ihm befreundet.«
»Freunde sollten aber nicht gegenseitig die schlechten Eigenschaften fördern.«
»Was zur Hölle soll das denn heißen?«
»Nun, ich habe bemerkt, dass Rafe eine gewisse Düsternis umgibt. Und er scheint bei anderen ebenso die düstere Seite hervorzuholen. Tut mir Leid, ich kann es dir nicht besser erklären. Aber in seiner Gesellschaft veränderst du dich. Dann wirst du härter und zynischer.«
Lance schüttelte ungläubig und verärgert den Kopf. »Wann wirst du es endlich in deinen Dickschädel kriegen, dass niemand mich beeinflusst? Wenn ich mich in Gesellschaft von Rafe wie ein unverbesserlicher Wüstling aufführe, dann allein deswegen, weil das meinem Charakter entspricht.«
Er stampfte zu seinem Kleiderschrank und entledigte sich dort seiner restlichen verschwitzten Sachen. Die Morgenluft kühlte seine erhitzte Haut, aber nicht sein erhitztes Gemüt.
Während er ein Kleidungsstück nach dem anderen aus dem Schrank riss, bis endlich etwas Passendes gefunden war, fragte er sich plötzlich, was ihn eigentlich so in Rage gebracht hatte. Etwa, dass Val versuchte, Zweifel an dem Mann zu säen, den Lance bewunderte? Oder dass Val immer wieder Entschuldigungen für seine Fehler fand. Er hörte, wie Val sich hinter ihm erhob.
»Tut mir Leid, Lance.«
Großartig, dachte Lance zähneknirschend. Wann hatte es eigentlich einmal nicht damit geendet, dass Val sich bei ihm entschuldigte?
»Natürlich hast du Recht, und ich sollte mich schämen, einen Mann allein wegen der Vergehen seiner Vorfahren zu verdächtigen. Ich bin mir sicher, dass es einige andere gibt, die viel eher für einen solchen Überfall in Frage kämen. Die sollten wir uns auch vorknöpfen.«
Lance fuhr herum. »Was meinst du mit wir?«
»Nun, ich habe natürlich angenommen, dass ...«
»Dann hast du falsch angenommen!«, unterbrach Lance ihn und warf die Schranktür mit einem Tritt ins Schloss. »Wenn ich durch eigene Schuld in Schwierigkeiten gerate, dann will ich nicht, dass du zu meiner Errettung herbeieilst.«
»Das tue ich doch gar nicht. Ich versuche nur ...«
»Und ich will dich auch nicht als meinen Schatten haben. Genauso wenig, wie du nachts an meinem Lager Wache halten sollst wie eine überbehütende Kinderfrau!«
»Das habe ich nicht getan!«, protestierte Val. »Ich möchte doch nur helfen, Lance.«
»Ich glaube du hast mir bereits mehr geholfen, als man das gerechterweise von einem Menschen verlangen darf.« Lance warf einen deutlichen Blick auf Vals kaputtes Knie.
Val zuckte zusammen und humpelte so rasch es ihm möglich war zum Fenster. Dennoch bemerkte Lance den verletzten Blick in seinen Augen. Wie leicht es doch war, ihm wehzutun. Das bereitete nicht den geringsten Aufwand.
Während Val hinunter in den Garten schaute, bestrahlte das Sonnenlicht das müde Gesicht seines Bruders und betonte jede einzelne Falte in den jugendlichen Zügen.
Lance sagte sich, dass er für den Großteil dieser Falten verantwortlich war. Womöglich sogar für alle. Vergangene Nacht hatte er Rosalind weisgemacht, zur Buße für seine Sünden über die Erde wandeln zu müssen. Aber in Wahrheit musste er dazu gar nicht weit laufen. Wenn man sich in Vals Nähe aufhielt, fühlte man sich irgendwann immer schlecht.
Wieder überkamen ihn die vertrauten Schuldgefühle, und er fragte sich zum ungezählten Male, was ihn wohl getrieben haben mochte, hierher zurückzukehren.
Vielleicht waren ihm ja nach dem Sieg bei Waterloo die Argumente ausgegangen, bei den Soldaten zu bleiben und nicht wieder nach Hause zu gehen. Als ältestem Sohn und Erben stünde es ihm wohl zu Gesicht, seinen unsteten Lebenswandel aufzugeben, sich auf Castle Leger niederzulassen und sich mit den Verantwortlichkeiten auseinander zu setzen, welche er eines Tages übernehmen müsste. Aber das fiel ihm so verdammt schwer.
Lance begab sich zu dem Waschbecken, in dem der gefüllte Krug stand, und goss sich etwas Wasser in die Hand, um es sich ins Gesicht zu spritzen – so als könnte er alle schlechte Laune damit abwaschen.
Das eisige Nass erfrischte ihn, und er fühlte sich deutlich besser, bis er sich im Spiegel über dem Becken sah.
Was würde die Herrin vom See nun von ihrem Sir Lancelot halten, wenn sie ihn in seiner menschlichen Form sehen könnte? Unrasiert, zerzaustes Haar und dunkle Ringe unter den Augen.
Ein entehrter Ritter.
Lance trocknete sich das Gesicht ab und strich die Haare zurück, ehe er sich wieder an seinen Bruder wandte. Noch immer wünschte er sich nichts mehr, als dass Val ging, um endlich allein sein zu können.
Aber stattdessen hörte er sich zu seiner eigenen Überraschung sagen: »Mach dir bitte keine Sorgen wegen des Schwerts, Val. Ich bringe die verdammte Klinge wieder her, und wenn ich dafür zur Hölle und zurück reiten müsste.«
»Das weiß ich doch«, entgegnete sein Bruder lächelnd.
»Dann kannst du ja jetzt wieder ins Bett gehen und versuchen, etwas Schlaf nachzuholen. Du siehst noch schlimmer aus als ich, und das will schon was heißen.«
»Ja, das stimmt«, sagte Val. »Doch eines sollst du noch wissen. Ich habe nicht die ganze Nacht an deinem Bett ausgeharrt. Im Gegenteil, ich bin selbst erst seit kurzem hier. Andere Gründe haben mich die halbe Nacht wach gehalten.«
Das freute Lance zu hören, nahm es ihm doch einiges von den Schuldgefühlen. Aber dann stöhnte er: »Doch nicht schon wieder die unseligen Bücher! Mama wollte immer, dass wenigstens aus einem von uns ein Gelehrter wird, aber selbst sie hätte etwas dagegen, dass du dir über den verstaubten alten Bänden die Gesundheit ruinierst.«
»Ich weiß, aber ich trete irgendwie auf der Stelle. Ich wollte die komplette Chronik unserer Familie fertig haben, bis Vater und Mutter von ihrer Reise zurückgekehrt sind.«
Val humpelte ein paar Schritte herum, was immer darauf schließen ließ, dass ihn etwas sehr beschäftigte. Nur wenige Themen konnten ihn in Wallung bringen, und dieses gehörte dazu.
»Ich habe jedes Archiv, jeden Bericht und jede Chronik Cornwalls durchforscht, und dennoch ... Aber ich sehe schon, dieses Thema interessiert dich nicht.«
»Hat dich das schon jemals gehindert, fortzufahren?«
Val lächelte verlegen. »Vermutlich nicht.« Nach einem Räuspern erklärte er: »Es geht um diesen vermaledeiten Prospero. Wie kann ich eine Familiengeschichte der St. Legers schreiben, wenn nur so wenig über den Mann bekannt ist, der als unser Stammvater gilt? Man könnte fast meinen, jeder Eintrag über Prospero sei vorsätzlich getilgt worden.«
»Gut möglich.« Lance zuckte mit den Schultern. »Ein Ritter, der sich der Zauberei bedient, manch derben Streich ausgeführt und jedes Mädchen im weiten Umkreis verführt haben soll – bei allen Höllenfeuern, das könnte ich sein. Wahrscheinlich wird mein Name nach meinem Tod auch überall gelöscht.«
»Nur, wenn ich das nicht verhindern kann«, entgegnete Val. »Aber ganz im Ernst, Lance, hast du dich nie gefragt, was das für ein Mann gewesen ist, der eine so ungewöhnliche Familie wie die unsere gegründet hat? Was muss er wohl alles erlebt haben? Und hat er jemals Glück gefunden?«
»Prospero wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Das dürfte zu dem Schluss verleiten, dass er zumindest am Ende Unglück gefunden hat.«
»Ich rede natürlich von seinem Leben davor. War er trotz aller Macht, über die er gebot, ein zufriedener Mensch? Und bei all den vielen Frauen, die er gehabt haben soll, war da nicht eine darunter, die ihm mehr bedeutet hat? Wenn Mutter doch bloß nicht seinen Geist vertrieben hätte. Dann könnte ich ihn heute befragen.«
Das gehört ebenfalls zu den Familiensagen, dachte Lance säuerlich.
Angeblich hatte früher Prosperos Geist Castle Leger heimgesucht. Madeline St. Leger, die Mutter von Lance und Val, eine Frau, die mit beiden Beinen fest auf der Erde stand, hatte nicht nur ihren einst grimmigen Gemahl und fünf wilde Kinder gezähmt, sondern auch den Störenfried Prospero in seine Schranken verwiesen. Madeline würde niemals zulassen, dass der Friede ihres Heims durch den Geist eines schurkischen Zauberers gestört würde.
Lance verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete seinen Brüder. »Und selbst wenn Prosperos Geist hier noch spuken würde, was glaubst du denn, wie er auf deine Fragen reagieren würde? Dich zu einem Gläschen Portwein einladen und dabei von seinen alten Amouren schwärmen?«
»Nein, sicher nicht. Aber ich würde doch sehr gern erfahren, ob er am Ende nicht jemanden gefunden hat, mit dem er sein Leben teilen wollte ... dass er nicht verbittert und allein gestorben ist.«
Lance hatte diese Seite an seinem Bruder noch nie verstanden; ihn selbst interessierte das alles herzlich wenig. »Du bist ein hoffnungsloser Romantiker. Doch so ergeht es wohl einem Mann, der am Valentinstag zur Welt kommt.«
»Mag sein. Ich fürchte, ich habe mir ohnehin in der letzten Zeit zu oft den Kopf über ...«
Er senkte den Blick und starrte auf den Boden. Jetzt wurde Lance doch neugierig. Normalerweise wich Val keinem Thema aus.
»Worüber hast du dir den Kopf zerbrochen?«, drängte er. »Über das Alleinsein ... und über die Liebe.« Er sah seinen Bruder immer noch nicht an und tappte mit der Stockspitze auf den Boden, bis Lance kurz davor stand, die Geduld zu verlieren. Endlich fuhr er fort »Nicht die Bücher halten mich in den letzten Wochen so lange wach. Ich glaube vielmehr, dass meine Zeit gekommen ist. Ich werde mir eine Frau suchen müssen.«
Lance starrte seinen Bruder an, der bei diesen Worten rot angelaufen war. Val hatte bislang nur für seine medizinischen Studien gelebt und zusammen mit dem ortsansässigen Arzt, ihrem Onkel Marius, Forschungen betrieben. Für Frauen war ihm da nie Zeit geblieben. Lance hatte sich zuweilen gefragt, ob sein Bruder überhaupt schon einmal einer Schönen näher gekommen war.
»Erinnerst du dich an dieses Gespräch«, sagte Val jetzt verlegen, »das Vater an jenem Herbsttag mit uns in seinem Arbeitszimmer führte? Über die Ehe ... und über Frauen?«
»Nur schwach. Da ich zu jener Zeit schon alles über das andere Geschlecht wusste, habe ich kaum hingehört.«
»Nun, mich hat das aber sehr interessiert. Ich entsinne mich noch sehr gut daran, wie Vater sagte, dass jeder St. Leger genau wisse, wann für ihn der Moment gekommen sei, sich mit einer Frau zusammenzutun. Damit einher würden schlaflose Nächte, Feuer im Blut, Rastlosigkeit und ein kaum zu ertragendes Sehnen gehen. Ich habe alle diese Symptome, Lance.«
Dieser verdrehte die Augen. Bei der Miene, welche sein Bruder aufgesetzt hatte, hätte man meinen können, er berichte von einer schlimmen Krankheit. Und was diese so genannten Symptome anging, so verspürte Lance sie auch seit einiger Zeit. Für einen Moment erschreckte ihn dieses zeitliche Zusammentreffen, aber er verdrängte den Gedanken rasch und legte Val eine Hand auf die Schulter. »Was dir fehlt, ist ein kleiner Spaziergang zum Strand. Genauer zu dem Fischer und seiner Tochter ...«
»Nein, Lance, davon rede ich nicht. Ich brauche eine richtige Braut.«
Lance zog die Hand zurück. Wenn Val sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ sich nichts anderes mit ihm anfangen.
»Und was für eine Lady hast du im Sinn?«
»Du weißt doch, dass der betreffende St. Leger das nicht entscheiden kann.«
Lance starrte Val an, während ihm dämmerte, was dieser damit andeuten wollte. »O nein, jetzt erzähl mir bloß nicht, du erwägst ernsthaft, die Brautsucherin zu beauftragen.«
»Das habe ich bereits getan.« Lance stöhnte vernehmlich, und Val verteidigte sich: »Du weißt doch, dass mir keine andere Wahl bleibt. Selbst du kannst dich nicht gegen diese Familientradition zur Wehr setzen.«
Mit spöttischem Unterton sagte Lance: »Nach der altehrwürdigen Tradition sind alle St. Legers zu versponnen oder zu blöd, sich selbst eine Braut respektive einen Bräutigam zu suchen. Wenn sie es doch tun, führt das unweigerlich zu einem Fiasko. Wenn sie sich aber dem geheimnisvollen Brautsucher anvertrauen und es ganz ihm überlassen, einen Gatten oder eine Gattin zu besorgen, so werden sie die wahre Liebe finden, die bis in alle Ewigkeit währt.«
»Ja, genau so verhält es sich!«, rief Val. »Deswegen verstehe ich auch nicht, dass du dich darüber lustig machen kannst. Unsere Eltern sind doch das beste Beispiel für diese Tradition.«
Dem vermochte Lance nicht zu widersprechen. Im weiten Umkreis fand man kein Paar, das sich mehr zugetan war als Madeline und Anatole St. Leger.
Aber so leicht wollte er natürlich nicht klein beigeben. »Unsere Eltern gehören einer anderen Generation an. Und wer stand ihnen als Brautsucher zur Verfügung? Ein ältlicher Kirchenmann, den man allseits für seine Weisheit und seinen Studieneifer achtete. Leider ist er längst verblichen. Und wer hat seine Nachfolge angetreten?«
»Effie. Effie Fitzleger«, entgegnete Val unglücklich.
»Ganz recht. Elfreda Fitzleger, eine so konfuse Frau, dass es ihr schon zu viel Mühe bereitet, die Federn auszusuchen, die sie sich an den Hut stecken möchte. Und so eine soll einem St. Leger die passende Frau finden?«
»Na komm, ein paar Ehen hat sie schon gestiftet. Sieh dir zum Beispiel nur unseren Vetter Caleb und seine Frau an.« »Die beiden streiten sich doch wie die Straßenkatzen.«
»Ja, das stimmt, doch sie scheinen das sogar zu genießen, denn auf jeden Streit folgt die Versöhnung.«
»Ist es denn wirklich das, was du willst, Val? Eine Frau, die dir bei jedem Wutanfall das Geschirr an den Kopf wirft?«
»Nein. Aber Effie wird schon eine Braut finden, die bestens zu mir passt.«
Lance rieb sich über die Nase, weil er gegen so viel Verbohrtheit nicht ankam. Eigentlich ging es ihn auch gar nichts an, was sein Bruder mit seinem Leben anfing. Und doch, wenigstens einen Versuch wollte er noch unternehmen, ihn zur Vernunft zu bringen,
»Glaubst du nicht, dass es besser für dich wäre, auf die Stimme deines Herzens zu hören?«
»Aber ...« Val schluckte und fuhr dann leise fort: »Ist das nicht genau das, was du versucht hast?«
Lance fehlten für einen Moment die Worte, denn das konnte er beim besten Willen nicht abstreiten. Sein Kennerauge und sein heißes Blut hatten sich für Adele Monteroy entschieden – die Frau seines vorgesetzten Offiziers.
»Ja, das war töricht von mir«, gab er zu. »Aber ich habe dir immer schon das bessere Urteilsvermögen zugetraut. Wenn du wirklich glaubst, die Hilfe eines Brautsuchers in Anspruch nehmen zu müssen, dann ist das deine Sache. Dazu brauchst du doch nicht meine Erlaubnis.«
»Nein ... aber deine Hilfe.«
»Wie bitte? Wobei denn?«
»Du weißt doch, wie Effie ist. Sie gibt sich immer sehr zögerlich, wenn man ihre Dienste als Brautsucherin in Anspruch nehmen will. Seit vierzehn Tagen gehe ich jeden Nachmittag zu ihr, aber sie hält mich immer nur hin.«
»Und was soll ich tun?«
»Mit ihr reden. Die Menschen hören dir zu, Lance. Du erweckst ihre Aufmerksamkeit und bringst sie dazu, das zu tun, was du von ihnen verlangst. In diesem Punkt bist du genau wie Vater.«
O nein, dachte Lance. Er hatte ganz gewiss nichts von dem legendären Anatole St. Leger an sich. Das sah man doch allein schon daran, dass ihm das berüchtigte Schwert abhanden gekommen war. Und jetzt sollte er auch noch diesen Brautsucher-Unfug unterstützen und sich mit Elfreda Fitzleger gemein machen? Niemals!
Aber ein Blick auf seinen Bruder reichte. Wie konnte er Val das abschlagen? »Also gut, ich spreche mit dieser unmöglichen Frau. Das bin ich dir wohl schuldig.«
»Danke«, sagte Val, »auch wenn es mir lieber wäre, du würdest das tun, weil wir Brüder sind.« Er strahlte Lance an. »Aus Anerkennung dafür werde ich auch meinen Erstgeborenen nach dir benennen.«
»Bloß nicht!«, rief Lance entsetzt aus. »Als ob es nicht schon schlimm genug wäre, dass Vater Mutter erlaubte, uns so unmögliche Namen zu geben. Sankt Valentin!«
»Und Sir Lancelot!«
Schon in ihrer Kindheit hatten sie sich gegenseitig mit diesen Namenszusätzen geärgert, bis die Fäuste geflogen waren. Lance hätte sich jetzt beinahe vergessen und Val auf den Arm geboxt. Aber er ließ die Hand wieder sinken.
Val verabschiedete sich mit den Worten, dass er seinen Bruder nun lange genug aufgehalten habe. Lance ging vor ihm her und öffnete ihm die Tür. Als Val sich draußen auf dem Flur befand, schaute er ihm hinterher.
Das Hinken war schlimmer geworden, und vermutlich hielt in Wahrheit das kaputte Knie Val halbe Nächte lang wach. Jedenfalls mehr als irgendwelche nebulösen Heiratsgelüste.
Dabei hätte Lance diese Verletzung davongetragen, wenn Val damals nicht eingeschritten wäre. Er schloss die Tür leise und fragte sich wie so oft, ob er seinen Bruder wirklich liebte oder nicht vielmehr hasste.
Aber Lance konnte ihn kaum so sehr hassen wie sich selbst.