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4 Charlottes Herz

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Nürnberg im September 1796.

Aufgeregt begutachtete Charlotte ihre Teetasse, die aus feinstem Porzellan gefertigt und mit zarten rosa Blumen verziert war. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie Tee aus so edlem Geschirr zu sich genommen. Und noch nie hatte sie in diesem prunkvollen Kaffeehaus gesessen. Ab und zu hatte sie im Vorbeigehen einen kurzen Blick durch das Fenster riskiert und dabei die extravagant ausstaffierten Damen bewundert – wie sie dasaßen mit ihren eleganten Hütchen, die perfekt zu dem hochgesteckten Haar passten. Die Lippen geschminkt und die Wangen gepudert. Meist hatte sie ihren Blick sofort gesenkt, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und die noblen Damen nicht bei ihrer Konversation zu stören. Sie selbst war stets nur wie ein Schatten durchs Leben gewandelt. Kaum jemand hatte ihr Beachtung geschenkt.

Anna und sie kannten einander von ihren Jahren bei der Pfarrerswitwe Hedwig Bleich hier in Nürnberg. Die grau melierte Dame hatte sich Charlottes angenommen, als sie gewahr wurde, wie armselig das Kind inmitten ihrer alkoholkranken und gewalttätigen Familie hausen musste. Eines Tages hatte Hedwig einfach vor Charlotte gestanden und ihr die Hand entgegengereicht. Ohne zu wissen, was das für sie bedeuten sollte, hatte Charlotte ihre dreckigen kleinen Finger ausgestreckt, hatte die Hand ergriffen und war mit der Fremden mitgegangen.

»Brauchst nie wieder zurück zu deinen Eltern«, hatte die Bleich gesagt.

In Charlottes Ohren klangen diese Worte damals wie eine Erlösung. Als sie gemeinsam mit der Witwe ihr Elternhaus für immer hinter sich ließ, fühlte sie keine Wehmut. Sie war froh, Vater und Mutter nicht wiedersehen zu müssen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Charlotte nicht vorstellen können, dass im Haus der Pfarrerswitwe noch viel schlimmere Gräuel auf sie warten sollten.

Wenige Monate später war Anna zu ihnen gestoßen, weil sie ihre Bleibe bei ihrer Tante Ursel aus Feucht verloren hatte. Hedwig hatte sich auch dieses Mädchens mit scheinbarer Großmütigkeit angenommen.

Charlotte konnte sich gut erinnern, wie es gewesen war, als sie der traurigen Anna zum ersten Mal gegenübergestanden hatte. Verweint war sie gewesen, die kleine Anna, weil sie gerne bei ihrer Tante geblieben wäre. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte diese sie bei sich aufgenommen, konnte sich aber aus gesundheitlichen Gründen nach zwei Jahren nicht mehr um ihre Nichte kümmern. Anna war am Boden zerstört gewesen, hatte tage- und nächtelang unter ihrer Bettdecke geschluchzt und niemanden an sich herangelassen. Erst als sich nach einigen Tagen Charlotte einfach zu ihr ins Bett gelegt und sich eng an sie gedrückt hatte, hatte sie sich langsam beruhigt.

Charlottes Herz fühlte sich schwer und kalt an bei dem Gedanken an die alte Hedwig Bleich. Sie war kein Segen gewesen, für keines der Mädchen, das sie bei sich aufgenommen hatte. Diese Vergangenheit fühlte sich finster an, und manchmal hatte Charlotte das Gefühl, dass das Haus der Pfarrerswitwe erfüllt gewesen war von einer teuflischen Dunkelheit.

Annas und ihre Wege blieben von da an verbunden, und das traurige Lächeln der verwaisten Anna war für Charlotte jedes Mal ein Trost gewesen. Gemeinsam würden sie alles schaffen, das hatten sie sich gegenseitig geschworen.

Charlotte blickte über den Tisch zu Anna und musste sich eingestehen, dass diese wohl mehr Glück gehabt hatte als sie selbst. Schließlich war es Anna, die sich den Besuch in dem noblen Kaffeehaus leisten konnte. Und Anna war es auch, die hübsch gekleidet und frisiert war. Und wie sie dasaß. Hätte Charlotte es nicht besser gewusst, hätte sie keinen Unterschied ausmachen können zwischen den reichen Damen und ihrer langjährigen Freundin.

Und doch war Charlotte es, die Annas Kinder zu umsorgen hatte, ihnen Essen und Kleider kaufte und sie unter ihrem armseligen Dach hausen ließ. Aber sie würde sich nicht beschweren, schließlich hatte Anna ihr versprochen, ihr alle Auslagen rückzuvergüten. Und mehr noch, eines Tages würden sie in den vornehmsten Häusern gastieren, würden auf Bälle eingeladen werden und feinste Kleider tragen. Und wenn sie Anna so ansah, dann fiel es ihr nicht schwer, diesen Worten zu glauben. So wie ihre Freundin ausstaffiert war, konnte ihr Reichtum nicht mehr lange auf sich warten lassen. Es musste nur eine passende Partie her, hatte Anna gesagt. Ein wohlhabender Mann, der sie zur Frau nähme, dann könnte sie alle Sorgen für immer vergessen.

»Ich werde nach Wien gehen«, platzte Anna heraus.

»Wien? Was solltest du in Wien? Ich denke, du hast hier eine passende Partie gefunden und stehst kurz vor deinem Ziel?« Charlotte legte den Teelöffel beiseite und starrte ihre Freundin fassungslos an. Mit einem Mal schien das Stimmengewirr rund um sie zu verstummen und ein lautes Tosen in ihren Gehörgängen zurücklassen. Anna wollte weg, würde sie verlassen, sie vergessen. Hatten sie nicht einander geschworen, für immer aufeinander achtzugeben? Charlotte kämpfte hart gegen den Drang zu weinen an und rührte zur Ablenkung den erkalteten Tee in ihrer Tasse um.

»Leider hat sich diese Verbindung als ungünstig erwiesen. Der Freiherr von Wildbach hatte nie vor, eine engere Beziehung mit mir einzugehen.«

»Aber was machst du in Wien?«

»Ich kann dort eine Stellung in gutem Hause antreten und darf hoffen, dass ich in der dortigen Gesellschaft meinem Ziel näher komme«, erklärte Anna sachlich.

»Ich verstehe das nicht. Gibt es denn keine geeignete Arbeit hier in Nürnberg? In Wien bist du völlig auf dich gestellt. Wer soll sich dort um deine Mädchen kümmern?«

»Um meine Mädchen kümmern?«, fragte Anna entsetzt. »Ich kann die beiden unmöglich mitnehmen. Warum auch, sie sind bei dir bestens versorgt.«

Die Selbstverständlichkeit, mit der Anna sprach, kränkte Charlotte. »Ich bin nicht für deine Kinder verantwortlich. Du bist ihre Mutter!«, entfuhr es ihr lauter als gewollt. Mit der Hand vor dem Mund blickte sie durch die Räumlichkeit, um sicherzugehen, dass sich keiner der Gäste durch sie gestört fühlte.

»Nicht so laut!«, fauchte Anna und durchbohrte ihre Freundin förmlich mit ihren Blicken. »Natürlich bleiben die Kinder bei dir!« Die kalte Stimme und der starre Blick Annas schienen keine Widerrede zu dulden.

»Natürlich, du hast recht, du kannst sie unmöglich mitnehmen!« Charlottes hatte Mühe, die Enttäuschung in ihrer Stimme zu unterdrücken.

»Unmöglich!«, bestätigte Anna. »Ich lass dir auch Geld hier und schick dir, so oft es geht, welches nach.«

Charlotte wusste es besser. Sie würde die beiden Mädchen auch weiterhin von ihren miserablen Einkünften als Näherin durchbringen müssen. Das war einer dieser Momente, in denen sich Charlotte hilflos fühlte wie ein kleines Mädchen. Der Kloß in ihrem Hals schwoll an und der Druck auf ihrem Brustkorb raubte ihr die Luft zum Atmen. Sie konnte sich Anna nicht widersetzen, das hatte sie noch nie gekonnt. Schließlich war sie der einzige Mensch, dem sie vertraute.

Charlotte hasste sich für diese Abhängigkeit. Solange es Anna gut erging, ließ sie sich nicht blicken, doch kaum geriet ihr Leben aus den Fugen, war sie die erste Anlaufstelle. Zugegeben verschaffte es Charlotte ein Gefühl von Befriedigung, dass sie in all den Jahren niemand in ihrer Stellung als Busenfreundin abgelöst hatte. »Natürlich werde ich mich um deine Mädchen kümmern. Wann wirst du ihnen von deinem Umzug erzählen?« Charlotte wagte es kaum, Anna in die Augen zu sehen – glaubte sie doch, die Antwort bereits zu kennen.

»Weißt, ich glaub, es ist besser, du sagst es den beiden. Ich kann es nicht ertragen, sie weinen zu sehen.«

Charlotte nickte. Das war also ihr Auftrag. Die Kinder zu hüten und durchzufüttern.

»Du wirst es nicht bereuen! Wenn ich erst Geld habe, dann …«, versicherte Anna, die die Gedanken ihrer Freundin zu erraten schien. Dabei fasste sie über den Tisch und drückte dankend ihre kalte Hand.

»Ich weiß, Anna, du meinst es nur gut mit uns. Verzeih, dass ich mich dir widersetzen wollte.« Charlotte blickte in ihre leere Teetasse und schämte sich. Sie hätte Anna gegenüber nicht laut werden dürfen.

Hoffentlich verzeiht sie mir, dachte Charlotte und strich sich ihre unpassend schlichte Frisur glatt. Dann stand sie auf und folgte Anna aus dem Kaffeehaus. Dabei wagte sie es nicht, ihrem Wunsch nachzukommen, und die Kleider der feinen Damen genauer zu bewundern. Wie ein Geist schlich sie zwischen den samtbezogenen Stühlen hindurch und sog dabei die Düfte der verschiedenen Parfums tief in ihre Lungen. Wie es wohl sein muss, wenn man so ein unbedarftes Leben führen kann, fragte sie sich.

»Wie du daherkommst! Deine krausen Haare bedürfen dringend einer intensiven Pflege. Sie sehen aus, als hätten sie noch nie einen Kamm oder dergleichen gesehen!« Anna ging auf ihre Freundin zu und strich ihr das blonde widerspenstige Haar glatt.

Charlotte fühlte sich bei dieser Berührung wieder wie ein Kind. Damals bei der alten Bleich war es stets Anna gewesen, die sich fürsorglich um die kleine Charlotte gekümmert hatte. »So wie früher, nicht wahr?«, fragte sie und blickte Anna sanft in ihre Augen.

»Ja«, antwortete diese, »wir haben uns schon immer umeinander gekümmert, nicht wahr?«

Charlotte glaubte einen traurigen Zug in Annas Gesicht zu erkennen und streckte ihr die Arme zu einer Umarmung entgegen.

»So, ich muss los«, wehrte Anna mit rauer Stimme ab und entfernte sich ein paar Schritte rückwärts von ihrer Freundin. »Es ist spät und ich muss meine Wohnung noch räumen. Wir beide sind uns einig. Du kümmerst dich weiter um die Mädchen und ich sorge einstweilen für unsere gesicherte Zukunft.«

»Du schreibst mir doch, wenn du wohlbehalten in Wien angekommen bist?« Charlotte hasste es, sich von ihrer Freundin zu trennen.

Auch Anna schluckte schwer, als sie in die tränenfeuchten Augen ihrer Lotte blickte. »Natürlich schreibe ich dir«, antwortete sie und versuchte zu lächeln. »Wie immer trag ich dich und die Mädchen in meinem Herzen.« Bei diesen Worten fasste sie mit ihrer Rechten auf ihren Brustkorb und warf mit der Linken eine Kusshand zu Charlotte. Dann wandte sie sich ab und verschwand in der Menschenmenge, die sich zu dieser Tageszeit in der Königsstraße tummelte.

Die Giftmörderin

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