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1 Die verschlossene Tür

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Nürnberg im Januar 1796

»Zehn Flaschen Wein?«, schimpfte Anna, während sie ihren Blick durch das verwüstete Arbeitszimmer ihres Mannes wandern ließ. Sie zählte leise durch: Auf dem Sekretär standen tatsächlich zehn leere Weinflaschen. Kopfschüttelnd ging sie zu ihrem Gatten, der wie leblos auf dem handgeknüpften Teppich lag. Sein Alkoholkonsum war mit den Jahren ins Unermessliche gestiegen. Lange Zeit hatte er seine Sucht verheimlichen können, aber inzwischen war sein Körper derart gezeichnet, dass sein jahrelanges Geheimnis für jeden ersichtlich war. Er aß kaum noch und war bis auf die Knochen abgemagert. Wenn er doch einmal an einem gemeinsamen Mittagessen teilnahm, verzehrte er ein paar Bissen und hatte anschließend sofort mit schweren Magenkrämpfen zu kämpfen. Sein Gesicht war übersät mit roten Pusteln, der Teint grau, an manchen Tagen gelblich wie seine Augen. Wenn er sprach, dann stotterte er wirr und verfehlte das eigentliche Thema.

Und nun lag er da, wie tot. Anna kämpfte mit sich. Gerne hätte sie ihn getreten – ins Gesicht oder in den Bauch. Aber sie besann sich und tippte ihn nur leicht mit der Spitze ihres linken Seidenschuhs in seine Seite. Er stöhnte und drehte sich auf den Rücken. Eine Hand legte er auf seine Magengegend, die andere auf die Stirn. Vermutlich musste er ausloten, welcher Schmerz ihm mehr zu schaffen machte.

»Steh auf, verdammt noch mal! Ich dachte schon, du wärst tot.« Anna ging zum Fenster, um die schweren Samtvorhänge zu öffnen. Die stickige Luft im Raum war vollgesogen vom Geruch nach Alkohol und Erbrochenem. Draußen war kalter Winter, trotzdem öffnete sie beide Fensterflügel und ging zurück zu Bertold. Der Raum kühlte rasch ab. Anna rieb sich fröstelnd die Oberarme, die nur von dünnen Chiffon-Ärmeln bedeckt waren, und stieg von einem Bein auf das andere.

»Wie kannst du zehn verdammte Flaschen Wein trinken und noch immer leben? Du bist erbärmlich.« Ihre Stimme klang barsch und für eine Frau auffallend sonor. Angewidert betrachtete sie den ausgezehrten Körper ihres Mannes. Für einen Moment stellte sie sich vor, wie es wäre, wenn er nicht mehr aufwachte, wenn er einfach liegen bliebe, bis die Bestatter ihn abholten. Wenn er endlich nicht mehr hier wäre und sie in ihrem Tagesablauf störte. Es war ein guter Gedanke, der die Züge in ihrem verhärmten Gesicht aufhellte. So sehr sie die Tagträumereien vom Leben als Witwe auch beflügelten, so sehr wusste sie, dass sie als solche der völligen Mittellosigkeit ausgeliefert wäre.

»Steh auf!«, schrie sie wütend über ihre aussichtslose Lage. »Draußen wartet ein junger Herr, der deine Dienste benötigt. Vermutlich ist er der letzte Mensch auf Erden, dem die Kunde über deinen geistigen Verfall noch nicht zu Ohren gekommen ist. Willst du, dass auch er zur Konkurrenz geht? Notare gibt es genug. Gute eher wenig, aber einen so schlechten wie dich, sicher kein zweites Mal. Steh auf, wasch dir das Erbrochene aus dem Gesicht und zieh dir ein anderes Hemd an!« Wie gerne hätte sie ihn bespuckt, um ihm ihre Verachtung zu zeigen. Stattdessen beherrschte sie sich und machte sich auf den Weg zur Tür, um den erkalteten Raum zu verlassen.

»Wird schon einen Grund geben, warum ich so viel trink«, murmelte Bertold, während er sich mühsam aufzusetzen versuchte.

Anna blieb stehen und atmete scharf die eisige Luft ein. Ihre lang gezogenen Augenbrauen verfinsterten den Blick ihrer stechend grünen Augen. Wütend heiße Schauer flammten durch ihren Körper. Blitzschnell drehte sie sich um und funkelte ihren Gatten teuflisch böse an.

Beherrsch dich!, mahnte sie sich, doch ihre Hand war schnell, zu schnell. Sie fasste nach einer leer getrunkenen Flasche auf der Kommode neben sich und warf sie mit der vollen Wucht ihres aufgestauten Zorns an die Wand. Weder Bertold noch Anna nahmen Notiz von den Scherben, die klirrend zu Boden flogen. Es war nicht der erste Gegenstand, der gegen eine Wand geschleudert worden war. Aber es war einer der wenigen, der sein Ziel verfehlt hatte.

»Das wagst du nicht!«, schrie sie aus Leibeskräften. »Nein, du wagst es nicht, mich für deine Trinksucht verantwortlich zu machen! Du, der du mein Leben auf dem Gewissen hast. Ja, stier mich nicht so dumm an, du warst es doch, der das gesamte Vermögen meines Vaters in Wirtshäusern und Bordellen durchgebracht hat.«

»Tu nicht so unschuldig«, flüsterte Bertold mit geschlossenen Augen und rieb sich beide Schläfen. »Beim Verschwenden unseres Vermögens standest du mir überaus hilfreich zur Seite!«

Anna schwieg. Ein Blick durch das mit Prunk ausstaffierte Zimmer genügte. Die hochwertigen Seidentapeten mit floralen Mustern, die Beistelltischchen mit den prunkvollen Einlegearbeiten, die kostbaren Vasen mit den üppigen Goldverzierungen – alles war nach ihren Wünschen arrangiert worden. Die vielen Partys, die Gäste, das teure Essen und die besten Weine, all das hatte sie geliebt. Die Musik, die Tänze, das Lachen. Bei dem Gedanken an die lauten Nächte biss sie sich auf die schmalen Lippen. Sie wusste, dass ihr ein derartiger Lebensstandard nie wieder vergönnt sein würde. Dabei hätte sie es verdient, so zu leben. Nach all den Entbehrungen und den Schicksalsschlägen hätte sie es verdient.

Wortlos hob sie ihre raschelnden Röcke, stieg über den am Boden sitzenden Bertold und schloss die Fenster. »Ich gebe dir fünf Minuten, dann bitte ich den jungen Mann zu dir ins Arbeitszimmer.« Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, verließ sie den Raum.

Am Flur angekommen, konnte sie nur noch feststellen, dass der Herr aufgrund des Geschreis und Gescheppers das Haus fluchtartig verlassen haben musste.

Er sollte der Letzte gewesen sein, der die Dienste des Notars Zwanziger in Anspruch hatte nehmen wollen. Die Kanzlei blieb verwaist und diente Bertold einzig und allein als Rückzugsmöglichkeit vor seiner Frau und der Realität. Die paar Wochen, die sein Leben noch währen sollte, widmete er seiner Trinksucht.

Anna mied das Arbeitszimmer ihres Gatten. Sie hatte beschlossen, sich damit abzufinden, dass Bertold trotz ihrer Strenge nicht mehr zu retten war. Nur zu gern ging sie an der Tür vorüber und versuchte zu ignorieren, welches Drama sich dahinter abspielte. In seinen Schränken und Regalen befanden sich Unmengen an Alkohol. So schnell würde er seine Kanzlei nicht verlassen, war Anna sich sicher. Sie genoss die Ruhe, die die Abwesenheit ihres Gatten mit sich brachte, und verdrängte den finanziellen Ruin, der ihnen Mangels der Einkünfte aus dem Notariat bevorstünde.

Lieber kümmerte sie sich um ihre Töchter, ließ sie mit feinen Kleidern aufputzen und flanierte mit ihnen durch die belebten Straßen Nürnbergs. Greta und Elsbeth waren Annas Stolz und sollten eines Tages in die gehobene Gesellschaft heiraten und ein unbesorgtes Leben an der Seite des wohlhabenden Gatten führen. Eine Tatsache, die ihr selbst nie vergönnt gewesen war.

Missmutig dachte sie zurück an ihren Vormund, der sie bereits im zarten Alter von sechzehn Jahren dem viel zu alten Scheusal Zwanziger versprochen hatte. Gewehrt hatte sie sich gegen diese Verbindung, gebrüllt und getobt hatte sie so laut, dass die Schreie heute noch in ihrem Kopf nachzuhallen schienen. Genutzt hatte es ihr keinen Deut, die Verbindung war beschlossene Sache zwischen den beiden Männern gewesen.

Bei dem Gedanken an die erzwungene Ehe legte sich Annas Stirn in tiefe Falten und ihr Blick verfinsterte sich. Sie hatte es nicht verdient, in solch einer lieblosen Beziehung zu verkümmern. Als junge Frau hatte sie von einem Mann geträumt, der ihre Wünsche von den Augen abzulesen vermochte und der bereit war, sie auf Händen durchs Leben zu tragen. Dass ihr Schicksal ein aufbrausender Alkoholiker war, hatte sie damals noch nicht wissen können. Nun, da er seiner Sucht bald erläge und der Tod womöglich bereits auf ihn lauerte, wäre es an der Zeit, Frieden mit ihrem Gatten zu schließen.

Morgen vielleicht, ging es ihr durch den Kopf. Damit verdrängte sie die trüben Gedanken an den gefallenen Bertold, der sich bereits vor einer viel zu langen Zeit als Ballast entpuppt hatte. Lieber lauschte sie ihren Töchtern beim Unterricht am Piano und nickte ihnen wohlwollend zu, wenn sie ein Stück fehlerfrei vorgetragen hatten.

Wenige Tage später, am 21. Januar, verspürte sie mit einem Mal eine beklemmende Stille, die sich im Haus breitzumachen schien. Und so begann sie, beim Schlürfen des morgendlichen Kaffees zu grübeln, vor wie vielen Tagen sie Bertold das letzte Mal gesehen oder gehört hatte.

»Du, Zenz, warst du heut schon beim Bertold?«, fragte sie das junge, schüchterne Dienstmädchen.

»Gnädige Frau, nein«, erwiderte diese gesenkten Blickes. »Vor zwei Tagen hat er sich verbarrikadiert und niemanden mehr zu sich gelassen. Ich fürcht, er verliert den Verstand, gnädige Frau.«

»Ich glaub nicht, dass dir dergleichen Bemerkungen zustehen!«, wetterte Anna und stand von ihrem Stuhl auf, um Kreszenz mit ihrer Größe einzuschüchtern.

»Gewiss, gnädige Frau, ich meinte nur, verzeihen Sie.« Das Dienstmädchen verließ den Raum in geduckter Haltung, um der Hausherrin so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten.

Anna nahm in überspitzt aufrechter Haltung auf ihrem Stuhl Platz und rührte klimpernd den erkalteten Kaffee in ihrer Tasse um. Bertold hatte sich also in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen. Warum hatte er das getan? Anna fühlte ein kaltes Gefühl der Beklemmung von ihrem Brustkorb die Kehle hochkriechen. Mit festem Druck versuchte sie, ihre Bedenken hinunterzuschlucken.

»Zenz!«, rief sie schrill und eilte hinaus auf den Flur.

»Ja, gnädige Frau?«

»Komm mit!« Ohne weitere Erläuterung ging sie zu Bertolds Arbeitsraum.

»Tatsächlich, da ist abgeschlossen«, meinte sie nach kurzem Rütteln an der Türklinke. »Bertold, du machst jetzt sofort auf!« Anna versuchte möglichst viel Bestimmtheit in ihre Stimme zu legen, schaffte es jedoch nicht, das Zittern zur Gänze zu überspielen. »Hol den Alfred«, befahl sie dem Dienstmädchen, ohne ihren Blick von der verschlossenen Tür zu wenden.

Kreszenz huschte durch den Flur und rief dabei lautstark nach dem Hausdiener, der zu dieser Uhrzeit normalerweise mit dem Planen diverser Besorgungen beschäftigt war.

»Beeilt euch!«, schrie Anna in den leeren Flur und musste sich eingestehen, dass sie aufgrund der Stille hinter der Tür verunsichert war. Vermutlich hätte sie doch ab und an nach ihrem Gatten sehen sollen, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Aber all das war ihr in den letzten Jahren zuwider geworden. Der Gedanke an seine patschigen Hände, die sofort nach ihr griffen, wenn ihm nur das kleinste Gefühl von Zuneigung von seiner Gattin entgegengebracht wurde. Der schreckliche Atem, der trübe Blick. Nein, Anna brauchte sich ihr Herz gewiss nicht mit Vorwürfen zu erschweren. Sie hatte diesen Mann lange genug ertragen müssen.

»Gnädige Frau, Ihr habt nach mir rufen lassen?« Alfreds Stimme ließ sie hochschrecken.

»Ja, du musst die Tür öffnen«, antwortete sie dem hünenhaften Mann, der sich trotz seiner Körperfülle eine gewisse Eleganz bewahrt hatte.

»Der gnädige Herr hat jede Störung untersagt«, sagte er leise, während sein Gesicht an Farbe verlor.

»Du Dummkopf!«, schalt ihn Anna. »Verbot hin oder her, wir müssen nach dem Rechten sehen. Bertold braucht womöglich unsere Hilfe.«

Ohne ein weiteres Aufbegehren, trat Alfred an die Hausherrin heran und bat sie mit einer Handbewegung, sich von der Tür zu entfernen. Seinem Räuspern war zu entnehmen, dass er sich bei diesem Auftrag unwohl fühlte. Bis heute hatte er den Anordnungen des Herrn Zwanziger entsprochen, und alles in seinem Körper sträubte sich dagegen, diese Tür zu öffnen.

»Herrgott noch mal, Alfred, öffne die verdammte Tür!«, fauchte Anna, die die Gedanken des Hausdieners erraten hatte.

Wortlos nickte Alfred und rüttelte an der Türklinke. Erst leicht, dann noch einmal stärker, und schließlich drückte er mit seinem gesamten Körpergewicht dagegen. Der Hausdiener brauchte keine große Kraftanstrengung, um die Tür mit einem leichten Knacken zu öffnen.

»War das wirklich nötig, das Schloss zu ruinieren?«, fragte Anna erbost.

Noch bevor sie ihr Gezeter fortführen konnte, strömte ihr durch den kleinen Spalt ein bestialischer Gestank entgegen.

»Meine Güte, was treibt er da drinnen?«, flüsterte Anna und hielt sich ein mit Häkelspitze verbrämtes Tuch vor Nase und Mund. »Nun denn, sehen wir nach, damit wir es hinter uns bringen.« Anna wies das Personal mit einem Fingerzeig an, sich auf den Weg ins Arbeitszimmer zu machen. Es musste sein. Niemand sollte sagen können, sie habe sich nicht gekümmert.

Anna hatte gerade einen Fuß über die Schwelle gesetzt, da fuhr ihr der Schrei des Dienstmädchens durch Leib und Seele. Eilig betrat nun auch Anna den Arbeitsraum ihres Gatten und stellte sich zu Kreszenz und Alfred. Die Blicke der drei bohrten sich in den am Boden liegenden, leblosen Körper des Hausherrn. Der abartige Geruch, der den Raum erfüllte, ließ keinen Zweifel am Ableben des Hausherrn. Anna kniete neben ihrem Gatten und weinte ehrliche Tränen. Bertold würde sie nicht vermissen, sehr wohl aber das Leben, das sie an seiner Seite einmal geführt hatte.

Am offenen Grab des Bertold Zwanziger machte sich ein überraschend dumpfes Gefühl in Annas Brustkorb breit. Es wehte ein kalter Wind, der ihr Tränen aus den Augen drückte und die Frisur ruinierte. So lange Zeit hatte sie sich diesen Tag herbeigesehnt und nun hoffte sie, dass er schnell vorübergehen möge. Als die Totengräber begannen, den Sarg mit Erde zu bedecken, musste sie sich eingestehen, dass sie für ihren Mann nicht nur Ablehnung empfunden hatte. Ihre arrangierte Ehe war schlecht und von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Bei der Heirat war sie viel zu junge achtzehn Jahre und er doppelt so alt wie sie gewesen. Die Zeit an der Seite von Bertold Zwanziger war geprägt von Streit, Hass, Gewalt und seiner Alkoholsucht. Es gab keinen einzigen gemeinsamen Nenner in ihrer Beziehung, nicht einmal, was den Umgang mit den Kindern betraf. Es gab keinen Morgen, an dem sie sich nicht zankten und kaum einen Abend, der ohne Vorwürfe oder Schläge ausklang. Und dennoch hinterließ der endgültige Abschied dieses kalten Alltages ein schwarzes Loch, das es zu füllen galt.

Ihre Töchter drückten sich eng an ihren Leib und beweinten den Verlust des Vaters, der sie nur zu gerne verwöhnt hatte.

Anna versuchte, ihren betäubenden Schmerz beiseitezudrängen und sich Luft für Überlegungen zu machen. Wie sollte es nun weitergehen mit ihr und den Kindern? Dass es finanziell schlecht um sie stand, hatte sie vermutet, aber bei einem Gespräch mit der Bank am Vortag, war die Ernsthaftigkeit der Lage offengelegt worden. Bertold hatte sie so tief in den Sumpf der Schulden gestürzt, dass ihnen letzten Endes nicht einmal das Haus gehörte.

»Wir geben Ihnen noch zwei Wochen, dann sollten Sie das Haus geräumt haben«, hatte der auffallend junge Bankier gemeint. Während des gesamten Gespräches hatte er seinen Blick auf die Papiere vor sich gesenkt gehalten. Sein schlechtes Gewissen der Witwe gegenüber hatte ihm nicht erlaubt, ihr zum Abschied in die Augen zu schauen.

Es war ein grauer Tag im Leben der Anna Zwanziger. Schwere Regentropfen fielen auf ihr schwarzes Seidenhütchen, das sie vermutlich nicht mehr lange ihr Eigen nennen könnte.

Schon am nächsten Tag packte Anna die wenigen Habseligkeiten, die ihr geblieben waren, und verließ noch vor Ablauf der Frist die Villa Zwanziger. Es war ein seltsames Gefühl, den letzten Schritt über die Schwelle zu steigen. So sehr die Heirat und der Einzug in dieses Haus auch erzwungen gewesen waren, so sehr war beides auch von der Hoffnung auf eine wohlhabende Zukunft an der Seite eines fürsorglichen Gatten begleitet worden. Keiner ihrer Träume war in Erfüllung gegangen. Wenn sie zu Lebzeiten ihres Mannes schon kein gesichertes Einkommen gehabt hatte, wie sollte sie ihr Auskommen sichern, wenn sie allein war?

Als sie die aufwändig mit Schnitzereien verzierte Haustür endgültig hinter sich schloss, begannen die beiden Töchter hysterisch zu schreien. Um Annas Kehle legte sich eine Schlinge, die sich mit jedem Atemzug ein Stück mehr zuzog. Mit beiden Händen umfasste sie Greta und Elsbeth und zog sie eng an sich. Den Blick nach vorn gerichtet, stieg sie die Treppen hinab und ließ die prunkvolle Stadtvilla hinter sich, ohne noch einmal zurückzuschauen.

»Alles wird gut.« In Annas Stimme lag keine Wärme, kein Trost. Ihr Griff um die zarten Hände ihrer halbwüchsigen Töchter war kalt und zerrte sie schonungslos durch die Straßen Nürnbergs. Mit ihren zwölf und vierzehn Jahren waren sie schließlich alt genug, um mit ihrem Gram allein fertigzuwerden.

Beide Kinder brachte sie bei ihrer Freundin Charlotte unter – sie musste erst ihre finanziellen Nöte bereinigen, sich um eine neue Unterkunft kümmern.

Mit einem zustimmenden Kopfnicken empfing Charlotte ihren bereits erwarteten Besuch, kredenzte den jungen Damen Kuchen und Saft, worauf sie sich flüsternd mit Anna unterhielt.

»Es ist nur für kurze Zeit, versprochen!«, versicherte Anna und drückte ihrer Freundin die Hände.

»Kannst dich auf mich verlassen, Anna. Ich werd mich um die zwei kümmern. Viel kann ich ihnen nicht bieten, kennst ja meine bescheidenen Verhältnisse, aber sie bekommen Essen und eine saubere Bettstatt.«

»Und du sollst es nicht umsonst tun, liebste Charlotte. Wenn ich meine Geldsorgen erst bereinigt habe, werde ich dir deine Hilfe großzügig vergelten.« Anna hauchte ihrer Freundin einen kühlen Kuss auf die Wange und strich ihr eine goldblonde Haarsträhne hinter die Ohren.

Charlotte war etwas kleiner, was es Anna einfacher machte, auf die bescheidene Schneiderin herabzublicken. Als Kinder waren sie beide eng verbunden gewesen, hatten einige Jahre bei derselben Pflegemutter verbringen müssen, aber diese Zeiten waren vorbei. Anna war gewachsen, und das in jeder Hinsicht. Sie würde ihre Kinder nicht länger als nötig in dieser derart heruntergekommenen Wohnung lassen, aus deren Wänden nur Kälte und Feuchte troffen.

Mit einem gespielten Lächeln nickte sie ihrer blassen Freundin zu, dann wandte sie sich von ihr ab und setzte sich zwischen ihre Töchter. Lange Zeit sah sie ihnen beim Essen zu, war dabei versucht, sie auf ihre schlechte Haltung und das viel zu laute Schmatzen hinzuweisen. Sie verbiss sich ihren Kommentar.

Wer weiß, wann ich die beiden wiedersehen werde – sollen sie mich in guter Erinnerung behalten.

»Es ist nur für kurze Zeit!« Anna versuchte, sich aus den festen Umarmungen der Töchter zu lösen. »Charlotte wird sich um euch kümmern.« Hilfe suchend blickte sie zu ihrer Freundin, die das traurige Schauspiel aus der Ferne beobachtete. Anna kämpfte mit ihren Tränen, sie wollte sich vor den Kindern nicht die Blöße geben und ihre Gefühle offen zu Schau stellen. Was wäre sie für ein Vorbild, wenn sie einen derartigen Ausbruch zuließe? Nein, sie schluckte ihre Betrübnis hinunter und drückte die beiden weinenden Mädchen von sich.

»Kommt zu mir, eure Mutter muss gehen.« Charlotte breitete ihre Arme aus, um die Kinder in Empfang zu nehmen, doch diese standen nur da und blickten mit verweinten Augen der Mutter nach. Einer Mutter, die sie von sich stieß und nicht haben zu wollen schien.

Sich räuspernd griff Anna nach ihren Taschen und marschierte zur Tür. Ein letztes Mal drehte sie sich um und sah, wie sich ihre Mädchen schluchzend in die Arme ihrer Freundin warfen. Hier würden sie es gut haben. Charlottes Umgang mit den beiden entsprach zwar nicht ihren Vorstellungen von Erziehung, aber in harten Zeiten wie diesen waren manche Begebenheiten in Kauf zu nehmen.

Mit gekonntem Griff straffte sie den Sitz ihres viel zu engen Mieders, knöpfte den Mantel aus feinster cremefarbener Wolle zu und verließ das Haus. Es wäre nicht für lange, versuchte sie sich zu beruhigen, als sie das seltsame Kribbeln in ihrer Magengegend aufkeimen fühlte. Bald wäre sie wieder hier und würde ihre Mädchen zu sich nehmen, würde gutmachen, dass sie sie heute so schmählich im Stich gelassen hatte. Dann würde sie sich wieder ihrer Erziehung annehmen. Schließlich wären sie schon in wenigen Jahren im heiratsfähigen Alter und mussten auf die Gesellschaft vorbereitet werden. Doch erst war die finanzielle Lage zu klären.

Nach einem tiefen Seufzer machte sie sich auf den Weg. Sie wusste, wohin sie zu gehen hatte. Als mittellose Witwe blieb ihr nur dieser eine Weg, das war ihr in den letzten Tagen des Grübelns bewusst geworden. Sie würde ihren Körper verkaufen, würde sich Männern gegen Geld hingeben. Das war keine Schande, versuchte sie sich einzureden, sie hatte ja sonst niemanden, der ihr Unterstützung anbot. Sie war auf sich gestellt. Wie immer, dachte sie und ließ eine kurze Erinnerung an ihre viel zu früh verstorbenen Eltern zu.

Der Weg zu ihrem anvisierten Ziel war lang, und doch wünschte sie sich mit jedem Schritt, dass er noch länger sein möge. Als die gesuchte Straße in Sichtweite kam, blieb sie stehen, stellte ihre Taschen ab und blickte hoch zum abenddämmrigen Himmel. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, ihre Fingernägel vergruben sich tief in ihren Handflächen. Der Schmerz störte sie nicht. Vielmehr machte ihr die Ungerechtigkeit zu schaffen, die das Leben stets mit sich brachte und die sich einfach nicht von ihr abwenden wollte. Wütend biss sie sich auf die Unterlippe, bis sie Blut schmeckte.

Es nützte alles nichts, sie hatte die letzten Meter hinter sich zu bringen. Zaghaft klopfte sie an die Tür eines berüchtigten Laufhauses. Für einen Moment dachte sie an die Tür ihrer Stadtvilla, die sie vor wenigen Stunden hinter sich geschlossen hatte. Sie sah jede Verzierung des vertrauten Eingangs vor sich, war sicher, jeden Schnörkel blind nachzeichnen zu können. Die armselige Tür dieses Etablissements hatte gar nichts mit der der Stadtvilla gemein. Sie verströmte eine widerliche Aura, das Holz war matt und voller Dellen. Wer waren die Männer, die an solch eine Tür anklopften und Eintritt verlangten? Sie würde es bald erfahren, dachte sie und blinzelte gegen ihre aufsteigenden Tränen an.

Als man ihr öffnete, brauchte sie ihr Anliegen gar nicht erst in Worte zu fassen. Die Dame in ihrem wallenden roten Morgenmantel verzog ihren aufdringlich geschminkten Mund zu einem Lächeln und bat die Witwe mit einer Handbewegung ins Haus.

Ohne zu wissen, was sie erwartete, ging Anna durch die geöffnete Tür und trat ein in ein neues Leben.

Die Giftmörderin

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