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Kapitel 5

»Ja, so war das, Celly«, endete Primes, nachdem er ihr noch vor dem Frühstück von dem nächtlichen Vorfall erzählt hatte. Seltsamerweise war es ihm bereits beim Aufwachen ein Bedürfnis gewesen, ihr von den nächtlichen Vorfällen zu berichten. Nach dem festen Schlaf, fühlte sich Primes einigermaßen erfrischt. Richtig wiederhergestellt fühlte er sich jedoch nicht. Dazu trugen wohl die Kopfschmerzen bei, die ihn immer noch plagten.

Celeste, die sehr besorgt gewesen war, hatte ihn gebeten, sich die Wunde genauer ansehen zu dürfen. Sie war davon überzeugt, dass man ihn mit einem Schürhaken zu Boden geschickt hatte.

»Haben Sie den Schuss denn auch gehört?«, wollte Primes von ihr wissen. »Er muss eine gute Stunde, nachdem Sie zu Bett gegangen sind, gefallen sein.«

Sie verneinte.

»Ich muss gestehen, dass ich tief und fest geschlafen habe, wie schon lange nicht mehr. Allerdings liegt mein Zimmer zur anderen Seite hin.« Sie warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. »Jetzt sollten wir uns erst einmal zum Frühstück begeben. Es wird im Wintergarten, auf der Westseite, bereits dafür eingedeckt sein. Ich bin mir sicher, dass es so einige Gaumenfreuden für Sie bereithalten wird.«

***

Lady Elisabeth Montgomery, eine schlanke Schwarzhaarige, die man ohne zu übertreiben als ›sehr hübsch‹ bezeichnen musste, begrüßte ihre Stieftochter und ihren Begleiter Primes überschwänglich, als diese gemeinsam den Wintergarten betraten. Fröhlich plaudernd erkundigte sie bei den beiden, ob sie eine angenehme Nacht hatten.

»Danke, ich habe ausgezeichnet geschlafen«, bekannte Celeste wahrheitsgemäß und lächelte die Frau ihres Vaters höflich aber distanziert an.

»Äußerst angenehm«, kommentierte Primes mit einem vieldeutigen Lächeln.

Lord Montgomery und er wechselten einen raschen Blick, den Primes seitens des Hausherrn als klare Ansage verstand, nicht über die letzte Nacht zu reden. Eine wortlose Verständigung unter Männern.

»Oh bitte, setzen Sie sich doch«, forderte Lady Elizabeth sie auf. »Ein gutes und nahrhaftes Frühstück gibt Kraft für den Tag.«

Der Tisch war sauber und ansprechend eingedeckt. Das Porzellan wurde umsäumt von silbernem Besteck und ein Blumengesteck zierte die Mitte der Tafel.

In Primes‘ Augen gab es keinen wirklichen Bedarf für einen Esstisch dieser Größe, an dem lediglich das Frühstück eingenommen wurde. Reine Platzverschwendung. Doch wenn man in solch großzügigen Gemäuern lebte, wie der Earl und seine Frau, wäre eine kleinere Version eines Tisches wohl etwas Lächerlichem gleichgekommen und hätte deplaziert gewirkt. Dennoch kam das alles hier in Primes‘ Augen einer gewissen Dekadenz gleich, was seiner Herkunft aus bescheidenen Verhältnissen geschuldet war.

George, ein Diener in schmuckem Livree, servierte den beiden Gästen die Wünsche, die sie zum Frühstück hatten, wobei Celeste nichts anderes bestellte als zwei pochierte Eier und ein Gurkensandwich. Primes konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen, als er den etwas irritierten Blick des Dieners, hinsichtlich ihrer Wünsche, bemerkte. Er selbst konnte beim besten Willen nicht verstehen, was Celeste an Gurkensandwiches mochte. Nun, er musste gestehen, das er es auf der anderen Seite auch charmant fand, wie leicht sie damit zufrieden gestellt werden konnte.

Der Inspector besah sich diesen George aufmerksam, besonders im Hinblick auf das, was sie am Abend zuvor mit Lord Montgomery besprochen hatten. Der Mann war ungefähr dreißig Jahre alt, hatte ein glattrasiertes Gesicht mit aalglatten Zügen und einer Nase, die Primes an einen Angelhaken erinnerte, da deren Spitze seltsam nach oben gebogen war.

Während sie beim Frühstück saßen und über Belangloses plauderten, tauchte auch James, der Butler des Hausherrn, auf und bat seine Lordschaft ans Telefon.

Hatte Sir Andrew nicht gesagt, dass der Mann schon seit vier Jahren in seinem Dienst steht?, erinnerte sich Primes und es stellte sich für ihn die Frage, warum er den Mann nicht schon längst entlassen hatte, wenn er ihm nicht traute. Allerdings kam er bei diesem Punkt auf keinen grünen Zweig, während sein Blick im selben Moment auf den Ast einer Tanne fiel, der das Buffet mitsamt weihnachtlichem Schmuck zierte.

Nachdem sich George wieder entfernt hatte, das Gespräch in Belanglosigkeiten verlief, und seine Lordschaft an Tisch zurückgekehrt war, sagte Primes zu Celestes Stiefmutter: »Mylady, Sie haben ausgezeichnetes Personal, wie ich feststelle. Zuvorkommend und höflich, jedoch in keinster Weise aufdringlich.«

»Nicht wahr, Inspector?«, erwiderte sie lächelnd. »Ich habe die Leute höchstpersönlich eingestellt. Jeder von ihnen wurde von mir sozusagen handverlesen. Von James einmal abgesehen, der schon seit mehreren Jahren in Diensten meines Mannes steht und bereits hier war, bevor ich meinen Gatten überhaupt kannte.« Sie wandte sich an ihren Mann, und ein gewisser Stolz schwang in ihrer Stimme mit, als sie fragte: »Nicht wahr, Andrew, ich habe ein besonderes Händchen bei der Auswahl der Bediensteten?«

»Zweifellos«, erwiderte ihr Mann, während er sich eine Gabel voll Rührei in den Mund steckte.

»Heutzutage ist es unerlässlich, dass man zuverlässiges Personal hat«, fuhr Primes im Plauderton fort, der die Dame des Hauses ermuntern sollte, etwas mehr über die Angestellen zu erzählen, die hier im Herrenhaus und auf dem gesamten Anwesen ihrer Arbeit nachgingen.

»Da kann ich Ihnen nur zustimmen, Inspector. Gerade, wo es in diesen Zeiten immer schwerer wird geeignetes Personal zu finden. Es ist unfassbar wie viele unfähige Menschen versucht haben eine Anstellung bei uns zu bekommen. Ich habe sie weggeschickt, weil ich mich mit diesem Gesindel keinesfalls abzugeben gedachte. Es war ermüdend und hat bei mir mehr als nur eine schreckliche Migräneattacke ausgelöst, die ich nur mit Hilfe von Laudanum lindern konnte. Umso glücklicher bin ich mit den Bediensteten, die wir jetzt bei uns haben.«

»Das hört man gern.«

»Ja, das ist sehr angenehm«, fügte Celeste in unverbindlichem Ton hinzu, bevor sie sich wieder ihrem Gurkensandwich widmete.

Das Frühstück war reichhaltig und so üppig, wie es Primes bisher selten erlebt hatte.

Lord Montgomery aß und trank, als habe er seit vierzehn Tagen weder einen Bissen noch einen Schluck zu sich genommen. Zudem fiel Primes auf, dass der Earl, genau wie am Abend zuvor, hastig aß und noch gieriger trank. Er schlang förmlich alles hinunter.

Irgendwie schien er von einer ungeheuren Unruhe und Nervosität befallen zu sein – nur seine Frau Elizabeth bemerkte es offensichtlich nicht, die geziert an ihrem Frühstückstee nippte. Wie beiläufig erwähnte sie, dass der Tee kostspielig aus Indien importiert worden war.

Zu keinem Zeitpunkt warf sie ihrem Gatten einen besorgten Blick zu. Für sie schien sein Benehmen alltäglich zu sein.

In Primes‘ Augen wirkte Lady Montgomery ausgeglichen und gelassen, wenn man von ihrem oberflächlichen ›Small Talk‹ einmal absah, den sie zur Kunstform erhoben zu haben schien. Sie plauderte lebhaft und lachte gern, wenngleich der Inspector das Gefühl hatte, als wäre ihre zur Schau getragene Unbekümmertheit aufgesetzt und wenig natürlich. Ein Blick zu Celeste zeigte ihm, dass sie dasselbe dachte wie er. Lord Montgomery hatte sich gegenüber Primes nicht geäußert, wo und wie er seine Frau kennengelernt hatte, und ob sie, wie er selbst, aus Adelskreisen stammte. Der Inspector machte sich darüber Gedanken, denn irgendetwas am Benehmen dieser Frau gefiel ihm nicht. Sein polizeilicher Instinkt schlug Alarm.

Das Frühstück zog sich in die Länge, denn die Hausherrin schien die Tatsache Gäste zu haben, in vollen Zügen zu genießen. Primes hörte ihr irgendwann nur noch mit halbem Ohr zu, denn alles was sie sagte war entweder oberflächlich oder so mit Eigenlob durchtränkt, dass es ihm unangenehm wurde.

Als sie endlich die Mahlzeit beendet hatten, schlug Celestes Vater vor, einen gemeinsamen Spaziergang durch den Park zu machen.

»Sie werden leider auf meine Gesellschaft verzichten müssen, liebster Andrew«, sagte Lady Elizabeth und wandte sich an Celeste und Primes. »Ich gehe nicht gern spazieren. Deshalb bitte ich Sie, mich diesbezüglich zu entschuldigen. Außerdem habe ich für den Abend noch verschiedene Vorbereitungen zu treffen. Wir können uns jedoch gern im Anschluss an meine Pflichten im Salon treffen und gemütlich beisammen sitzen. Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel oder halten es gar für eine Vernachlässigung.«

»Wir haben volles Verständnis dafür, Mylady«, erwiderte Primes. Er deutete ein leichtes, höfliches Nicken an.

Nachdem sie sich erhoben hatten, bemerkte Lady Elizabeth, die nachgeblutete Stelle an Primes Hinterkopf.

»Oh! Inspector, haben Sie sich etwa verletzt?«, erkundigte sie sich besorgt.

»Ja, bereits in London, Mylady«, beschwichtigte Primes lächelnd. »Völlig unbedeutend. Gestern habe ich mich erneut an dieser Stelle gestoßen, und sie hat ein wenig geblutet. Es besteht kein Grund zur Sorge.«

»Das tut mir aber leid«, entgegnete Lady Elisabeth, aber Primes und auch Celeste glaubten den Anflug eines eigenartigen Lächelns auf ihren Lippen zu bemerken, den sie nicht zu deuten wussten. Doch vielleicht hatten sie sich auch getäuscht.

Lord Montgomery, Celeste und Primes gingen, nachdem sie sich ihre Mäntel geholt hatten, in den Park hinaus, wo ihnen ein frischer Wind entgegenwehte, der ein paar vereinzelte Schneeflocken vor sich hertrieb.

Sir Andrew hatte Primes erneut eine Zigarre angeboten, die dieser aber auch heute ablehnte. Er griff lieber zu einer seiner Zigaretten.

Über Nacht war frischer Schnee gefallen. Gemächlich schlenderten sie durch den sehr alten Baumbestand. Celeste merkte, dass Primes gern mit ihrem Vater ein paar Worte unter vier Augen gewechselt hätte. Deshalb blieb sie etwas zurück und betrachtete die Bäume und Sträucher. Als sie einen alten Mann sah, der mit einem Schneeschieber zur Terrasse wollte, begann sie mit ihm eine Unterhaltung.

»Guten Morgen, Mister ….«, grüßte sie freundlich und ließ die Anrede in der Luft hängen, da sie den Mann hier noch nie gesehen hatte. »Was für ein herrlicher Wintermorgen, nicht wahr? Ich bin Celeste Montgomery. Die Tochter von Sir Andrew. Ich bin aus London zu Besuch«, plauderte sie.

»Lewis«, brummte er. »Das ist mein Name. Ich bin der Gärtner.«

Der Mann war mindestens siebzig Jahre alt und nicht gerade das, was man als einen ansehnlichen Menschen bezeichnete. Mit anderen Worten – man konnte ihn schlicht als hässlich bezeichnen, auch wenn sich Celeste eigentlich dagegen sträubte solche pauschalen Begrifflichkeiten zu verwenden. In ihren Augen hatte jeder Einzelne auf Gottes weiter Welt, eine positive Eigenschaft, die ihn zu etwas ganz eigenem machte. Schönheit gab es in großer Vielfältigkeit, allerdings konnte sie bei diesem Lewis rein äußerlich nichts Erquickliches entdecken. Sein Gesicht erinnerte sie stark an Verbrecher, mit denen sie seit Beginn ihrer Arbeit beim Yard täglich zu tun hatte. Er war grobschlächtig, mit einigen Narben übersät, sodass eines seiner Augenlider dadurch ein Stück nach unten gezogen wurde, was sein Antlitz unsymmetrisch machte. Dennoch wollte sie ihn nicht nach seinem Äußeren beurteilen.

Während sie mit ihm einen belanglosen ›Small Talk‹ hielt, hatte sie dennoch die ganze Zeit das Gefühl, als würde der Gärtner eine Möglichkeit suchen, um ihren Fängen zu entwischen. Ein großer Redner war er definitv nicht.

Zur selben Zeit begann Primes eine Unterhaltung mit Sir Andrew: »Ich hätte gern etwas von Ihnen gewusst ...«

»Ja, gern, Inspector Primes. Allerdings möchte ich Ihnen zunächst die Liste mit Bediensteten überreichen und den Plan des Anwesens, wie wir es gestern Abend besprochen haben.« Er war stehengeblieben und zog mehrere, in der Mitte gefaltete, Bögen Papier aus der Innentasche seines Mantels. »Hier, wo die grünen Schattierungen sind, liegen die Zimmer des Personals.«

Nach einigen weiteren Erläuterungen, die der Earl ihm beinahe im Befehlston gab, steckte Primes die Namensliste und den Grundriss ein.

»Haben Sie den Schuss in der vergangenen Nacht gehört? Mich dünkt, der Knall wäre aus Richtung des Parks gekommen«, sagte der Inspector wie beiläufig, da er die Reaktion von Celestes Vater zu dieser Frage ungefiltert sehen wollte.

»Einen Schuss?« Der Earl zeigte sich erschrocken.

»Ja, ich wollte mich gerade zu Bett begeben, als ich ihn hörte. Leider konnte ich den Schützen nicht ausmachen, aber ich bin mir sicher, mich nicht getäuscht zu haben, denn der Klang einer Pistole, die abgefeuert wird, ist mir vertraut. Außerdem vernahm ich Schritte, die sich eilig entfernten.«

»Interessant«, erwiderte der Adelige. »Ich habe nichts vernommen. Ich habe geschlafen wie ein Stein. Muss noch aus meiner Militärzeit stammen. Man hat jede Chance zu ruhen genutzt, egal wie viel Kugeln einem um die Ohren flogen. Wäre man da wie ein Feigling jedes Mal zusammengezuckt, hätte man nicht eine Minute Schlaf gefunden.«

Er zog kräftig an seiner Zigarre und klopfte anschließend die Asche ab, während er seinen Blick voraus über den Park schweifen ließ, als würde er einen Eindringling hinter den feindlichen Linien suchen.

»Hat meine Tochter den Schuss ebenfalls gehört?«, erkundigte er sich.

»Sie hat es verneint … sagte mir, sie habe tief und fest geschlafen.«

»Das ist ja merkwürdig!«, murmelte Primes‘ Gastgeber vor sich hin.

Dem Inspector fiel auf, dass der Earl trotz der Kälte transpirierte und sich den Schweiß von der Stirn tupfte. Zum Frühstück hatte er zwei Gläser Champagner und ein großes Glas Whisky getrunken. Primes konnte nur vermuten, dass es nicht ausreichend genug war und sein Körper eigentlich nach weitaus mehr verlangte.

»Ich wollte Sie noch etwas anderes fragen, MyLord«, fuhr Primes nach einer Weile fort und blieb neben einer Hecke stehen, warf einen Blick zurück und bemerkte Celeste im Gespräch mit dem Gärtner.

»Nur zu, bitte, fragen Sie, Inspector«, forderte ihn der Earl leicht gereizt auf und machte einen fahrigen Eindruck.

Primes sah ihn direkt an, nahm einer Zug von seiner Zigarette und sagte sehr leise: »Sie haben mir nicht erzählt, woher Ihre Gattin eigentlich stammt?«

»Habe ich das tatsächlich noch nicht erwähnt?«, tat Earl Montgomery überrascht.

»Nein«, erklärte Primes. »Daran könnte ich mich entsinnen.«

»Meine Frau war Tänzerin, als wir uns das erste Mal begegnet sind.«

»Wie interessant!«

»Ja ... ich habe sie in New York kennengelernt, wo sie seinerzeit gelebt und gearbeitet hat. Allerdings ist sie gebürtige Engländerin, wie Sie ja unschwer an ihrem Dialekt und ihrem Benehmen nach erkennen konnten. Es war Liebe auf den ersten Blick.«

»Das kann ich verstehen. Eine sehr attraktive, reizvolle Frau, wie ich schon bemerkte, Mylord. Stammt sie aus Adelskreisen?«

»Nein, sie ist nicht von adeliger Geburt, jedenfalls nicht väterlicherseits. Ihre Mutter stammt aus einer adeligen Familie, die in der Grafschaft Essex zu leben scheint. Allerdings habe ich noch keinen von ihnen kennengelernt. Warum wollen Sie das wissen, Inspector?«

Sie gingen langsam weiter. Das schöne, heitere Wetter war umgeschlagen und ein leichter Schneefall hatte wieder eingesetzt. Nach einer Weile gelangten sie an einen kleinen Pavillon, an dem die dürren, blattleeren Äste einer Kletterrose hingen. Im Sommer war sie sicher wundervoll blühend und betörend durftend hinauf gerankt.

»Wir reizend«, stellte Primes begeistert fest.

Vor dem Pavillon war ein großer Teich, der von einer dicken Eisschicht bedeckt wurde.

»Sie wissen also wenig über das Vorleben Ihrer Gattin, Mylord?«, fragte Primes wie beiläufig.

»Vorleben? Donnerwetter!«, erzürnte sich der Earl. »Was wollen Sie damit zum Ausdruck bringen? Reden Sie nicht um den heißen Brei herum, als wären sie ein Backfisch vor seinem ersten Beischlaf.«

»Zum Ausdruck bringen? Nichts. Mich persönlich würde das Vorleben einer Frau, die ich heirate, doch berechtigterweise interessieren. Oder ... ?«

Primes ließ Sir Andrew nicht aus den Augen.

»Ich meine, dass es reicht, wenn man sich liebt. Ich muss sagen, Ihre Fragen sind, gelinde ausgedrückt: recht eigenartig und impertinent. Haben Sie an meiner Frau irgendetwas auszusetzen?«

»Keine Spur! Im Gegenteil, sie ist mir sehr sympathisch«, erwiderte Primes und kreuzte, für den Earl unsichtbar, zwei Finger hinter dem Rücken.

»Das will ich stark hoffen, Inspector!«

Langsam umrundeten sie den Teich.

Primes bemerkte, dass Celeste sich vom Gärtner verabschiedete und ihnen langsam auf dem Weg folgte, den sie genommen hatten.

»Den alten Gärtner hat Ihre Gattin eingestellt?«, wollte Primes wissen.

»Lewis? Natürlich! Ich sagte Ihnen ja bereits, dass sie alle Leute eingestellt hat, außer James und Walter, meinen Stallmeister.«

»Kommen die beiden ebenfalls aus Amerika?«

Seine Lordschaft war mit einem Ruck stehengeblieben.

»Was soll diese Frage?«, fauchte er.

»Nun, ich muss mich doch mit den Leuten beschäftigen. Sie wünschen ja, dass ich sie im Auge behalte, Mylord, zumal Sie deren Befragung ja nicht erlauben«, erwiderte Primes ruhig. »Da interessiert mich natürlich auch deren Vorleben.«

»Wie das meiner Gattin!«, höhnte der Earl.

»Kommen die beiden nun aus Amerika oder nicht?«, wiederholte Primes hartnäckig.

»James ja, steht auch so auf dieser Liste, die ich Ihnen gegeben habe. Wenn Sie schon so fragen: auch er ist gebürtiger Engländer. Walter dagegen, wurde schon von meinem Vater eingestellt und war noch nie außerhalb Großbritanniens. Ich denke auch nicht, dass er jemals den Hauch eines Drangs verspürt dazu hat.«

Primes nickte vielsagend.

»Als Sie in Übersee waren, wo Sie Ihre Frau kennenlernten, hat James Sie da begleitet?«

»Verdammt, Inspector, was soll das schon wieder?«, zischte Sir Andrew. Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarre und ließ den Rauch in kleinen Wölkchen durch den Mund entgleiten. »Sie stellen wirklich Fragen, die für mich keinerlei Sinn ergeben.«

»Sie lernten Ihre Gattin also in New York City kennen. Wurden Sie von James auf dieser Reise begleitet?«, wiederholte der Inspector seine Frage.

»Ja!«, stieß Celestes Vater unwillig hervor und eine Zornesfalte bildete sich auf seiner Stirn.

Wie Primes bemerkte, blieb Celeste auf der anderen Seite des Teiches stehen und betrachtete die zugefrorene Wasserfläche. Sie wusste, dass Primes mit ihrem Vater allein sein wollte. Eines musste er ihr lassen: Sie hatte ein unglaubliches Gespür dafür, wann sie sich zurückhalten musste. Jedenfalls, wenn es um den Umgang mit Zeugen ging.

»Aha!«

»James ist mein Butler, nicht mein Reisegefährte, wie Sie das wohl vermuten. Wollen Sie mir nicht endlich sagen, worauf Ihre Fragen abzielen?«

»Ich frage nicht umsonst, Mylord«, wich Primes zunächst aus, nicht ohne Nachdruck.

»Haben diese Fragen etwas mit dem Diebstahl des Colliers zu tun?«

»Gewiss.«

»Merkwürdig.« Seine Lordschaft schüttelte den Kopf.

»Nicht so merkwürdig, wie Sie vielleicht vermuten, Sir.«

Sir Andrew sog heftig an seiner Zigarre, so dass ein leises, knisterndes Geräusch zu hören war, als die Glut den Tabak verbrannte.

»Warum sind Sie so gereizt, Mylord? Fehlt Ihnen etwas?«, erkundigte sich Primes nach einem Moment des Schweigens. In seinem Gesicht spiegelte sich Besorgnis wider.

»Ich bin gereizt? Zum Donnerwetter, Inspector!«, schnaubte sein Gegenüber

Primes bemerkte, dass die Hand, mit der seine Lordschaft die Zigarre hielt, stark zitterte.

»Ich finde, dass Sie recht nervös wirken.«

»Ich muss schon bitten, Sie haben Nerven! Noch kein Mensch hat behauptet, dass ich nervös sei!« Seine Lordschaft schien pikiert.

»Dann bin ich also der Erste, der es Ihnen sagt«, stellte Primes trocken fest.

»Lassen Sie doch den Unsinn, Inspector. Im übrigen: Es kann Ihnen doch wohl völlig gleichgültig sein, ob ich nervös bin oder nicht.«

»Ich frage mich, ob Sie Sorgen haben, Mylord?«

»Ich ... Sorgen?« Er brach in Gelächter aus, aber es klang irgendwie nicht echt. »Sie machen mir vielleicht Spaß!«

»Sie sind sehr fahrig.« Primes ließ nicht locker. »Was bedrückt Sie, Sir? Wollen wir nicht offen zueinander sein? Womöglich kann ich Ihnen helfen. Oder Ihre Tochter, die eine wirklich ausgezeichnete Ärztin ist, der ich mich und mein Leben ohne Bedenken anvertrauen würde.«

»Jetzt hören Sie endlich mit diesem Blödsinn auf, Inspector!«, knurrte der Earl. Sein Gesicht lief rot an. »Es geht mir gut. Allerdings regen Sie mich mit der Impertinenz auf, die Sie an den Tag legen.«

»Also gut. Wie Sie wünschen, Sir«, setzte Primes an. »Ich bin ehrlich besorgt um Sie, und ich bin sicher, Ihre Tochter ist es ebenfalls.«

»Ihre und die Sorge meiner Tochter sind völlig unbegründet. Mir geht es ausgezeichnet, wie ich Ihnen bereits versichert habe. Ich bin frei von Sorgen. Mich bedrückt nichts. Ich bin glücklich verheiratet. Meine Frau ist jung, sehr jung sogar und unglaublich attraktiv. Ich bin zwar nicht mehr der Jüngste, aber ich glaube, ich bin noch ganz und gar auf der Höhe, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Sicher«, erwiderte Primes, auch wenn es nicht überzeugt klang. »Ist das nicht schön hier, Celly?«, rief er Celeste über den Teich hinweg zu – ein Wink, der ihr zeigen sollte, dass sie jetzt zu ihnen aufschließen konnte.

Als sie neben Primes und ihren Vater trat, lächelte sie: »Ich weiß, einfach wundervoll, nicht wahr? Herrlich anzuschauen ... all die weiße Pracht.«

»Du hast dich lange mit dem Gärtner unterhalten, wie ich bemerkt habe«, stellte Sir Andrew fest und blickte seine Tochter tadelnd an.

»Ja, Vater«, bestätigte sie. »Wie alt ist er eigentlich?«

»Dreiundsiebzig«, entgegnete er. »Ein richtig alter Gauner, nicht wahr?«

Celeste sah ihn unschlüssig an und wusste nicht so recht, was sie darauf erwidern sollte.

»Was hat er dir erzählt?«, forderte der Earl in harschem Ton zu wissen.

»Wir haben nur über den Park gesprochen. Ich fragte ihn, ob es ihm hier gefällt, und er sagte: Ja, sehr gut. Es macht sich schon.« Sie machte eine rhethorische Pause. »Ja, genau das erwiderte er.«

»Es macht sich schon?«, hakte Primes nachdenklich nach, der diese Aussage nicht so ganz verstand.

»Dass dieser alte Knabe etwas mit dem Diebstahl zu tun hat, kann ich mir nicht vorstellen«, warf der Earl ein.

»Nicht?«, fragte Primes überrascht mit einem erstaunten Seitenblick. »Sagten Sie nicht gestern wiederholt, dass Sie jeden einzelnen Ihrer Bediensteten in Verdacht haben, Mylord?«

»Das war vielleicht etwas übertrieben«, räumte er ein. »Diesem alten Mann traue ich zwar Gemeinheiten zu, aber ein Collier zu stehlen, halte ich für ausgeschlossen.«

»Welcher Person, genauer gesagt, welchem Ihrer Angestellten würden Sie den Diebstahl denn in erster Linie zutrauen?« Primes sah seine Lordschaft fragend an. »Das würde mich wirklich brennend interessieren.«

Sir Andrew nahm einen Zug von seiner fast aufgerauchten Zigarre, ehe er antwortete: »Ich kann keinen verdächtigen.«

»Sie haben doch bereits alle verdächtigt, Vater«, warf Celeste ein. »Jedenfalls gestern. Da waren Sie sogar sehr vehement in Ihren Äußerungen«

»Ich war erregt«, beschied er ihr knapp. »Aber ich bin davon überzeugt, dass eher eine weibliche Person in Betracht kommt.«

»Darf ich erfahren, wer das Ihrer Meinung nach sein könnte, Sir?«, übernahm Primes wieder das Gespräch.

Seine Lordschaft zuckte nervös zusammen und blickte plötzlich in eine andere Richtung.

»Die Person, die dort auf uns zukommt«, sagte er dann leise und deutete mit dem Kopf in die entsprechende Richtung.

Celeste und Primes folgten seiner Bewegung und sahen eine schwarzgekleidete Frau auf sich zukommen.

»Wer ist das?«, erkundigte sich Primes.

»Das ist Mrs. Carpenter, die Haushälterin«, antwortete Sir Andrew knapp.

»Kommt Sie auch aus Amerika?«

»Ja, zum Teufel ... kommt sie!«, zischte der Earl. »Fangen Sie etwa schon wieder damit an?«

Primes lächelte schwach.

»Sie ist in Plymouth geboren, also eine waschechte Engländerin, wenn es Sie beruhigt, Inspector«, ergänzte Sir Andrew zähneknirschend.

»Und sie könnte, Ihrer Ansicht nach, das Collier an sich gebracht haben?«, fragte Celeste.

»Möglich.«

Die Haushälterin war jetzt herangekommen, grüßte mit etwas kehliger Stimme und wandte sich an ihren Dienstherrn: »Lady Elizabeth bittet Sie möglichst unverzüglich zu sich, Mylord. Sie meinte, es gäbe noch einige Dinge zu klären, wofür Mylady nicht auf Ihre Anwesenheit verzichten kann, Sir. Das soll ich Ihnen ausrichten.«

Sie sprach mit einem starken amerikanischen Akzent und drückte sich reichlich umständlich aus – nicht ganz in der korrekten Form, wie sie es hätte tun müssen.

»Danke. Ich komme sofort!«

Mrs. Carpenter entfernte sich wieder, nachdem sie Celeste und Primes ein süßsaures Lächeln zugeworfen hatte.

»Wir sehen uns später auf der Terrasse«, verabschiedete sich Celestes Vater von den beiden und entfernte sich eilig. Schnell holte er die Haushälterin ein und ging neben ihr her zum Herrenhaus.

Der tödliche Engel

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