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2 Lautlose Schreie

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Meine Hochzeitsnacht erschien mir dunkler als jede andere Nacht zuvor. Anton schlief bereits, als ich in den Garten hinausschlich. Ich blickte auf die Bäume, die schwarz und bedrohlich vor mir standen. Das waren nun auch meine Bäume, dachte ich und setzte mich in die nebelkalte Wiese. Vom Grundstück aus hatte man freie Sicht zum Inn. Ich liebte es, dem ungebändigten Wasser dabei zuzusehen, wie es sich tosend seinen Weg bahnte. Der Inn war nicht nur ein Fluss, er war viel mehr ein treuer Begleiter, der einen eigenen Charakter zu haben schien. An manchen Tagen floss er ruhig und beinahe geräuschlos an uns vorbei. Mehrmals im Jahr ließ er seiner Wut freien Lauf, überschwemmte Gärten und Straßen und suchte dabei sogar den Weg in das ein oder andere Haus. Wir hassten und liebten den Inn gleichermaßen.

So gut es ging, zog ich meinen Mantel enger um meinen Körper. Es war eisig, und doch fühlte es sich draußen nicht so kalt an wie im Bett neben Anton. Bei dem Gedanken an ihn wurde mir das Herz schwer.

Er und Vater hatten nach der Hochzeitszeremonie den Tag trinkend verbracht. Je mehr Alkohol sie konsumiert hatten, desto unangebrachter wurden ihre Scherze. Mit einem Mal war Anton unhöflich und ausfallend geworden. Im Gasthaus hatte er mir mehrmals auf die Oberschenkel gegriffen, was mir nicht nur wegen der Anwesenheit meiner Eltern sehr unangenehm gewesen war.

Ich schloss die Augen und rief mir die Geschehnisse des Tages noch einmal in Erinnerung. Die lieblose Zeremonie im Standesamt, der Gang zur Kirche. Das Schweigen während des Essens. Anton, der sich an mich drängte, mir gleich nach unserer Ankunft in seinem Haus die Kleider vom Leibe riss. Anton, der sich einfach nahm, was ihm seiner Meinung nach zustand.

Ich presste meine Lippen aufeinander und seufzte. Wie sehr hätte ich jetzt die Umarmung eines geliebten Menschen benötigt, doch es war niemand hier. Ich umarmte mich selbst, um mich nicht ganz zu verlieren in meiner Einsamkeit.

Heute Nacht war es nicht still, es war laut. Mit einem Mal tobte alles um mich herum unerträglich schrill. Jeder Flügelschlag der Fledermäuse hoch über mir, jeder Grashalm, der sich im sanften Wind bewegte, alles verursachte mir Kopfschmerzen. Die Welt schien erfüllt zu sein von den Schreien, gegen die ich schon den ganzen Tag gekämpft hatte und denen ich auch jetzt Einhalt gebot. Ich würde meinen Kummer für mich behalten und der Welt morgen wieder mein gewohntes Lächeln zeigen.

Genauso machen es auch die anderen Ehefrauen, dachte ich, tupfte meine Tränen mit dem Ärmel weg. Dann stand ich auf und ging zurück zum Haus, das im Licht des Mondes groß und bedrohlich wirkte. Die Fenster schienen wie finstere Augen auf mich herabzustarren und mich in meinem Unglück zu verhöhnen.

Leise, um niemanden zu wecken, öffnete ich die Tür und schloss sie ebenso behutsam hinter mir. In der Dunkelheit der Nacht war mir das Haus fremd, und ich tastete mich mühsam durch die Zimmer. Ich erinnerte mich an die Tage, an denen ich Tante Ludmilla besucht und gemeinsam mit ihr Kirschen eingelegt oder ihr geholfen hatte, im Garten Ordnung zu halten. Mit aller Kraft wünschte ich mich zurück an Ludmillas Seite, um gemeinsam mit ihr Brombeeren zu pflücken und Kräuter zu sammeln.

Vorsichtig tappte ich hoch in Antons Zimmer und legte mich neben ihn. Ich lag noch lange wach und lauschte den ungewohnten Geräuschen in meinem neuen Zuhause. Das Ticken einer Uhr und das Knarren des Holzbodens begleiteten mich in einen wenig erholsamen Schlaf.

Es war bereits hell, als ich orientierungslos durch das Zimmer blickte und eine Weile brauchte, um mich zurechtzufinden. Antons Haus. Sofort drehte ich mich um, aber mein Ehemann war nicht da. Mich streckend und reckend ging ich hinunter in die Stube und sah mir die Einrichtung zum ersten Mal nicht mit den Augen der Nichte, sondern mit denen der Hausbesitzerin an. Meine Güte, das war das Haus von alten Leuten, daran würde ich dringend etwas ändern müssen.

Der Duft von frischem Tee lockte mich in die Küche. Geschirr schepperte, und jemand summte ein leises Lied. Mein erster Gedanke war, dass Anton schon aufgestanden war, um mir eine Freude zu bereiten. Vielleicht würde er sich für sein Verhalten vom Vortag entschuldigen, vielleicht war er doch nicht der rüpelhafte Ehemann, den der Alkohol aus ihm gemacht hatte.

Vorsichtig öffnete ich die Türe und setzte zum Morgengruß an, als ich erkannte, dass sich nicht Anton, sondern sein Sohn Peter in der Küche zu schaffen machte. Ich wollte umkehren, raus aus der Küche und die Türe wieder hinter mir schließen. Aber es war zu spät.

Peter hatte mich bereits bemerkt und begrüßte mich lächelnd. »Komm, das Frühstück ist fertig!«, meinte er und wies mir mit einer Handbewegung einen Platz am Esstisch zu. War das der Platz seiner Mutter gewesen?

Gerade, als ich mich setzen wollte, wurde mir bewusst, dass ich nur mit meinem Nachtgewand bekleidet war. Wie von selbst kreuzte ich meine Arme vor meinem Brustkorb, um meine Oberweite vor seinen Blicken zu schützen.

Peter bemerkte meine aufkommende Scham und meinte: »Du kannst raufgehen und dich anziehen, aber bis du zurückkommst, ist Vater von seiner Morgenrunde zurück und leistet uns Gesellschaft. Oder du bleibst, wie du bist, hier bei mir, und wir beide können in Ruhe gemeinsam frühstücken.«

Peters freundliches Augenzwinkern überzeugte mich. Ich setzte mich an den Tisch und ließ mich vom Sohn meines Gatten bedienen.

»Wie hast du geschlafen?«, wollte er wissen. »Sag nichts, deinem Anblick nach zu urteilen wohl eher bescheiden, was? Wie verliefen die Feierlichkeiten gestern?«, fragte er weiter, während er mir behutsam Tee in die Tasse goss. »Du verzeihst, dass ich euch meine Anwesenheit vorenthalten habe? Die Heirat meines Vaters mit dir erschien mir doch etwas … unpassend, wenn ich das so frei heraus sagen darf.«

»Wenn diese Ehe jemand unpassend findet, dann ich«, entgegnete ich vorschnell und legte erschrocken die Hand auf meinen Mund. »Entschuldige, das wollte ich nicht.«

»Es bleibt unter uns«, meinte Peter und warf mir einen verschwörerischen Blick zu.

»Was bleibt unter euch?«

Peter und ich erschraken gleichermaßen, als Anton plötzlich in der Küche stand. Ein unsicheres Lächeln umspielte seine Lippen und zeugte davon, dass er den herzlichen Umgang seines Sohnes mit mir nicht guthieß.

»Nichts, Vater. Wir haben nur gealbert.« Peter mied den Augenkontakt mit Anton und starrte auf die Tasse Tee, die er mit beiden Händen fest umklammert hielt.

Ich wusste schon lange um das schlechte Verhältnis zwischen den beiden. Tante Ludmillas Tod hatte sie wohl noch weiter voneinander entfernt.

»Rese hat gewiss Wichtigeres zu erledigen, als mit dir zu albern«, brummte Anton und bedachte mich mit einem schneidend kalten Ausdruck. »Außerdem würde ich dir dringend raten, dir etwas Ordentliches anzuziehen.«

Mit einem Mal fühlte ich mich wie ein kleines Mädchen.

»Worauf wartest du?« Mit diesen Worten kam er mir näher, blieb erst unmittelbar vor mir stehen und schaute drohend auf mich herab. »Es schickt sich nicht, dass du in diesem Aufzug vor meinem Sohn herumtanzt.«

»Vater, ich glaube nicht, dass das nötig ist«, meinte Peter.

»Ich brauche keine Belehrungen von deiner Seite«, fauchte Anton und schob mich aus der Küche hinaus und die Treppe hoch ins Schlafzimmer. Dort angekommen schloss er lautstark die Türe hinter uns und strafte mich mit seiner finsteren Miene.

»Es tut mir leid, ich wollte nicht …«, sagte ich.

»Die Leute reden auch so schon genug. Stell dir vor, man sieht dich mit Peter in diesem Aufzug!« Er schüttelte den Kopf. »Du bist meine Ehefrau und hast dich als solche zu verhalten. Hast du mich verstanden?« Anton kam mir so nahe, dass mir von seinem Mundgeruch beinahe übel wurde. Ich hielt mir schützend die Hand vor die Nase.

»Ob du mich verstanden hast?«, fragte er ein weiteres Mal.

Ich war aufgewühlt, verunsichert und ängstlich. Dennoch versuchte ich, Ruhe zu bewahren, und hielt meinen Blick auf Anton gerichtet. Falten, schütteres Haar, aufgedunsene Tränensäcke und ein Blick, der an Müdigkeit nicht zu überbieten war. Gerne hätte ich ihm die Stirn geboten, ihn zurechtgewiesen, aber dazu fehlte mir der Mut. Anton war ein alter Mann – mein Mann –, und ich hatte ihm Respekt zu zollen. Langsam senkte ich meinen Kopf und nickte unterwürfig.

Mit seiner Linken hob er mein Kinn an und schien meine Miene einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. »Mach dich fertig und kümmere dich um den Haushalt.«

»Ja, wenn du mich loslässt«, erwiderte ich und entzog mich seiner Berührung.

Anton setzte sich auf das Bett und beobachtete jede meiner Bewegungen. Beschämt wandte ich mich ab und schlüpfte rasch aus meinem Nachtkleid, warf es aufs Bett und zog mir eine abgetragene geblümte Bluse und einen Wollrock über. Für die Hausarbeit sollten die abgewetzten Kleidungsstücke ausreichen.

»Du, Rese, hör mal«, sagte Anton, während ich vor dem Spiegel stand und mein Haar zu einem ordentlichen Knoten hochsteckte. »Ich meine es doch nur gut mit dir.« Anton versuchte sich an einer verständnisvollen Stimme, dennoch behielt sein starrer Befehlston die Oberhand.

»Ich weiß, alle meinen es immer gut mit mir. Und alle behandeln mich wie ein unfähiges Schulmädchen.« Mir war bewusst, dass meine Aussage dreist war und den Missmut meines Gatten erneut heraufbeschwören konnte. Erhobenen Hauptes drehte ich mich um und sah ihn prüfend an. Er hatte seine Stirn in Falten gelegt und spielte mit den Fingern an seinem Schnauzbart. Bevor er etwas erwidern konnte, huschte ich eilig an ihm vorbei, rannte die Treppe hinunter in die Küche und machte mich am Herd zu schaffen.

»Alles in Ordnung?«, fragte mich Peter, der noch immer vor seinem vollen Frühstücksteller saß.

»Ja«, antwortete ich kurz angebunden.

»Lass dir Zeit, du wirst dich schon eingewöhnen.« Peter lächelte mir liebevoll zu. Er hatte so gar keine Ähnlichkeit mit seinem Vater. Die sanft geschwungenen Augenbrauen, die Grübchen an beiden Wangen und die schmale Nase erinnerten mich stark an Ludmilla.

»Ja«, wiederholte ich und seufzte tief auf. Erst dann bemerkte ich, wie sich in meinem Brustkorb ein unsäglich schwerer Druck aufbaute. Meine Kehle fühlte sich trocken an, und Tränen trübten meinen Blick.

»Rese? Stimmt etwas nicht?«, fragte Peter und kam an meine Seite.

Unfähig, ihm zu antworten, schüttelte ich meinen Kopf und drängte ihn sanft von mir. Ich versuchte, das Zittern meiner Hände zu ignorieren, machte mich an irgendwelchen Pfannen und Töpfen zu schaffen, schürte das Feuer im Ofen und kramte ziellos in verschiedenen Kästen.

»Das war wohl alles ein wenig viel in den letzten Tagen«, meinte Peter, der meinen Zustand richtig zu deuten vermochte. »Mach eine Pause, geh raus, vertritt dir die Beine.«

Wieder schüttelte ich nur den Kopf und biss fest auf meine Lippen. Ein unsichtbarer Strick zog sich immer enger um meine trockene Kehle und raubte mir die Luft. Peter erkannte meine Gefühlslage, kam zu mir und legte seinen Arm um meine Schultern.

»So schlimm ist er gar nicht, der alte Griesgram. Sei nicht so verzweifelt, sonst muss ich gleich mitweinen. Und ich bin schrecklich laut dabei, glaub mir.«

In diesem Moment war ich unheimlich dankbar für Peters Fürsorge. Mir war danach, mich an ihn zu schmiegen, um mich an seiner Schulter auszuweinen. Meine Vernunft hielt mich allerdings davon ab. Zum Glück. Denn schon wenige Augenblicke später stand Anton hinter uns und räusperte sich lauthals.

»Nun sieh dir an, was du angerichtet hast.« Peter trat seinem Vater gegenüber. »Sie weint.«

Anton blickte erst zu mir, dann zu seinem Sohn. Den Kopf schüttelnd wandte er sich von uns ab und setzte sich an den Esstisch.

»Die beruhigt sich schon«, meinte er kalt und ignorierte mich.

»Was bist du nur für ein Mensch, Vater. Du hast die Rese doch gar nicht verdient.«

»Aha, so ist das also. Wer hat sie denn verdient? Du vielleicht?«

Die Spannung im Raum war unerträglich. Anton saß mit hochgezogenen Augenbrauen am Tisch und starrte seinen Sohn verächtlich an.

»Du bist schrecklich.« Mit diesen Worten wandte sich Peter ab und ließ mich mit Anton allein in der Küche zurück.

»Pah!«, raunte Anton. »Und du? Findest du mich auch so schrecklich, verachtenswert und abstoßend wie mein werter Sohn?«

Ich enthielt mich einer Antwort.

»Wir sind doch immer gut miteinander ausgekommen, du und ich. Weißt du noch, wie ich dich als kleines Mädchen in die Büsche geschubst habe? Gelacht hast du und aufgeschrien vor Freude.« Bei den Erinnerungen an die längst vergangenen Tage erhellte sich Antons Miene. Mit einem zufriedenen Lächeln blickte er mir entgegen und schien auf eine Reaktion von mir zu warten. »Oder wie du dich nach dem Tod meiner Ludmilla immer wieder um mich und den Haushalt gekümmert hast?« Wieder starrte er mich nachdenklich an. »Ich war mir so sicher, dass wir miteinander auskommen würden und dass du hier ein gutes Heim hättest.«

»Ich bin schon lange kein Kind mehr, das sich über einen Schubser in irgendeinen Busch freut.« Ich krallte mich am Kochtopf fest und versuchte, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. »Und nach Tante Ludmillas Tod folgte ich den Bitten meiner Eltern, mich um dich zu kümmern. Ich tat es nicht, weil ich hier mein künftiges Zuhause gesehen habe.« Die letzten Worte murmelte ich so leise, dass er sie unmöglich hören konnte.

»Dann bist du also unglücklich?« In Antons Augen spiegelte sich der Wunsch, dass ich ihm widersprechen möge.

»Warum hast du mir diese Frage nicht gestern gestellt? Vor unserer Hochzeit? Vielleicht hätte ich den Mut gefunden, sie dir ehrlich zu beantworten. Aber du und Vater wart beide so besessen von unserer Verbindung, dass niemand sehen wollte, wie es mir dabei geht.«

»Warum hast du nichts gesagt?«

»Das habe ich«, flüsterte ich unter Tränen. »Und zwar mehr als einmal. Weder Vater noch du schienen mich hören zu wollen.«

Mit einem tiefen Seufzer lehnte sich Anton zurück und blickte betreten auf seine Hände, die er im Schoß gefaltet hatte.

»Und ich dachte, du wolltest diese Ehe genauso wie ich.« Anton schniefte lautstark durch die Nase und schloss nachdenklich die Augen. »Wir werden uns schon arrangieren, du und ich.«

Arrangieren. Alleine dieses Wort verstärkte den Druck auf meiner Brust. Der alte Mann vergaß, dass er über mein Leben sprach. Ein Leben, das ich vor mir hatte und von dem ich mir mehr erhofft hatte als eine Ehe, in der man sich miteinander arrangierte. Was, wenn ich tatsächlich zu wenig für meine Freiheit gekämpft hatte? Die leisen Tränen, die ich auf meinem Zimmer geweint hatte und die von niemandem zur Kenntnis genommen worden waren, hätte ich anderweitig einsetzen sollen. Ich hätte Vater packen müssen, ihn schütteln. Aber das hatte ich nicht getan und mich somit mitschuldig gemacht an dem Desaster dieser Eheschließung.

Müde legte ich den Kopf in den Nacken und atmete tief ein. Ich musste raus, an die Luft, weg von dem alten Mann und dem modrigen Haus. Ohne weiter zu überlegen, warf ich die Kochschürze auf den Tresen.

»Wo willst du hin?«, fragte er mürrisch und überrascht zugleich.

»Nur kurz … ich fühle mich nicht so gut und brauch etwas frische Luft«, antwortete ich und hatte einfach nur Angst, dass er mir meine kurze Flucht aus der Realität nicht gewähren würde.

Er nickte.

Erleichtert griff ich nach meinem Mantel und verließ das Haus. Während ich zum Gartentor eilte, knöpfte ich meinen Wollmantel zu und krempelte den Kragen wärmend um meinen Hals. Als ich auf der Straße angekommen war, überlegte ich, welche Richtung ich am besten einschlagen sollte. Zuallererst kam mir Mutter in den Sinn. An ihrer Schulter könnte ich mein Leid beklagen und mir ihren Trost erhoffen. Doch dann hielt ich inne. Nein, so sehr es mich auch zu Mutter zog, so sehr wühlte mich der Gedanke auf, Vater gegenüberzutreten.

Tränen trübten meine Sicht, während ich orientierungslos meinen Blick über die menschenleeren Wege streifen ließ. Magdalena. Meine teuerste Freundin, zu ihr würde ich gehen.

Bevor ich mich auf den Weg machte, tupfte ich meine Wangen trocken und strich mir dezent übers Haar. Dann rannte ich los. Vorbei an den Nachbarsgärten, aus denen mich die Blicke neugieriger Weiber verfolgten. Was würden sie wohl hinter vorgehaltener Hand tuscheln, wenn sie die junge Frau des alten Anton verweint durch die Straßen laufen sahen? Mir war es einerlei. Sollte die ganz Welt sehen, dass diese Ehe ein Verdruss war.

Meine Schritte wurden länger, meine Atemzüge schneller. Könnte ich doch nur auf ewig fliehen vor der Ehe, die schon am ersten Tag frostiger war als das Eis des gefrorenen Inn im Winter. Dass wir zu dieser kalten Jahreszeit geheiratet hatten, war für mich ein Omen, dass diese Beziehung auf immer ohne Herzenswärme auskommen würde. Ich schluckte gegen meinen Kummer an und verfluchte erneut den Tag, an dem mich Vater ohne meine Zustimmung der Verdammnis ausgeliefert hatte.

Anton und ich, wir würden uns nicht arrangieren, dachte ich, während meine Füße ganz allein den Weg zu meiner lieben Magdalena zu finden schienen.

»Grüß dich, Rese.« Die Stimme von Magdalenas Mutter riss mich aus meinen Grübeleien und machte mir bewusst, dass ich mein Ziel bereits erreicht hatte. Herta Ecker winkte mir von der Wiese herüber freundlich zu und widmete sich dann wieder der Wäsche, die sie trotz der Kälte zum Trocknen aufhängte. Hertas Anblick ließ mich wie immer schmunzeln. Ich mochte die wohlgerundete und viel zu klein geratene Frau.

»Ist Magda drüben im Stall?«, rief ich hinüber in den Garten.

»Jaja«, kam die knappe Antwort der Eckerin, die sich nicht von ihrer Arbeit ablenken ließ. »Kannst ihr sagen, sie soll sich sputen und sich dann gleich ums Mittagessen kümmern. Wenn das Mittagessen nicht pünktlich auf dem Tisch steht, wird der Vater unerträglich – aber das weißt du ja.«

Ja, das wusste ich nur zu gut. Alle wussten das und mieden jede Auseinandersetzung mit dem bierbäuchigen Ecker.

Während ich auf den Kuhstall zusteuerte, wurde ich bereits von Magdalenas Gesang begrüßt. Beim Klang ihrer lieblichen Stimme seufzte ich erleichtert auf. Meine Heirat mit Anton hatte zum Glück nicht die ganze Welt auf den Kopf gestellt. Manches nahm einfach seinen Lauf, als wäre nichts geschehen.

Beseelt vom Lied meiner Freundin lehnte ich mich an den Türrahmen des Stalltors und beobachtete ihr emsiges Treiben. Ihr dunkelblondes Haar unter einem Kopftuch versteckt und die Wangen von der harten Arbeit gerötet, kehrte sie fröhlich mit einem Besen die Heureste zusammen. Magdalena entsprach nicht dem Schönheitsideal der Zeit, vielmehr war sie eine derbe Schönheit und im Gegensatz zu ihrer Mutter überdurchschnittlich groß und von kräftiger Statur. In mancher Hinsicht war sie der Sohn, den ihr Vater sich zwar gewünscht, aber nie bekommen hatte.

»Rese!«, rief sie aus, als sie mich erblickte, warf den Besen zur Seite und eilte auf mich zu. »Ich war in Gedanken ständig nur bei dir.« Mit diesen Worten drückte sie mich an sich und verharrte eine Weile in der Umarmung. Es tat gut, ihre Nähe zu spüren. Ich schmiegte meinen Kopf an ihre Schulter und seufzte tief auf.

»Entschuldige, ich bin dreckig und stinke nach Stall«, meinte sie und löste sich von mir.

Ich antwortete mit einem Achselzucken und einer abwertenden Handbewegung.

»Nun sieh dich an.« Sie nahm mich an beiden Händen und begutachtete mich vom Scheitel bis zu Sohle. »So sieht also eine verheiratete Frau aus.«

Ich versuchte mich an einem Lächeln.

»Tut mir leid«, erwiderte Magdalena und legte beide Hände auf meine Schultern. »Wie geht es dir?« Magdalenas Miene wurde weich, und ihr verständnisvoller Blick erinnerte mich an den Ernst meiner Lage.

Ich überlegte, wo ich mit meiner Erzählung ansetzen sollte.

Magdalena schien mir das Chaos meiner Gedanken anzusehen und nahm fürsorglich meine Hand in ihre. »Hast du denn gut geschlafen?«, erkundigte sie sich und strich mit den Fingerkuppen über meine Wange.

»Nein.«

»So schlimm?«, fragte Magdalena und zog mich an sich.

»Schlimmer«, antwortete ich und vergrub mein Gesicht in ihrer Schulter. »Ich hasse mein Leben.«

»Rese, sei bitte nicht verzagt. Du wirst sehen, dass du dich bald eingewöhnst. Der Anton ist kein schlechter Mensch.«

»Das habe ich auch nicht behauptet. Aber ich gehöre nicht an seine Seite.«

»Das wussten wir schon vor der Hochzeit.« Magdalena nahm mein Gesicht in beide Hände und blickte mir tief in die Augen. Ihre Haut war warm, rau und ein unendlicher Trost. »Kannst du dich nicht erinnern, wie oft ich geraten habe, einfach wegzulaufen und woanders neu zu beginnen?«

»Aber wo hätte ich denn hingehen sollen?«

»Zu deiner Tante in Nürnberg zum Beispiel.«

»Vaters Schwester? Die wäre die Erste gewesen, die ihm ein Telegramm geschickt hätte.«

»Ja, hast recht. Gewiss hätte es eine Lösung gegeben.«

»Nein, hätte es nicht, und das weißt du. Außerdem ist es jetzt zu spät. Ich bin Antons Frau und werde es sein, bis dass der Tod uns trennt.«

»Genau, Rese, der Tod.« Ich sah in Magdalenas Augen etwas Böses, Durchtriebenes aufblitzen. »Sieh ihn dir doch an, den alten Mann. Der macht es nicht mehr lange, das sag ich dir. Und dann bist du eine junge Witwe, hast dein eigenes Haus, seine saftige Witwenrente und dein Leben noch vor dir.«

»Saftige Witwenrente, dass ich nicht lache. Viel verdient er als Gefängniswärter bestimmt nicht.«

»Das wirst du ja bald herausfinden. Sein Haus ist vielleicht verstaubt, aber wie ich dich kenne, wirst du dem schnell abhelfen.«

»Bei dir klingt das alles so einfach.«

»Das ist es auch. Schau, weglaufen war für dich keine Option, also musst du aus der Ehe das Beste machen. Acker den Garten um, verstell die Möbel, schmeiß die Vorhänge raus und näh dir neue. Mit etwas frischem Wind wird es dir dort rasch gefallen. Und wenn dich irgendwo der Schuh drückt, dann kannst du jederzeit zu mir kommen. Meine Schulter gehört dir, ob sie jetzt nach Kuhdung stinkt oder nicht.« Magdalena legte mit ihrem breiten Lächeln ihre schlechten Zähne frei und wischte mit dem Handrücken über ihre verschwitzte Stirn. Mit einem tiefen Seufzer wanderte ihr Blick durch die Stallgasse, die noch nicht einmal zur Hälfte sauber war.

»Ich helfe dir«, schlug ich vor. »Wo ist der zweite Besen?« Ich schlüpfte aus meinem Mantel und krempelte die Ärmel meiner Bluse hoch.

Magdalena zwinkerte mir lächelnd zu und nickte in Richtung Eingang, wo der Besen direkt neben der Tür stand.

Nach getaner Arbeit schmerzten zwar meine Arme, dennoch fühlte ich mich besser. Ich atmete erleichtert durch, während ich mir den Staub aus dem Rock klopfte. Vielleicht hatte Magdalena recht, wenn sie sagte, dass ich mir das neue Leben nur zurechtrücken musste, um mich wohlzufühlen. Gestärkt verabschiedete ich mich und machte mich auf den Heimweg.

Heimweg. Seltsam, dass dies von nun an ein anderer sein würde als die vielen Jahre zuvor. In Zukunft würde mich das Tosen des Inn noch ein Stück weiterbegleiten, das an diesem Tag in seiner Lautstärke meinen inneren Aufruhr übertraf. Ich wollte hoffnungsvoll in die Zukunft blicken, aber je näher ich Antons Haus kam, desto mehr krallte sich eine beklommene Kälte an mich. Nur mit Mühe, so als zöge ich einen voll beladenen Karren hinter mir her, gelangte ich letztendlich ans Ziel.

Du gehörst hier nicht her, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf.

»Ich habe keine Wahl!«, antwortete ich barsch und öffnete energisch die Haustür.

Zärtlichkeit der Stille

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