Читать книгу Der tödliche Engel - Susanne Danzer - Страница 4
ОглавлениеKapitel 3
Celeste und Primes hatten sich vom Hausherrn verabschiedet, der seiner Tochter befahl, dem Inspector den Weg zu dessen Zimmer zu weisen. Obwohl Primes über einen guten Orientierungssinn verfügte, der ihm schon aus so manch schwieriger Lage geholfen hatte, war er froh, Celeste an seiner Seite zu haben. Sie hatte sich eine der kleinen Öllampen genommen, mit der sie die langen Gänge einigermaßen ausleuchteten konnte. Besorgniserregend empfand er allerdings das Schweigen, das sie, während des ganzen Weges durch die endlosen Flure, nicht einmal brach.
Endlich erreichten sie sein Zimmer und Primes bat sie einen Moment herein, um die Begebenheit zu besprechen.
Er schenkte sich in einen Whisky ein und sagte: »Das ist schon eine recht merkwürdige Sache.«
Celeste nickte.
»Ich sehe das etwas differenzierter als mein Vater. Das Collier kann durchaus von jemandem gestohlen worden sein, der nicht zu den Bediensteten gehört«, erklärte sie ihm. »Von den Fenstern aus, ist der ganze Raum zu übersehen. Der Dieb kann ebensogut draußen gestanden haben, und sah, wie mein Vater das Collier aus der Schatulle nahm oder es gerade hineinlegte. Als sich niemand im Zimmer befand, verschaffte er sich Zugang und griff es sich, wenngleich die fehlenden Einbruchspuren nicht dazu passen.«
»Da kann ich nicht widersprechen«, pflichtete ihr Primes bei. Er sah den müden Ausdruck in ihrem Gesicht: »Sie sollten zu Bett gehen, Celly. Ich werde mich ebenfalls hinlegen.«
»Die freien Tage fangen nicht gerade gut an«, meinte sie noch, als sie schon im Türrahmen stand und erschöpft lächelte.
»Stimmt. Doch es muss ja nicht so bleiben.«
»Ich wünsche Ihnen eine Gute Nacht, Primes.«
»Ich Ihnen auch, Celly«, sagte er, als sie bereits die Tür ins Schloss zog und sich auf den Weg zu ihrem Zimmer machte, das auf der anderen Seite des Ganges lag.
Primes gähnte, öffnete die verglasten schmalen Türen, die auf einen kleinen Balkon führten, trat hinaus und sah hinüber zum Meer.
»Merkwürdig«, murmelte er leise vor sich hin. »Das Verhalten seiner Lordschaft gefällt mir ganz und gar nicht ... diese Unruhe ... das viele trinken. Die Art, wie er mit Celly umgeht.«
Er fragte sich, ob der Mann krank war oder ihn etwas belastete, was er ihnen nicht ausgesprochen hatte?
Plötzlich, er wollte sich gerade eine Zigarette seiner geliebten ›Three Kings‹ anzünden, wurde er auf ein leises Geräusch aufmerksam. Die Nacht war hell, und er bemerkte eine Gestalt im Park, die sich langsam näherte. Ab und zu blieb sie hinter einem der vereinzelten Bäume stehen und beobachtete, wie es schien, das Herrenhaus.
Primes verharrte reglos. Er stand neben einem breiten, hohen Blumenständer aus Marmor, sodass er von unten nicht bemerkt werden konnte.
War es ein Mann oder eine Frau? Es war für ihn schwer festzustellen, da die Gestalt einen dunklen Mantel oder Umhang trug.
Die große Standuhr im Salon schlug elf mal. Ihr Klang wurde bis zu ihm in sein Zimmer getragen, wo sie aber nur noch gedämpft vernehmbar war.
Ein leichter Wind war aufgekommen und rauschte durch das alte und kahle Geäst hoher Bäume. Die Brandung der irischen See, war lediglich schwach zu vernehmen. Die dunkel gekleidete Gestalt befand sich bereits an der Mauer und schlich weiter. Gleich darauf bog sie um die Ecke.
Wer ist das nur?, fragte sich Primes. Ist das möglicherweise ein Komplize oder eine Komplizin des Täters?
Er entschloss sich auf der Stelle, in den Park zu gehen und sich die Person einmal aus der Nähe anzuschauen.
Eilig griff er nach seinen Mantel, verließ das Zimmer, betrat den Gang und huschte leise zur Treppe, die er geräuschlos hinuntereilte. Eine Minute später erreichte er die Halle.
Plötzlich hörte er ein Klirren und eine Tür knarrte.
Primes blieb stehen und lauschte.
Es war wieder still ...
... nicht das geringste Geräusch war zu vernehmen, als unerwartet etwas aus einer Nische auf ihn zusprang.
Er hörte ein Fauchen und schließlich ein Trippeln von Pfoten, die sich entfernten.
Eine Katze, schoss es ihm durch den Kopf und er lachte lautlos.
Zurück blieb ein Geruch nach Mottenkugeln und Kampfer.
Ohne sich weiter aufzuhalten, öffnete er die breite, schwere Haustür, deren Schlüssel steckte. Er schlüpfte hinaus, und zog sorgfältig die Tür hinter sich zu.
Da die Eingangstür von innen verschlossen gewesen war, konnte niemand von draußen in die Halle gelangt sein. Also ging er noch einmal hinein, holte den Schlüssel und schloss sorgfältig hinter sich ab, bevor er sich an der Hauswand entlang bis zur nächsten Ecke pirschte.
Von hier aus hatte er einen ausgezeichneten Blick über den Park.
Niemand war zu sehen.
Primes schlich weiter an der Mauer entlang, blieb immer wieder stehen und lauschte angestrengt in die Dunkelheit.
Nichts außer dem Nachtwind und dem Rauschen des Meeres war zu vernehmen.
Die Fenster des Erdgeschosses lagen gesichert hinter schmiedeeisernen Gittern, und soweit er sehen konnte, waren sie allesamt verschlossen.
Jetzt ging er auf exakt dem Weg, den die Gestalt im dunklen Mantel genommen hatte. Es schneite. Dennoch waren die frischen Fußstapfen noch gut zu erkennen. Er kam zu einem großen Tor, vom dem er wusste, dass dahinter mehrere Kutschen des Lords, in einem extra dafür gebauten Unterstand, ihren Platz hatten. Es war der Ort, an der die Bediensteten am späten Nachmittag den Landauer eingestellt hatten, mit dem Celeste und er angereist waren.
Das Tor war verschlossen, wie er schnell feststellte, als er versuchte es zu öffnen.
Eine kleine Tür rechts davon führte zum Herrenhaus. Auch diese Pforte war verschlossen. Er folgte weiter den Fußstapfen, die ab hier kaum noch erkennbar waren. Ein Vordach hielt den Schnee ab, sodass sich die Spur zunehmend verlor.
Langsam ging Primes weiter und gelangte auf eine Terrasse, welche an die französischen Türen der Bibliothek angrenzte, durch die man ebenfalls ins Anwesen gelangen konnte. Die Räumlichkeiten hinter den hohen Fenstern lagen im Dunkeln, da sich alle bereits zur Ruhe begeben hatten. Mit Ausnahme von ihm und dem ungebetenen Besucher.
Die Terrasse folgte dem Gebäude um eine Ecke, hinter der weitere hohe Bogenfenster lagen. Celeste hatte mit ihm einen kleinen Rundgang gemacht, und er wusste, dass dahinter das Musikzimmer lag.
Primes murmelte etwas und ging langsam, immer dicht an der Fassade, weiter.
Erneut gelangte er an eine schmale, mit eisernen Scharnieren beschlagene Tür. Als er probehalber die Klinke niederdrückte, ließ sie sich zu seinem Erstaunen tatsächlich öffnen.
Er war auf der Hut, als er eintrat, immer darauf bedacht, keine unerwarteten Begegnungen mit anderen Personen zu machen. Schritt für Schritt tastete er sich voran. Er brauchte nicht viele, um den Raum zu durchqueren, bis er auf der anderen Seite auf eine weitere Tür stieß, die vermutlich in ein Zimmer oder eine angrenzende Halle führte.
Der Gang, der hinter der Tür lag, war durch das Mondlicht ausreichend hell erleuchtet, sodass er gute Sicht hatte. Es roch nach Lebensmitteln, was ihn zu der Annahme verleitete, dass sich hinter der Tür die Küche oder Speisekammer befanden.
Langsam pirschte er weiter und drückte auch diese Klinke herunter. Er hatte Glück, denn diese Tür war ebenfalls nicht verschlossen.
Vor ihm öffnete sich ein großer Raum.
Es roch stärker nach Fleisch, Räucherspeck und Würstchen.
Auf einem Tisch erkannte er eine kleine Öllampe, deren verruste Glasscheiben auf einen regelmäßigen Gebrauch hindeuteten.
Die wird mir gute Dienste leisten, dachte Primes, in der Hoffnung jemand hat daran gedacht das Petroleum nachzufüllen.
Er machte noch einen Schritt, als er das Geräusch hinter sich hörte. Bevor er sich auch nur umwenden konnte, um nachzusehen, war es bereits zu spät.
Der Schlag war hart und schickte ihn erbarmungslos auf die steinernen Fliesen.
Primes hatte das Gefühl, sein Schädel würde in tausend kleine Teile zerspringen. Er sah rasende rote Kreise, tanzende Sterne und schillernde Lichtpunkte, bevor er in Dunkelheit versank.
Kapitel 4
Detective Inspector Primes hatte sichtlich Mühe seine Augen aufzuschlagen, als er endlich wieder zu sich kam. Vorsichtig, ein kleines Stöhnen von sich gebend, setzte er sich auf. Er benötigte einen Moment, um sich zu orientieren und sich in Erinnerung zu rufen, wo er sich eigentlich befand. Der Geruch von Lebensmitteln half ihm dabei.
Langsam erhob er sich und versuchte seine Balance wiederzufinden.
»Autsch«, murmelte er, als er sich vorsichtig an den schmerzenden Kopf fasste, der zu zerspringen drohte. Als er seine Hand vom Hinterkopf nahm und sie betrachtete, sah er etwas Klebriges, das seine Finger bedeckte. Im Dunkel konnte er es nicht erkennen, war sich aber darüber im Klaren, dass es sich um Blut handeln musste.
Mit einem Zündholz, das Primes aus seiner Tasche gekramt und an der Wand angerissen hatte, leuchtete er den Raum aus. Das Öllämpchen, mit dem er geliebäugelt hatte, lag auf dem Boden. Das Glas war in kleine Splitter zersprungen.
Primes bückte sich, um den Lampenkörper aufzuheben, in der Hoffnung, dass er noch funktionierte. Er stöhnte, als der Schmerz wie ein scharfes Messer durch seinen Körper fuhr. Verdammt, tat das weh.
Als sich der Inspector die Laterne näher betrachtete, kam er zu dem enttäuschenden Schluss, dass sie zu nichts mehr zu gebrauchen war. Das Petroleum war ausgelaufen. Bis auf den letzten Tropfen, wie es schien, worauf die im schwachen Schein des Zündholzes schimmernde Lache auf dem Boden hinwies.
Verflixt, warum kann mir das Glück nicht einmal hold sein?
Langsam wankte er davon. Er hatte das dringende Bedürfnis nach einer Zigarette und einem großen Schluck Gin oder Whisky; oder besser gleich einer ganzen Flasche. Nach diesem ärgerlichen Ereignis könnte er wirklich etwas Entspannendes gebrauchen. Und ihm war völlig egal, was Celeste davon halten würde. Gut, schimpfen würde sie ganz sicher, wenn sie ihn irgendwo betrunken herumlungern finden würde. Er kicherte trotz Schmerz leise vor sich hin, als er an ihren tadelnden Gesichtsausdruck dachte, den sie immer zeigte, wenn er sich in solche Situationen gebracht hatte. Dann sah sie aus wie eine strenge Gouvernante.
Erleichtert stieß er die Tür auf, die ihn nach draußen führte. Tief atmete er die frische Luft ein. Sie half ihm seine Gedanken zu klären.
Ganz in der Nähe stand eine Bank. Dort setzte er sich erst einmal hin. Kaum hatte er auf dem wettergegerbten Holz Platz genommen, zog er sein silbernes Zigarettenetui hervor, das er stets in der Manteltasche bei sich trug, und zündete sich eine Zigarette an. Dr. Montgomery würde ihm auch hierfür einen missbilligenden Blick schenken, doch im Moment war sie nicht hier und dafür war er erstaunlich dankbar.
Langsam kehrten seine Kräfte zurück und mit jedem Zug von seiner Zigarette fühlte er sich besser. Seine Kopfschmerzen ließen allerdings keinen Deut nach.
Vermutlich hatte ihn die Gestalt, die er durch den Park hatte kommen sehen, erbarmungslos und hinterrücks niedergeschlagen.
Primes merkte, dass er noch nicht klar denken konnte, aber ihm war bewusst, dass er etwas unternehmen musste.
Er wusste nicht, wie lange er ohnmächtig gewesen war. Zehn Minuten, fünfzehn oder sogar dreißig? Vielleicht länger. Er hatte seine Taschenuhr nicht bei sich, da er sie bereits auf den Nachtisch in seinem Zimmer ablegte, nachdem er sich von Celeste für die Nacht verabschiedet hatte. Ein Glück. Nicht, dass sie schon wieder zu Bruch ging, wie bei dem Fall der Schwestern Chambletts.
Zumindest konnte er sich noch wage daran erinnern, dass die Uhr im Salon elf geschlagen hatte, als er sein Zimmer verließ. Auch jetzt meinte er das Schlagen einer Uhr zu hören – zweimal. War es halb zwölf oder etwa schon halb eins? Er rieb sich nachdenklich die schmerzende Stelle am Hinterkopf.
Primes erhob sich von der Bank und ging in Richtung Anwesen. Er war immer noch etwas unsicher auf den Beinen. Jetzt war ihm erst recht nach einem ordentlichen Schluck Whisky zumute.
Er musste zurück auf sein Zimmer, etwas trinken, sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzen und seine Beobachtungen überdenken, so weit sie ihm nicht aus dem Kopf geprügelt worden waren.
Langsam ging er zum Haupteingang zurück und schloss die Tür leise auf. Kaum hatte er sie zugedrückt und abgeschlossen, wollte er sich umdrehen ...
»Nehmen Sie die Hände hoch!«, bellte eine Stimme. »Na, wird’s bald, Bürschchen?«
Dann wurde es hell in der Halle, und Primes starrte in den Lauf eines alten Militärpistole und direkt dahinter in ein Gesicht, das er kannte.
»Lord Montgomery!«, rief er aus.
»Du lieber Himmel! Beinahe hätte ich Sie erschossen, Inspector«, stöhnte Sir Andrew nervös und nahm die Waffe herunter. »Was, in Gottes Namen, tun Sie denn hier? Und warum schleichen Sie des nachts hier herum, dass man Sie für einen Einbrecher halten könnte?«
»Das lässt sich mit zwei Worten nicht erklären«, antwortete Primes. »Zunächst muss ich bekennen, dass mich jemand niedergeschlagen hat.« Er warf dem Hausherrn einen schmerzverzerrten Blick zu. »Ich brauche dringend einen Drink und zwar einen doppelten, wenn dies möglich wäre.«
»Endlich trinken Sie auch was. Ich habe mich ja schon ernsthaft gefragt, was Sie für ein Schwächling sind«, grinste Celestes Vater. »Kommen Sie ... im Nebenraum gibt es einen gut gefüllten Schrank. Ich werde Ihnen ein ordentliches Glas Whisky einschenken.« Er sah Primes besorgt an. »Sie sehen blass aus. Brauchen Sie Hilfe? Soll ich Sie führen?«
»Nein, nein, danke. Es geht schon, Sir. Bis auf einen dröhnenden Schädel, der mich morgen bestimmt fast umbringen wird, geht es mir im Moment gut.«
Lord Montgomery eilte zum Schrank, und in Primes keimte der Verdacht, dass sich in diesem Gebäude in jedem Raum eine Bar befand. Jedenfalls schien der Earl immer einen Drink zur Hand zu haben; benötigt oder nicht.
Er nahm auf einem Stuhl neben einem kleinen Tischchen Platz, den ein Spitzendeckchen zierte, und trank den Whisky, den ihm Sir Andrew gereicht hatte. Das Glas und in der Inhalt waren so groß, dass eine kleine Ente darin hätte schwimmen können, ohne den Boden mit den Füßen zu berühren.
Nach ein paar Schlucken fühlte sich Primes deutlich besser. Er erzählte seiner Lordschaft, der ihm aufmerksam zuhörte, was er beobachtet hatte.
»Interessant. Ich habe ebenfalls ein Geräusch gehört und bin deswegen in die Halle hinuntergegangen«, erklärte er, als Primes mit seinem Bericht fertig war.
»Eben ging direkt Licht an«, bemerkte der Inspector und sah sich um. »Sie haben bereits Strom?«
»Noch nicht überall. Nur in einem kleinen Teil des Gebäudes, in dem sich meine Frau und ich hauptsächlich aufhalten. Der Großteil wird noch mit Gas beleuchtet«, lächelte der Lord. »Es wird sicher noch einige Zeit brauchen, bis diese neue Errungenschaft des elektrischen Lichts im gesamten Anwesen Einzug gehalten hat. Zudem habe ich primitive Geister unter meinen Bediensteten, die glauben, diese Erfindung sei Teufelszeug und es ginge nicht mit rechten, gottesfürchtigen Dingen zu. Wir sind nicht mehr so weit vom 20. Jahrhundert entfernt. Ich will dafür gewappnet sein und habe noch nie zu den ewig Gestrigen gehört. Ganz sicher werde ich nicht damit anfangen, den bigotten Anhängern der angelsächsischen Kirche zu einem Verharren in der Vergangenheit zu verhelfen.«
Primes hörte der Schwadroniererei des Earls nur mit halbem Ohr zu und suchte stattdessen nach einer Standuhr, fand aber keine.
»Wissen Sie, wie spät es jetzt ist?«
Sir Andrew holte seine Taschenuhr hervor, ließ den Deckel aufspringen und sagte nach einem kurzen Blick auf das Ziffernblatt: »Es geht auf Mitternacht zu.« Dann trank er noch ein Glas und meinte sehr leise: »Vielleicht hören wir es auch heute ...«
»Was meinen Sie, Mylord?« Primes zeigte sich neugierig, ob dieser kryptischen Feststellung.
»Nun ... es spukt hier ab und zu.«
»Spukt?«
»Ja«, er lächelte wissend. »Auch in diesen Gemäuern geht ein Gespenst um.«
Primes zeigte sich erstaunt.
»Daran glauben Sie?«
»Keineswegs. Es hat nichts mit Glauben zu tun, sondern entspricht den Tatsachen.«
»Das dürfte wohl ein sehr leibliches, menschliches Gespenst sein«, erwiderte Primes mit einem Schmunzeln.
Wieder spürte er einen stechenden Schmerz im Kopf.
»Möglich«, meinte Lord Montgomery ernst. »Ich habe es bisher noch nie gesehen ... lediglich gehört.«
»So? Jetzt sagen Sie nur nicht, dass er spricht, dieser ... Geist.«
»Wo denken Sie hin, Inspector. Nein. Es klirrt, als trage es Ketten, und dann stößt es einen unheimlichen Schrei aus, der einen erzittern lässt. Bis in die Eingeweide fährt einem dieses Geräusch.« Der Lord sprach leise, und Primes dachte, dass mit den Nerven seines Gegenübers wirklich etwas nicht mehr ganz in Ordnung schien oder ob wohl schon der Geist des Whiskys aus ihm sprach.
»Hier gibt es aber nur das eine Gespenst, oder?«, erkundigte sich Primes, der kaum glauben konnte, was ihm Celestes Vater allen Ernstes weiszumachen versuchte. Erlaubte er sich einen Scherz?
»Ja.«
»Immerhin habe ich schon gehört, dass es in manchen alten Gemäuern mehr als eines geben soll«, bemerkte er, bemüht nicht zu spöttisch zu klingen oder gar die Augen zu verdrehen über diesen ganzen Humbug. Es war erstaunlich, wie zwiespältig sich der Earl zeigte: Auf der einen Seite glaubte er an die moderne Technik und huldigte dem Strom, auf der anderen Seite zweifelte er nicht an der Anwesenheit eines Spuks. Wenn er nun noch von einem Poltergeist zu sprechen anfing, dann konnte Primes für nichts garantieren. Nichts lag ihm ferner, als den Vater von Celeste Montgomery für einen trinkenden Spinner halten zu wollen, der fernab jeglicher Realität wandelte.
»Soll es geben«, erwiderte Sir Andrew völlig ernst.
Noch einmal tastete Primes seinen Kopf ab. Bei jeder kleinsten Bewegung spürte er einen stechenden Schmerz, der sich mit einem konstanten Dröhnen in seinem Schädel vermischte.
»Ich habe eine Kopfwunde, die versorgt werden sollte«, erklärte er. Primes dachte an sein Abenteuer mit den Opiumschmugglern im Fall der Schwestern Chambletts zurück, als diese ihm bereits schon einmal einen künstlichen Scheitel gezogen hatten.
»Ich werde meine Tochter bitten danach zu schauen.«
»Darauf sollten wir verzichten, Mylord. Ich würde sie deswegen nur ungern wecken.« Er machte eine ablehnende Handbewegung. »Sie war reichlich erschöpft von unserer Anreise.«
»Gut, ganz wie Sie wünschen, Inspector. Wenngleich sie ruhig behilflich hätte sein können. Immerhin hat ihr Studium eine Menge Geld verbraucht. Hätte mein Bruder Winston nicht darauf beharrt, sie in ihrem unsäglichen Wunsch zu unterstützen, wäre sie jetzt bereits verheiratet und würde ein Leben führen, wie es sich für eine Frau gehört«, erklärte der Adelige. »Da Sie auf Celestes Hilfe verzichten wollen, werden Sie mit mir vorlieb nehmen müssen. Wir sollten die Wunde zumindest mit Jod behandeln.«
Er nahm Primes beim Arm, aber der befreite sich.
»Vielen Dank. Es ist der Kopf ... es sind nicht die Beine, die etwas abbekommen haben.« Von Lord Montgomery angefasst zu werden war nichts, was dem Inspector auch nur im Entferntesten erstrebenswert erschienen wäre.
Seine Lordschaft führte ihn in ein Badezimmer, wusch ihm die Kopfwunde aus, die nicht so schlimm war, wie es zunächst schien, und bestrich sie an den Rändern mit Jod, das er aus der Hausapotheke geholt hatte.
»Einen Verband habe ich leider nicht, da müsste ich unseren Hausarzt verständigen«, entschuldigte er sich. »Es ist sehr unerfreulich«, sagte er mehrfach, »dass Sie in meinem Haus derartige Unannehmlichkeiten erlebt haben.«
»Sie müssen sich dafür nicht entschuldigen«, wehrte Primes höflich ab.
Inzwischen war Mitternacht vorbei, und seine Lordschaft bestand darauf, dass Primes sich sofort zu Bett begeben müsse. Er geleitete ihn bis an dessen Zimmertür, verabschiedete sich herzlich von ihm, was den Inspector widererwarten seltsam berührte, und entfernte sich.
Primes legte seinen Mantel ab, setzte sich und wollte sich gerade die Schuhe ausziehen, als er die dumpfe Detonation eines Schusses hörte.
Sie kam von draußen, aus dem Park.
Mit drei weiten Sätzen war Primes auf dem Balkon und suchte mit den Augen die Umgebung ab. Zu seinem Glück wurde sie von hellem Mondlicht beschienen.
Von irgendwoher meinte er knirschende Schritte zu hören, die sich rasch entfernten.
Dann war es still. Lediglich der Nachtwind rauschte im Duett mit der gegen die Küste rollenden Brandung.
Hätte er nicht so starke Kopfschmerzen verspürt, wäre er vermutlich noch einmal in den Park gegangen, um sich ein wenig umzusehen.
Ob Celeste den Schuss auch gehört hat?
Immerhin schien der Knall lautstark über das gesamte Anwesen gehallt zu sein und war ihm übernatürlich laut erschienen.
Er trat auf den Flur und horchte, ob sich in ihrem Zimmer etwas tat. Nachdem er nichts hörte, ging er wieder in seinen Raum und zog die Tür zu.
»Scheint mir hier sehr unruhig zu sein«, murmelte er kopfschüttelnd vor sich hin.
Er zog sich aus, legte sich auf das breite Bett, mit den rosshaargestopften Matratzen und knurrte: »Jetzt sollte ich mich erst einmal gründlich ausschlafen. Meinetwegen sollen sich zwanzig Gespenster hier austoben und noch mehr Schüsse fallen ... ich brauche jetzt meinen Schlaf.«
Wenige Minuten später lag er bereits fest in Morpheus‘ Armen.