Читать книгу Die Giftmörderin - Susann Anders - Страница 7
2 Delikatesse
Оглавление»Das Zimmer ganz hinten ist vor ein paar Tagen frei geworden. Das kannst du haben«, meinte die Dame in Rot mit rauchiger Stimme, wies Anna den Weg und machte sogleich kehrt, um die Witwe sich selbst zu überlassen.
»Du kannst nicht einfach gehen!«, rief ihr Anna entrüstet nach. »Was muss ich sonst noch wissen?«
»Oh, du bist neu«, meinte sie gereizt. »Na, da gibt es nicht viel zu wissen: Zieh dir was anderes an, in deinem schwarzen Kittel würdigt man dich keines Blickes.« Sie rümpfte die Nase und fuchtelte an Annas Kleid herum. »Wenn du Hilfe brauchst, dann schrei, so laut du kannst!«
»Hilfe?«, fragte Anna beunruhigt.
»Wenn es so weit ist, wirst du schon wissen, was ich meine. Was die Preise betrifft, so sprich dich mit den anderen ab, die sehn es nämlich nicht gerne, wenn die Neuen sie unterbieten. Ich komm einmal die Woche und kassier die Miete. Sonst noch was?«
Anna sah ihrem Gegenüber in die Augen. Die Frau sah müde aus, ihre Haut hatte einen grauen Teint, den nicht einmal der üppig aufgetragene Puder zu verdecken mochte. Wie lange war sie wohl schon in diesem Geschäft? Die Abgebrühtheit, mit der sie das Lusthaus zu betreiben schien, schreckte Anna ab. Würde sie auch so enden?
Nein, ich mach das nur, bis ich genügend Geld habe, dann bin ich weg!
»Wie komme ich überhaupt an Kundschaft?«
»Wenn sie dich brauchen, klopfen sie schon bei dir an der Tür, keine Bange! Wenn du deine Sache gut machst, dann spricht sich das rasch rum.«
»Ich will aber nur edle Männer und nicht irgendwelche schmutzigen Kerle«, sagte Anna forsch und richtete sich zur vollen Größe auf.
Die Dame in Rot besah den Neuankömmling prüfend – brach in schallendes Gelächter aus und wandte sich kopfschüttelnd ab. Sie hatte den Flur längst verlassen, da hörte Anna sie noch immer lachen.
Eine Weile stand Anna noch da, nestelte an ihrem Rock und überlegte, was zu tun war. Sie wollte nicht hierbleiben, es fühlte sich von Grund auf falsch an. Aber was sollte sie ihren Kindern sagen, wenn sie ohne Geld zurückkäme? Womit sollte sie Essen und Kleider kaufen? Ihre Augen füllten sich mit Tränen und ihr Körper begann zu zittern.
Dann tat sie das, was sie immer tat, wenn sie am Boden zerstört war: Sie ohrfeigte sich selbst. Einmal. Fest und laut. Ein zweites Mal. Noch fester. Dann nahm sie ihre Tasche, als ob nichts gewesen wäre und ging auf das Zimmer, das von nun an ihr Zuhause sein sollte. Es würde nicht angenehm werden, das wusste sie, aber es war ihre einzige Chance.
Vorsichtig betrat sie den Raum, sah sich um. Er war klein, eher winzig. In der Luft hing der süßliche Geruch von Schweiß. Anna hielt sich ihre behandschuhten Finger vor die Nase und atmete so flach wie möglich. Es gab einen schmalen Kleiderschrank und ein Bett, dessen Laken zerknüllt auf der durchgelegenen Matratze lag.
Beim Anblick der Schlafstatt verzog sie angewidert das Gesicht und versuchte sich ein Bild davon zu machen, wie viele Männer schon darauf gelegen und ihrer Lust gefrönt hatten. Ein Hustenanfall, der in einem Brechreiz endete, überkam sie.
Rasch drehte sie sich um – weg vom Bett – und sah direkt neben der Tür einen Spiegel stehen. Er reichte bis zum Boden und gewährte ihr einen Blick auf ihren üppig weiblichen Körperbau und ihre hängenden Schultern. Ihr Leib bot keinen anziehenden Anblick, und sie stellte sich selbst die Frage, wer Geld zahlen würde, um ihn für ein paar Stunden sein Eigen nennen zu dürfen.
»Du musst mit deinem Charme bestechen, dann liegen sie dir bald alle zu Füßen«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild und spielte mit ihrer Mimik. Sie legte den Kopf schräg und versuchte ein laszives Lächeln aufzusetzen, einen fordernden Blick, dann eine dominante Miene. Sie gab ihr Bestes, aber sie wusste, dass es nicht genügen würde. Es hatte noch nie genügt. Nie hatte irgendjemand sie gewollt. Sie biss auf ihre schmale Unterlippe und schloss ihre zu weit auseinander stehenden Augen. Sie dachte an ihre Kindheit, in der sie mehr als einmal ihre Pflegestelle wechseln musste. Immer gab es irgendwelche Ausflüchte. Kaum hatte sie sich an ein Daheim gewöhnt, wurde ihr Koffer gepackt und samt ihr an einen anderen Ort verfrachtet. Lieblos und ohne eine Erklärung abzugeben. Es waren harte Jahre gewesen, in denen sie stets auf eine feste Heimat gehofft hatte.
Niemand mag mich, niemand braucht mich. Vermutlich sind sogar meine Töchter froh, dass sie mich los sind.
Anna setzte sich aufs Bett und starrte auf den verdreckten Fußboden. Automatisch hob sie ihre Beine an. Im Haus ihres Gatten Zwanziger hätte sie sofort nach den Bediensteten gerufen, sie lauthals angeschrien und sie den Boden auf den Knien wischen lassen. Nun war sie es, die den Dreck wegputzen musste, wenn sie sich daran störte. Das Leben änderte sich stetig. Sie würde sich mit ihrer neuen Situation zurechtfinden. Sie hatte schon viele Veränderungen in ihrem Leben durchgemacht und hatte alle überstanden. Irgendwann werde ich es ihnen allen zeigen.
Mit diesen Gedanken packte sie ihre Kleider in den Schrank, schlüpfte in ein möglichst aufreizendes Unterkleid, öffnete ihr hochgestecktes braunes Haar und ließ ihre wilden Wellen über die Schultern hängen. Ihr Lippenstift war nicht annähernd so rot wie der der Hausherrin, aber sie würde schon noch in ihre Rolle als Hure hineinwachsen. Sie setzte sich auf die ekelerregende Schlafstatt, starrte an die Tür, musste der Dinge harren und war dabei ihren Gedanken und Ängsten ausgeliefert.
Als es draußen dämmerte, begann sich das Bordell langsam mit Leben zu füllen. Anfangs hörte man Schritte und Türen, dann Stimmen und Gekicher, und spät nachts hatte Anna das Gefühl, dass das ganze Haus von Stöhnen und lustvollem Geschrei erfüllt war. Sie selbst saß noch immer reglos auf ihrem Bett, wollte, dass die Türe verschlossen blieb, und hoffte zugleich, dass sie sich bald öffnen möge. Dann könnte sie die erste Liebschaft mit einem Freier hier im Laufhaus hinter sich bringen.
Es sollte noch eine weitere Nacht dauern, bis ihre erste Kundschaft den Weg zu ihr fand. Und es stellte sich heraus, dass Anna sich mit weit weniger als einem edlen Herrn zufriedengeben musste.
Die ersten Wochen waren hart, und Anna hasste ihr Leben, hasste den Geruch von fremdem Schweiß auf ihrer Haut, hasste das verschmutzte Bett und ihre befleckte Scham. Sie war angeekelt von den Männern und von dem, was sie aus ihr gemacht hatten. Wenn es ganz schlimm war, und sie das Gefühl hatte, in dem zu kleinen Zimmer verrückt zu werden, dann biss sie sich so fest in die Lippen, dass sie bluteten. Oder sie ohrfeigte sich, bis sich in ihr ein Gefühl der Erleichterung breitmachte. Manchmal sehnte sie sogar den Tod herbei. Oder ihr altes Leben an der Seite des Säufers Bertold. Wie töricht sie gewesen war, als sie sich das Sterben des Gatten gewünscht hatte. Das war nun die gerechte Strafe für ihren Hochmut, dachte sie und träumte von besseren Zeiten, in denen sie wieder in der gehobenen Gesellschaft verkehren würde.
Mit den anderen Huren hatte sie nichts zu tun, die meisten kannte sie nicht, sah sie nur, wenn sie über den Flur huschten. Frauen dieses Standes hielten sich gerne bedeckt und gaben ungern Gesicht und Namen preis. Nur ihre direkte Zimmernachbarin führte des Öfteren belanglose Gespräche mit ihr. Sie nannte sich Lola, war um einige Jahre jünger, viel zu dünn und machte keinen Hehl daraus, dass sie bereits seit ihrer Kindheit diesem Gewerbe nachging. Sie hatte stets eine schlampig gedrehte Zigarette im Mund und ihr Blick war so leer, als hätte sie seit Jahren nicht geschlafen. Sie erzählte Anna gerne von ihren Zukunftsplänen als Künstlerin, deren Gemälde weltweit bekannt sein würden.
Anna schenkte ihr meist nur halbherzig Gehör, sie war zu sehr mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt. Sie dachte an ihre wechselnden Freier und wie sehr sie jede Stunde in diesem Hause hasste. Oder an die Feiern, auf denen sie sich im Hause Zwanziger vergnügt hatte, das Gelächter, die feinen Kleider, die Musik. Getanzt hatte sie oft die halbe Nacht. Selten mit Bertold, gerne aber mit den jüngeren Männern unter ihren Gästen.
Am allerwenigsten dachte sie an ihre Töchter. Nur manchmal fragte sie sich, wie es ihnen wohl erginge und ob sie auf die Rückkehr ihrer Mutter hofften. Charlotte würde den Tag verfluchen, an dem sie sich der Bälger angenommen hat. Aber das war nicht Annas Problem.
Nach etwa drei Monaten im Laufhaus lag sie an einem Samstagnachmittag auf ihrem Bett und weinte. Nein, sie weinte nicht nur, sie schrie wie eine Verrückte. »Ich will das nicht mehr! Es muss endlich aufhören!«, brüllte sie und raufte sich die Haare und riss sich dabei ganze Strähnen vom Kopf. Lola aus dem benachbarten Zimmer kam sofort angelaufen und stürzte aufgebracht in Annas Separee. Sie war nicht wenig überrascht, als sie feststellte, dass ihre Nachbarin kein Opfer eines Überfalls, sondern scheinbar dem Wahnsinn verfallen war.
»Was ist los? Alles ist gut«, versuchte sie Anna zu beruhigen und setzte sich zu ihr aufs Bett. »Hat dir jemand wehgetan?«, wollte sie wissen und legte ihre Hand auf Annas Schulter. Die Stimme und die Berührung von Lola ließen Anna ruhiger werden und ihr irres Geschrei ebbte langsam ab.
»Was ist passiert?«, fragte Lola erneut.
»Was passiert ist? Ich halte das hier nicht mehr aus!«, schluchzte Anna und wischte sich ihre Tränen aus dem Gesicht.
»Hat man dir wehgetan?«, wiederholte Lola ihre Frage.
»Ja! Sie tun mir alle weh. Jede meiner Körperöffnungen ist wund und brennt wie das Feuer der Hölle. Ich kann nicht einmal mehr auf den Topf, ohne mir vor Schmerz die Finger abbeißen zu wollen. Wie soll ich das noch länger ertragen?«
Lola zeigte wenig Verständnis für Annas Verzweiflung, schließlich war keine der Frauen gerne hier. Sie zog gelangweilt an ihrer Zigarette und überließ Anna wieder ihrem Selbstmitleid.
Am frühen Abend aber drückte sie Anna wortlos einen Tiegel Schweinefett in die Hand. Ein Geschenk, das für Anna nichts veränderte, aber ihr vieles erträglicher machte.
Einige Tage später sollte sich ihr Blatt überraschend wenden. Endlich fand ein edler Herr den Weg zu ihrer Bettstatt. Als sie dem gut gekleideten Mann die Tür öffnete, hüpfte ihr Herz vor Freude. Voll Entzücken begutachtete sie seine sauberen Hände und das frisch rasierte Gesicht, das herb nach Alkohol duftete. Die grauen Strähnen, die sich durch das dunkle, ordentlich gescheitelte Haar zogen, zeugten von seinem fortgeschrittenen Alter. Tränen der Freude wollten Anna in die Augen steigen, als er sich vor ihr verbeugte und ihr einen angenehmen Abend wünschte.
Meine Güte, das ist die Chance, für die ich so lange Zeit gebetet habe! Wenn ich die verpatze, sitze ich in zehn Jahren immer noch hier fest. Jetzt kann alles gut werden. Gib dir Mühe, Anna!
Und Anna gab sich redlich Mühe, den Freiherrn zufriedenzustellen, er sollte schließlich wiederkommen. Sie rieb ihn mit dem besten Öl ein, massierte ihn, biss ihn, kratzte ihn und schrie so lustvoll, wie sie nur konnte. Alle im Haus sollten hören, welch vollkommener Liebhaber der Freiherr von Wildbach war.
Offensichtlich stolz über seine erbrachte Leistung, kam er von nun an tatsächlich in regelmäßigen Abständen und ließ sich von Anna für seine Manneskraft huldigen. Diese tat es gerne, erhoffte sie sich doch, alsbald mehr für ihn zu sein, als eine dahergelaufene Hure. Anna staunte selbst über ihre raffinierte Seite, mit der sie den Freiherrn oft an den Rand des Wahnsinns trieb und ihn für sich gewann.
Und so verwunderte es sie kaum, als er ihr eines Tages eine kleine Wohnung anbot, in der sie ihre Bleibe hätte und in der er sie regelmäßig besuchen könnte. »Als Gegenleistung erwarte ich mir, dass du mir zur Verfügung stehst, wann immer mich nach dir verlangt!«, forderte der Freiherr, als er Anna den Schlüssel in die Hand drückte.
»Natürlich, immer und zu jeder Zeit«, hauchte sie und spürte ein hitziges Prickeln in ihren Wangen.
»Und du empfängst keinen anderen Männerbesuch«, setzte der Freiherr oben drauf. »Aber das sollte wohl eine Selbstverständlichkeit sein. Wenn ich dir schon die Wohnung bezahl, dann will ich mir nicht die Krankheiten anderer Männer einfangen.«
»Natürlich! Da könnt Ihr Euch sicher sein. Kein anderer Mann wird die Wohnung je betreten!«
»Nicht nur in der Wohnung, auch andernorts darf dich keiner mehr begehren!« Der Freiherr schien zu ahnen, dass Anna sich ein Hintertürchen offenzuhalten versuchte, und blickte ihr durchdringend in die stechend grünen Augen.
Anna senkte beschämt das Haupt. »Ihr braucht mir nicht zu misstrauen, ich gehöre Euch. Voll und ganz«, versicherte Anna mit Nachdruck und meinte es auch so.
»Sauber musst du sein und frisch gekleidet. Wenn ich zu dir komm, sollst du auf dem Bett liegen und mich mit offenen Beinen in Empfang nehmen. Du sollst meine Delikatesse sein. Dir wird es an nichts mangeln, solange du nur dafür sorgst, dass es mir gut geht.« Das waren die Worte des groß gewachsenen, stattlichen Herrn, die Anna wie im Rausch vernahm und sich endlich am Ziel ihrer Reise sah.
Ihre Habseligkeiten waren rasch gepackt und das Zimmer im Laufhaus verließ sie, ohne es eines letzten Blickes zu würdigen. Das Bett hinterließ sie ungemacht, so wie sie es vor Monaten vorgefunden hatte. Den halb verbrauchten Tiegel Schweinefett stellte sie Lola vor die Türe. Nicht aus Dankbarkeit, sondern als Zeichen dafür, dass sie – Anna Zwanziger – es geschafft hatte und es nicht mehr nötig hatte, ihre Körperöffnungen für besoffene Männer einzusalben.
Ja, Anna erlebte einen wahren Höhenrausch, als sie ihre kleine Wohnung zum ersten Mal betrat. Sie tanzte von einem Zimmer zum nächsten. Allesamt waren bescheiden, aber ausreichend möbliert. Sie hatte sogar einen eigenen Schminktisch. Genauso einen, wie sie ihn im Hause Zwanziger besessen hatte. Am meisten aber freute sie sich über das frische und ordentlich gemachte Bett, das direkt am Fenster stand. Sie warf ihre Tasche beiseite, ließ sich auf die gut gepolsterte Matratze fallen und fühlte sich wie im Himmel. Sie lachte, laut und immer lauter. Jeder sollte es hören: Anna Zwanziger hatte das Laufhaus hinter sich gelassen und durfte einer wohlverdient freudigen Zukunft entgegenblicken.
»Ha, ich werde es euch noch allen zeigen! Von nun an geht es bergauf! Bergauf!«, rief sie jauchzend und war selbst überzeugt davon.