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Erde / 02

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Barsu das Wandertier war unzufrieden. Ein Gefühl nagte an ihm, als ob er ständig Hunger hätte. Dabei war Hungern in dieser Welt kaum möglich. Zwar war noch Winter, er lebte mit seinem Hexer im Wald und sie hatten keine Zeit gehabt, Vorräte anzulegen. Trotzdem fand er ausreichend Futter, sei es, dass er ein Tier erlegte, sei es, dass er sich an den Abfällen der Menschen bediente, die hier lebten. Galent machte es ähnlich, und damit kamen sie beide gut aus. Barsu hatte sogar schon Freunde gefunden, Raubtiere in seiner Größe und mit verschiedenen Fellfarben, die sich die Menschen hier als Haustier hielten. Katzen nannten sie sich.

Barsu brauchte Galent nicht lange zu überreden, einen Teil seiner Magie dafür zu verwenden, ihn für den Rest der Welt wie eine schwarze Katze aussehen zu lassen. Die Prozedur dauerte drei Tage und juckte fürchterlich. Und Barsu musste sein neues Aussehen mit der Magie aus seinem Höcker erhalten. Zu Hause in Sirsim hätte er über so etwas gar nicht nachgedacht. Hier war es ein schwieriges Problem.

Futter bekam er in dieser Gestalt genug von den Menschen. Er folgte den anderen Katzen dorthin, wo sie gefüttert wurden. Wenn er dann laut genug Miau rief, bekam er auch etwas. Die Menschen schauten ihn zwar misstrauisch an, früher oder später gaben sie trotzdem nach.

Das hohle Gefühl in seinen Knochen war der Mangel an Magie. Es bewegte sich so wenig davon in diesem Wald. Die echten Katzen schien das nicht zu stören, nicht einmal die kleine Weiße mit dunklen Flecken und ohne Schwanz, die sich gleich als Coda, die Hexenkatze, vorgestellt hatte. Daraufhin fragte Barsu sie natürlich, wie es um die Magie in dieser Welt bestellt wäre.

„Wenn du meinst, nur weil du schwarz bist, findest du eine echte Hexe, die dich aufnimmt, bist du ein paar hundert Jahre zu spät“, erklärte Coda missmutig. „Du kannst genau wie andere Streuner auch bei den alten Tanten reihum essen gehen.“

Streuner! Wenn die wüsste. Barsu klärte sie nicht auf. Wandertiere, die durch die Schwärze reisen konnten, wussten, dass ihnen das meist ohnehin niemand glaubte. Es gab nur Ärger deshalb. Und das Kollektiv mochte es auch nicht, wenn solche „Staatsgeheimnisse“ erwähnt wurden. Aber das hieß wohl, dass in dieser Welt wirklich nicht mehr Magie floss.

Und von dieser winzigen Menge sollten Galent und Barsu auch noch welche abzweigen. Schaden würde das niemanden, denn die Menschen auf der Erde könnten mit Magie sowieso nichts anfangen, sagte Galent. Wie sollten sie denn auch, wenn es davon so wenig gab? Trotzdem sammelte Galent eifrig das struppige Haar von allem möglichen Getier und drehte daraus seine Fäden, mit denen er Magie leiten konnte.

Barsu streifte indessen Tag für Tag durch den Wald, um mit seinen nicht mehr sichtbaren Hörnern die Stellen zu erspüren, wo die Magie tatsächlich etwas kräftiger sprudelte. Dort fing er auf, was er bekommen konnte, aber es kam nur stoßweise, immer lagen längere Pausen dazwischen. Vielleicht wurde es ja mit dem Vollmond besser. So war es jedenfalls zu Hause immer gewesen.

Jeden Tag dehnte Barsu seinen Radius aus, auch weiter in das Städtchen hinein, wo seine Katzenfreunde lebten. Dort standen fast nur Steinhäuser, und darin wohnten bestimmt mehrere hundert Leute, wenn nicht sogar tausend. Niemand von ihnen schien Rinder zu halten, nicht einmal Ziegen oder Schafe.

Besonders eifrig hielt Barsu Ausschau nach anderen Wandertieren. In so einer großen Ortschaft musste es doch mindestens eine Botin geben, oder? Und die musste wissen, wie man an Magie kam. Wie sollten sich die Menschen denn sonst verständigen?

Wie machten das die Leute zu Hause, in den Dörfern, wo keine Botin lebte? Manche richteten Vögel ab, die ihre Botschaften überbrachten. Bei Gefahr zündeten sie auf den Bergen Feuer an. Wenn es nicht so eilig war, trugen Leute die Nachrichten zu Fuß oder auf ihren Rindern von Dorf zu Dorf.

Hier gab es allerdings keine Rinder, sondern Wagen, die mit viel Lärm und Gestank, dafür ohne Zugtier fuhren. Vielleicht brachten die Botschaften von einem Ort zum anderen. Das musste aber irgendwie ohne Magie funktionieren, denn Barsu merkte nichts davon, dass diese Gefährte Magie aufnahmen.

Coda warnte ihn ständig vor diesen „Autos“, und auch andere Katzen erzählten grausige Geschichten von Freunden, die unter die Räder gekommen waren. Hatte vielleicht Coda selbst ihren Schwanz bei einem solchen Unfall verloren? Dazu sagte sie nichts.

Eines Tages, als es schon stark auf den nächsten Vollmond zuging, folgte Barsu Coda zu dem Haus, in dem sie wohnte. Wenn sie wirklich bei einem Hexer lebte, würde dort doch bestimmt Magie zu finden sein, oder?

Das Haus sah fast aus wie ein kleines Schloss. Weiß ragte es an einer besonders breiten, viel befahrenen Straße in die Höhe und leuchtete in der frühen Dunkelheit. Leise Musik erklang, durch die riesigen Fenster, eher Wände aus Glas, konnte Barsu junge Menschen tanzen sehen.

Hier wirbelte die Magie, fast, als würden sich alle Kräfte, die diese Gegend überhaupt zu bieten hatte, in diesem Schloss versammeln und dann durch die Mauern nach außen sickern. Barsu schlich neugierig um das ganze Gebäude herum. Auf der von der Straße abgewandten Seite lag ein abschüssiger Garten, eher eine Wiese, die von einem Zaun und einer Hecke eingeschlossen wurde. Auch eine alte Tanne wuchs dort. Zwischen zwei Reihen von hohen Sträuchern stand ein Holzhaus, fast wie sie die Menschen zu Hause in den Bergen bauten. Mit Fenstern und Türen, die fest schlossen und tatsächlich Wind und Regen abhalten konnten. Es hatte sogar eine Plattform auf Pfählen, die den Hang ausglich. Nur hatte jemand sehr eifrig Muster in die Balken geschnitzt und gesägt.

Dieses Haus würde er Galent zeigen. Wenn sie hier wohnen könnten statt in der Hütte im Wald, müsste das Magiesammeln und folglich das Hexen doch viel besser gehen als bisher. Oder?

Langsam ging er noch einmal an dem Haus entlang und fing so viel von der austretenden Magie auf, wie er konnte. Er genoss das Gefühl, wie sein Höcker sich füllte. Dabei achtete er wohl nicht ausreichend auf seine Umgebung. Als er wieder in die Nähe der Tanne kam, krächzte über ihm ein Rabe und kam im Sturzflug auf ihn herab. Höchstens eine halbe Pfote breit wischte er über Barsus Rücken hinweg. Der sprang fauchend herum. Der Angreifer purzelte verwirrt ins Gras und hüpfte dann mit schräg gelegtem Kopf auf Barsu zu.

Der Vogel war merkwürdig. Er hatte nicht nur einen weißen Flügel, mit dem er fast wie eine Elster aussah. Es fühlte sich an, als ob er Magie ansaugte. Konnten Vögel Wandertiere sein? In dieser Welt schien vieles möglich. Barsu fauchte den Vogel noch einmal an und schlug mit der Tatze nach ihm. Dann trabte er den Hang hinauf. Der Rabe blieb zurück. Anscheinend war er nicht mehr an Barsu interessiert.

Vor dem Musikschloss an der Straße lag ein kleiner Platz, wo einige der lärmenden, stinkenden Wagen abgestellt waren. Da lärmten allerdings nicht, und wenn man lange genug wartete, ließ anscheinend auch der Gestank nach. Barsu schlich zwischen diesen Metallkisten herum. Er wollte sie aus der Nähe untersuchen, solange sie harmlos waren. Ob sie wohl aufwachten, wenn man darauf sprang?

Er duckte sich und machte einen Satz auf das niedrigere Ende eines roten Kastens.

Nein, keine Reaktion.

Aber von hier aus entdeckte er den Jungen. Er war lang und dünn, hatte goldblonde Locken und trug eine grau geringelte Kapuzenjacke. Mit großen Schritten lief er zwischen den Autos hin und her, sprach laut mit jemandem, den Barsu nicht sah, und gestikulierte heftig. Um ihn herum wirbelte Magie, als hätte er einen eigenen kleinen Sturm als Umhang. Offenbar konnte er nichts damit anfangen, die Magie blieb völlig unstrukturiert. Barsu musste diese Energie einfangen, wenigstens einen Teil davon. So viel auf einmal würde er so bald nicht wiederfinden, nicht einmal vor diesem wunderbaren Schloss.

Was tat der Junge hier? Spielte er ein Instrument? Möglich. An den Zaun gelehnt stand eine große, ungefähr dreieckige schwarze Tasche mit Tragegurten. Barsu fing an zu rätseln, was darin stecken könnte.

Ein Auto fuhr vor, groß und kantig, mit vielen Schrammen. Barsu sprang von seinem Ausguck herunter und duckte sich unter eins der stehenden Autos.

Der Junge nahm seine Tasche auf, als ob sie ihm zu schwer wäre, und machte einen Schritt in Richtung Straße.

Da kam der Rabe angeflogen. So schnell ihn die ungleichen Flügel trugen, zog er dicht an dem Jungen vorbei. Der ließ die Tasche fallen, die tief und anhaltend summte, und wehrte mit beiden Armen den aufdringlichen Vogel ab.

„He, blödes Vieh! Was soll‛n das!“, rief der Mann, der eben aus dem Auto stieg, und scheuchte den Raben ebenfalls. „Rabiate Vögel haben die hier. Alles in Ordnung, Anton?“

Der Junge nickte langsam. Er machte keine Anstalten, zu seinem Koffer zu gehen.

Barsu pirschte sich aus seiner Deckung, möglichst nah an Anton heran. Es fühlte sich an wie ein Platz in der Sonne. Barsu saugte die Magie in sich auf wie Wasser nach einer langen Wanderung.

„Gsch!“ Der Mann machte einen heftigen Schritt auf Barsu zu. „Hau ab, Katzenvieh! Was ist denn heut nur los, dass alle Tiere auf den Anton losgehen?“

Barsu wich eine halbe Pfotenbreite zurück.

Wieder stampfte der Mann direkt vor Barsus Nase auf. Er war groß und schwer, sein Schritt ließ den Boden schon leicht zittern. „Jetzt hau aber ab! Anton ist allergisch gegen dich.“ Das klang, als ob es eine Krankheit wäre. „Komm, hol deine Harfe, Schatz, dann können wir los.“

Der Junge nickte, blieb aber bei Barsu stehen. „Der Kater ist lieb“, sagte er und bückte sich. Aber er streichelte Barsu nicht etwa, sondern griff nach seinen Ohren.

Barsu rieb sich an den Beinen des Jungen. Das machten die Katzen hier so.

„Lass gehn, Anton!“, wiederholte der Mann streng. „Du kriegst nur wieder keine Luft mehr.“ Jetzt holte der Mann selbst die Harfe und lud sie in das große, eckige Auto.

„Tschüss, Katze“, sagte Anton und stieg ein. „Nächste Woche bist du bestimmt auch noch da, oder?“

Barsu verneigte sich. Diesen Jungen musste er sich merken. Und den Raben auch.

Der Wagen fuhr unter Barsus nachdenklichem Blick los. Er wartete, bis er nichts mehr sah, hörte oder roch. Damm trabte er mit aufgestelltem Schwanz zurück in den Wald, zu Galent. Der Hexer musste das alles erfahren und sich das Musikschloss ansehen. Jetzt, wo es auch noch einen Anton gab, mussten sie erst recht dort einziehen. Oder sich wenigstens in der Nähe niederlassen.

Der Hexer reagierte nach Einbruch der Dunkelheit genauso träge wie am Tag, als ob er den Vollmond gar nicht spürte. Dabei waren die letzten Menschen, die mit zwei Stöcken oder mit Hunden durch den Wald liefen, schon mit dem verglühenden Tageslicht abgezogen. Ohnehin fragte sich Barsu, warum Galent sich vor den anderen Menschen so gründlich verborgen hielt. Er war doch ein Mensch wie sie, er brauchte keine andere Gestalt anzunehmen wie Barsu, der sich in die Gemeinschaft der Katzen einschlich.

Endlich setzte Galent sich mit ihm in Bewegung. Als er merkte, dass Barsu den Weg zur Stadt einschlug, protestierte er: „Auf Abfalljagd kann ich jetzt noch nicht gehen. Da sind zu viele Leute unterwegs.“

Wieder diese Heimlichtuerei. Ja, die Häuser und die Straßen waren hell erleuchtet und es gingen Menschen hin und her oder fuhren mit ihren Autos. Trotzdem. Ihresgleichen sah im Dunklen sehr schlecht. Außerdem trugen die meisten Leute bei dem kalten Wetter dicke Jacken, Schals und Mützen, unter denen kaum etwas von ihrer Figur oder ihrem Gesicht zu erkennen war.

Nach einigen Umwegen und Abwarten in Verstecken kamen sie endlich zu dem Musikschloss. Barsu gab sich Mühe, Galent einmal um das Gebäude herumzuführen, aber der Hexer schien nichts Besonderes zu bemerken und sträubte sich dagegen, mit seinem Wandertier zu gehen. Barsu lief miauend hin und her, bis er im Eifer des Gefechts mitten in einen hellen Lichtkegel geriet.

Direkt vor ihm hielt ein Auto.

„Du bist vielleicht ein Hübscher!“, sagte eine kleine Frau mit rotem Gesicht und schwarzen Haaren, die gerade ausgestiegen war. „Du musst jetzt aber trotzdem mal da weggehen, damit Ruth auf ihren Parkplatz fahren kann.“

Ehe Barsu sich wieder orientieren konnte, hatte ihn die Frau schon aufgehoben. „Wem gehörst du denn? Ich glaube, wir kennen uns noch gar nicht.“

Ausgerechnet an dieser Stelle zeigte sich Galent. „Er gehört mir“, sagte er und streckte die Hand nach Barsu aus. Diplomatie war noch nie seine Stärke gewesen.

Barsu schnurrte so herzerwärmend, wie er es fertigbrachte.

Die Frau drückte ihn fester an ihre Brust und drehte sich halb von Galent weg. „Und wer bitte sind Sie? Wohnen Sie hier in der Nähe?“

„In der Nähe, ja.“

Inzwischen war das Auto abgestellt, das grelle Licht ging aus, und eine zweite Frau gesellte sich zu der ersten, größer und mit einem dicken, hellen Zopf. Das war dann wohl Ruth. „Was ist? New cat on the block?“

Die erste Frau nickte.

„Und Sie sind der Eigentümer?“, wandte sich Ruth an Galent.

„Ja.“

„Und wer sind Sie?“

„Galent. Hexer.“

„Wie? Hechler? Aus der Burgstraße?“ In dem Fall war die erste Frau offenbar bereit, Barsu wieder laufen zu lassen.

Aber Galent antwortete: „Aus Sibirien.“

Woher hatte er das Wort? Es schien jedenfalls zu stimmen. Barsu fing von der Frau flüchtige Bilder von Bergen, endlosen Wäldern, Schnee und Eis auf.

Galent hatte offenbar einen Weg gefunden, sich mit den Frauen zu verständigen, ohne Barsu einzuschalten. Die Frau, die ihn im Arm hielt, hatte überhaupt keine Magie, bei Ruth konnte Barsu selbst auf die kurze Entfernung ebenfalls keine wahrnehmen. Und das, obwohl die beiden anscheinend im Schloss lebten.

„Ich reise zwischen den Welten“, fuhr Galent fort.

„Ein Schamane“, sagte Ruth, als ob sie ihm erklären müsste, was sein Beruf war.

„Dann können Sie bestimmt auch trommeln“, vermutete die Frau noch ohne Namen.

Galent nickte knapp. Was sollte das?

„Kommen Sie doch mit rein“, fuhr die Frau fort. „Und Ihr Kater auch. Für den haben wir auch was Leckeres da.“

„Aber Christine“, sagte Ruth, „jetzt setz den Herrn doch nicht gleich so unter Druck.“

Dazu nickte Galent. „Ich komme morgen wieder. Am Tag.“

„Guter Vorschlag“, meinte Ruth.

„Wo wohnen Sie denn?“, fragte Christine.

„Ganz in der Nähe“, antwortete Galent.

Ruth murmelte etwas.

Auf ihre Bemerkung reagierte Galent nicht. „Bis morgen“, sagte er und griff nach Barsu.

Christine gab ihn her, und sie konnten gehen. Bei all dem Durcheinander hatte Barsu gar nicht mitbekommen, wie es um diese Tageszeit mit der Magie am Schloss aussah. Wahrscheinlich war es wirklich besser, morgen am Tag zu kommen, wenn wieder Musik gemacht wurde. Er ließ sich von Galent ein gutes Stück tragen, bis dieser mitten im Wald die Geduld verlor. „Weißt du was, Dicker, du kannst selber laufen!“

Buntspecht und Anton

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