Читать книгу Zärtlichkeit der Stille - Susann Anders - Страница 8
3 Ein unerwartetes Geständnis
Оглавление»Ich möchte, dass du deine Arbeit als Schneiderin aufgibst«, meinte Anton ein paar Wochen später beim Abendessen. »Du hast mich schon verstanden«, fügte er hinzu, als er in meine vor Schreck geweiteten Augen sah.
»Aber ich kann nicht einfach … Warum sollte ich?« Ich war verwirrt, fühlte mich leer im Kopf.
»Es schickt sich nicht, dass du länger als kleine Schneiderin drüben in der Näherei arbeitest. Die Leute denken noch, dass ich nicht genug verdiene, um meine Familie zu erhalten.«
»Ach, darum geht es? Was die Leute denken könnten?«
»Du bist jetzt verheiratet und hast deinen Lebensmittelpunkt andernorts – und zwar hier in meinem Haushalt. Ludmilla hat das verstanden, und du wirst dich ebenfalls meinem Willen beugen.« Sein Blick war stechend scharf und unerträglich.
Trotzdem versuchte ich, ihm standzuhalten. »Ich bin gerne Schneiderin. Drüben in der Näherei habe ich jede Menge Freundinnen, die ich nur ungern im Stich lassen würde. Und ein kleiner Zuverdienst kann doch unmöglich schaden, oder?«
»Und ich würde es nur ungern dulden, wenn mein Haushalt verschlampt.« Anton stand auf und kam mir unangenehm nahe. Sein schuppiges Haar, die glänzende Haut, die großporige Nase, alles widerte mich an. Wie gerne hätte ich ihm die Stirn geboten. Aber ich hielt still, beherrschte mich. Wie immer. Schließlich hatte ich mit diesem Mann noch eine ganze Weile auszukommen.
»Habe ich denn gar nichts zu sagen? Das ist doch auch mein Leben!« Meine Stimme zitterte.
»Wenn du nicht parierst, gehe ich noch heute rüber zur Näherei und weise deinen Chef an, dir zu kündigen. Wäre dir das lieber?«
Antons Worte trafen mich wie ein Schlag in die Magengrube. Nein, ich wollte nicht derart erniedrigt werden. Heiße Tränen perlten über meine Wangen und tropften auf meine hellgrüne Bluse. Von nun an sollte mein gesamter Alltag nur noch die Fürsorge für meinen Gatten und sein Haus beinhalten.
Wissend, dass er gewonnen hatte, wandte er sich von mir ab und ging hocherhobenen Hauptes zu seinem Ohrensessel, um in der Zeitung zu blättern.
Gleich am nächsten Morgen machte ich mich auf den Weg zur Näherei. Einige Bekannte kreuzten meinen Weg, Frauen und Männer, die ich seit meiner Kindheit kannte, deren Gesichter mir vertraut waren, mit denen ich ab und an plauderte und lachte. Heute war mir nach keinem Tratsch. Mit einem freundlichen Kopfnicken brachte ich die Begegnungen hinter mich und suchte in Gedanken nach den richtigen Worten, die ich meinem Vorgesetzten unterbreiten könnte. Ob er sich wohl wunderte, dass ich nach meiner Heirat die Arbeitsstelle aufkündigte? Immerhin nähte ich seit meinem fünfzehnten Lebensjahr für ihn und lieferte stets saubere Arbeit ab.
»Mach dir keine Sorgen. Ich versteh das. Dein Platz ist jetzt bei deinem Mann.« Das waren die knappen Worte, die mein Vorgesetzter nach acht ganzen Jahren für mich übrig hatte. Ich war für ihn nur eine kleine dumme Näherin, die jederzeit ersetzbar war.
Gesenkten Hauptes trottete ich den fein gekieselten Weg zurück und konnte nicht fassen, dass sich mein gesamtes Leben in wenigen Wochen derart verändert hatte. Mir war, als hätte ich die Kontrolle verloren. Es gab rein gar nichts mehr, über das ich bestimmen durfte. Aber vielleicht war das schon immer so gewesen, und ich hatte es nur nicht bemerken wollen. Schließlich hatte Vater beschlossen, dass ich nach der Schule in der Näherei mein Geld verdienen sollte. Ich war seit jeher dem Willen anderer ausgeliefert, hatte es aber erst bemerkt, als sich meine Wünsche mit denen der Männer zu überschneiden begannen.
»Geht es dir gut?«
»Peter!«, entfuhr es mir, als ich am späten Nachmittag am holzverkleideten Fenster stand und in den Garten hinausblickte. »Du hast mich erschreckt. Ich dachte, ich wäre allein im Haus.«
»Das bist du auch. Fast.« Peter grinste schelmisch und zwinkerte mir zu. Sein Lächeln war ansteckend, und sein Charme brachte die Herzen der örtlichen Damenwelt zum Höherschlagen. Normalerweise schaffte Peter es mit seinen Albernheiten, mich zum Lachen zu bringen. Nur heute, da war ich sicher, würde es ihm nicht gelingen.
»Du musst Vater einfach ein wenig Zeit geben«, meinte er und kam langsamen Schrittes auf mich zu.
»Warum habe ich ständig das Gefühl, dass du ihn in Schutz nimmst?«, fragte ich.
»Weil ich will, dass es dir gut geht, dass du glücklich bist. Vater entstammt einer anderen Generation, und für Mutter war diese Art des Zusammenlebens in Ordnung. Sie hat ihn so akzeptiert, wie er nun mal ist. Sie hat dafür gesorgt, dass sein Essen pünktlich auf dem Tisch stand, die Hemden ordentlich gebügelt, die Fenster sauber und der Garten gepflegt war. Und wenn er dennoch murrte, dann hat sie ihn einfach überhört.«
»Ich will aber nicht die nächsten Jahre irgendwelche unangebrachten Beschimpfungen ignorieren müssen.« Verbittert biss ich mir auf die Unterlippe und legte die Stirn in Falten.
»Das verstehe ich, aber du wirst sehen, dass Vater trotz seines Alters noch anpassungsfähig ist. Schneller, als du denkst, wird er dir Freiheiten einräumen, von denen Mutter nur geträumt hat.«
»Du meinst, ich kann wieder in die Näherei?«
»Wer weiß?«, entgegnete Peter und zuckte mit den Achseln.
»Ja, wer weiß.«
»Und das tut mir leid.« Peter stand direkt vor mir. Ich konnte seinen Atem in meinem Gesicht spüren. »Aber ich bin nicht nur deinetwegen traurig.«
»Was meinst du?«, fragte ich und blickte ihm unwissend in seine Augen, die Wärme und Zuneigung ausstrahlten.
»Liebste Rese, diese Ehe bedeutet nicht nur dein Unglück.« Peter nahm meine Hand in seine. Dabei konnte ich fühlen, wie er zitterte. »An dem Tag, an dem diese Ehe vereinbart wurde, brach auch mein Herz.«
»Aber …« Mir fehlten die Worte.
»Ich liebe dich«, flüsterte er und strich mit seinem Daumen über meine Wange. Wie gelähmt blickte ich in seine Augen und glaubte, Tränen darin funkeln zu sehen. Wie war es möglich, dass er derart tiefe Gefühle für mich hegte und ich nichts davon gewusst hatte?
»Warum hast du nichts gesagt?«, hauchte ich benommen, während sich die Gedanken in meinem Kopf überschlugen.
»Ich sage es dir jetzt.«
»Aber jetzt ist es zu spät.« Meine Stimme klang härter als gewollt. »Inzwischen bin ich die Frau deines Vaters.«
»Willst du damit sagen, dass du eine Verbindung mit mir in Erwägung gezogen hättest?« Peters Blick wirkte aufgeregt, fragend tastete er mein Gesicht ab, als würde er darin Antworten finden.
»Das weiß ich nicht.« Aufgebracht drängte ich mich an ihm vorbei und schritt in der Kammer auf und ab. »Alles wäre besser gewesen als die Ehe mit deinem Vater.« Erschrocken über meine Aussage legte ich eine Hand auf meinen Mund.
»Ich wäre also nur eine willkommene Notlösung gewesen?«, fragte Peter und ließ seine Schultern sinken.
Ich schüttelte heftig den Kopf und suchte nach Worten der Beschwichtigung.
»Du verstehst mich falsch.«
»Aber so hast du es gesagt.«
»Du hast mich überrumpelt.«
»Du hast recht, ich hätte meine Gefühle für mich behalten sollen.« Peter wühlte mit einer Hand in seinem dunkelbraunen dichten Haar.
»Warum hast du es mir nicht früher gesagt?« Meine Stimme klang fordernd.
»Ich hätte es dir für immer verschwiegen, wenn nicht dieser Brief meine gesamten Lebensanschauungen mit einem Mal verändert hätte.« Peter griff zaghaft in seine Jackentasche und zog einen schmalen Umschlag hervor. Wortlos reichte er ihn mir und gab mir mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass ich ihn öffnen sollte.
Ich nahm das Kuvert entgegen und öffnete es. Vorsichtig zog ich das Papier heraus und entfaltete es. Einberufungsbefehl. Nachdem ich dieses Wort, das in fetten Lettern auf dem Brief thronte, gelesen hatte, begannen meine Hände zu zittern. »Peter!«, entfuhr es mir. Ich ergriff seine Hand und drückte sie mit aller Kraft. Alles in mir sträubte sich dagegen, weiterzulesen. Tränen trübten meinen Blick und machten es unmöglich, das genaue Datum zu entziffern. »Ich kann es nicht lesen«, schluchzte ich und presste den Brief an seine Brust.
Eine Weile standen wir einander schweigsam gegenüber.
»Wann hast du das bekommen?«, fragte ich und schaffte es nicht, das Wort Einberufungsbefehl laut auszusprechen.
»Schon vor ein paar Tagen.«
»Weiß dein Vater darüber Bescheid?«
»Nein. Am liebsten würde ich es vor ihm verschweigen und einfach bei Nacht und Nebel verschwinden. Dann würde ich wenigstens seiner Abschiedsrede entgehen, in der er mich auf meine Pflichten dem Vaterland gegenüber hinweisen wird, und darauf, dass ich ihm keine Schande machen soll.«
»Wann?«, fragte ich und hielt die Luft an.
»In vier Tagen.« Peter blickte auf den Brief, als müsste er sich erneut von dem baldigen Termin überzeugen. »Mein Zug geht zur Mittagsstunde und bringt mich direkt nach München.«
»Und dann?«, fragte ich.
Peter antwortete mit einem Schulterzucken und steckte den Umschlag zurück in seine Jackentasche.
Ich wusste jetzt schon, dass ich ihn fürchterlich vermissen würde. »Du kommst bestimmt bald wieder, da bin ich mir sicher«, log ich.
»Sag es nicht Vater. Noch nicht.«
»Worauf willst du warten? Hat er nicht ein Recht darauf zu erfahren, dass sein einziger Sohn in den Krieg berufen wird?«
»Sein einziger Sohn? Das wird sich gewiss bald ändern, und dann spiele ich eine weitaus geringere Rolle als bisher.« Sein Blick wanderte zu meiner Körpermitte, die ich beschämt mit beiden Händen bedeckte.
»Ich werde mich hüten, mit ihm darüber zu reden«, versprach ich.
Zum Dank strich er mir sanft über die Wange, danach wandte er sich von mir ab.
»Peter?«
Er blieb stehen, so als hätte er auf meinen Ruf gewartet.
»Du hast einen sicheren Platz in meinem Herzen, das weißt du doch, oder?«
»Ja, das weiß ich, meine liebe Rese. Aber dieser sichere Platz wird mich nicht glücklich machen.« Mit seinen wunderbar braunen Augen schien er meine geheimsten Gedanken lesen zu wollen. »Wenn ich zurückkomme, dann werde ich dieses Haus verlassen. Ich werde mir ein eigenes Leben aufbauen, weit weg von hier und weit weg von ihm. Vielleicht werde ich die Welt bereisen. Hast du davon nicht auch immer geträumt?«
»Das waren Jugendträume.«
»Wir könnten sie gemeinsam wahr werden lassen. Du und ich. Rese!« Mit diesen Worten kam er mir noch näher als zuvor. Er drückte sich an mich wie ein Hilfe suchendes Kind. »Sag, dass diese Möglichkeit besteht.« In seinem Ausdruck lag ein Flehen, das mich seine Verzweiflung am ganzen Körper fühlen ließ.
Ich war versucht, den Kopf zu schütteln, doch dann wurde mir bewusst, dass ich mit dieser einfachen Geste alle seine Hoffnungen zerstören würde. »Vielleicht«, entgegnete ich, wissend, dass ich an Peters Seite mein Glück ebenso wenig finden würde wie an Antons.
Erleichtert seufzte Peter auf und rieb sich die Augen trocken. Ich war mir nicht sicher, ob es Tränen der Erleichterung oder des Abschieds waren.
Nachdem Peter sich auf sein Zimmer zurückgezogen hatte, schlüpfte ich in meinen Mantel und machte mich auf den Weg zum Inn. Es war kalt, aber daran störte ich mich nicht. Die missmutige Stimmung, die mich seit dem Einzug in Antons Haus heimgesucht hatte, steigerte sich ins Unermessliche. Wenn der Krieg schon so nahe war, dass er mir selbst Peter nahm, was stünde uns dann noch alles bevor?
»Hast du es gewusst?«, fragte mich Anton bockig, als ich zwei Tage später vom Besuch bei Magdalena zurückkam. Sein Blick war strafend, und das, obwohl ich noch nicht einmal geantwortet hatte.
»Wovon sprichst du? Was soll ich gewusst haben?« Ich war nie eine gute Lügnerin gewesen, aber dieses eine Mal durfte ich es nicht verderben.
»Dummes Ding.« Anton wandte sich von mir ab und ging aufgeregt im Raum auf und ab. Die Nachricht schien ihm mehr zuzusetzen, als Peter und ich vermutet hatten.
Ich beobachtete Anton eine Weile bei seinem Treiben und schwieg.
»Natürlich hast du es gewusst. Halb Neuhaus hat es vor mir erfahren. Bestimmt.« Nervös wischte er sich über seine Augen und seufzte. »Einberufen wird er. Der Narr. Beim Dosenschießen mit den Nachbarskindern war er immer der Schlechteste. Wie soll er da den Krieg überleben?« Verzweifelt schaute er hoch zur Decke, während er weiterhin auf und ab ging. »Ich hätte mir für den Jungen mehr Zeit nehmen müssen. Einen richtigen Mann aus ihm machen. An der Seite von Ludmilla ist er zu einem schrecklichen Jammerlappen verkümmert. Und jetzt soll er zwischen kampferprobten Schützen den Sieg des deutschen Reiches sichern? Dass ich nicht lache.« Anton blieb stehen und massierte sich die Schläfen.
In diesem Moment empfand ich fast so etwas wie Mitleid für ihn und war versucht, ihn tröstend zu umarmen.
»Rese, was, wenn er nicht mehr zurückkommt? Ich hab so ein Gefühl, ich will es gar nicht aussprechen …«
»Natürlich kommt er zurück.«
»Warum bist du dir da so sicher, du dummes Weib?« Antons Ton war giftig.
Hatte ich vor wenigen Sekunden noch Mitleid für ihn empfunden, so schürte er nun meine Abneigung auf ein Neues. Ich verschränkte die Arme vor meinem Oberkörper, richtete mich zu meiner vollen Größe auf und versuchte, Antons Blick standzuhalten. »Und du wunderst dich, warum dein Sohn sich mir anvertraut und nicht dir!« Vermutlich hätte ich besser geschwiegen, aber in manchen Momenten verließ mich die gute Erziehung meiner Mutter.