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Kapitel 1

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Hoftage zu Worms, Herbst im Jahre des Herrn 1065

Penelope, die Domkatze, lag eingerollt auf einem Fenstervorsprung der Bischofskirche St. Peter und Paul zu Worms und schien tief zu schlafen. Hinter ihr erhob sich die Nordfassade des mächtigen Doms mit seinen gewaltigen Mauern und Türmen. Vor dem Hintergrund der mit hohen Säulen und runden Bögen eingerahmten Fenster wirkte Penelope selbst wie ein Teil der Einfassung, als hätte ein begnadeter Steinmetz ihren reglosen grauen Katzenkörper zum Gedenken an Gottes Schöpfung in das steinerne Sims gemeißelt.

Um Mitternacht hatte die Glocke zur Matutin gerufen, dem letzten Gebet des Tages, und aus dem Innern des Doms waren die Gesänge und Gebete der Domherren auf den Pfalzhof gedrungen. Jetzt waren die Gebete verstummt. Die Domherren hatten sich zur Nachtruhe in ihr Kapitelhaus hinter dem Dom zurückgezogen. Nur noch die nörgelnde Stimme von Wipert, dem Thesaurarius, war zu hören, dessen Aufgabe es war, zur Nacht die Türen und hölzernen Läden zu schließen und alle Kerzen, Fackeln und Talglichter zu löschen.

Von ferne drangen schwache Geräusche vom Marktplatz herüber, der jetzt, kurz vor Michaeli, auch nachts mit Mensch und Vieh überfüllt war. Irgendwo in der Stephansgasse miaute ein Kater laut seine Ballade an die Auserkorene, und von der rückwärtigen Seite des Doms – vom Friedhof der Taufkirche St. Johannes – konnte man das Kichern einer Hure und gedämpftes Grölen hören. Gegen das strikte Verbot der Kirche und sehr zum Verdruss des Burggrafen von Worms pflegte sich dort nachts das zwielichtige Gesindel der Stadt zu treffen – Trunkenbolde, Spieler, Dirnen, Bettler und Beutelschneider und andere üble Gesellen, die im Schutz der Kirchhofsmauer ihren lasterhaften Geschäften und Vergnügungen nachgingen.

Schabende Geräusche von groben Holzsohlen auf Stein kamen von der Friedhofsmauer, und die Katze stellte die Ohren auf. Meist kletterte das Lumpenpack auf der anderen Seite, zur Andreasgasse hin, über die Friedhofsmauer; zum einen, weil sie dort niedriger war, zum anderen, weil der pflichtvergessene Gehilfe von Pater Emeram auch manchmal versäumte, die Pforte abzuschließen. Jetzt aber kletterte jemand ungeschickt über den Teil der Mauer, die den Kirchhof zur Ostseite hin abgrenzte, und fluchte dabei wie ein Ochsentreiber.

»Gottverdammeusch«, nuschelte die schwerzüngige Stimme. »Ich werdscheuchschonnochzeign. Gottverfluchtesch Pack, elendigesch.« Ein Geruch von Gerbstoffen, Schweiß und Fusel, Urin und fauligem Fleisch eilte Schnorr, dem Gerber, voraus, und seine Ausdünstungen verdrängten den erdigen Duft der Herbstblätter.

Es war nicht das erste Mal, dass Schnorr nach einem nächtlichen Gelage auf dem Friedhof die Richtung verfehlte und über den Pfalzhof nach Hause wankte. Ärgerlich vor sich hin brabbelnd, torkelte der Gerber unter Penelopes Sims vorbei und schwankte dann im Zickzackkurs hinter die Quartiere der Hörigen. Schnorrs trunkener Monolog ging jäh in Würgen und leises Grunzen über. Es ertönten noch ein paar halb erstickte Schnarchlaute, dann war es still. Penelope, offenbar wieder beruhigt, begann sich zu putzen. Ihre kleine rosa Zunge fuhr eifrig über ihr Fell, und mit der Akribie eines Miniaturenmalers nagte sie mit ihren spitzen Zähnen die Krallen ihrer Pfoten sauber. Bis sie erneut gestört wurde. Vorsichtige Schritte kamen aus der Diebsgasse in ihre Richtung. Eine dunkel verhüllte Gestalt schlich an den Ställen vorbei, huschte unter dem Fenstervorsprung der Katze zum Ostchor und verschwand dort hinter einem Pfeiler. Penelope reckte den Kopf über das Sims. Eine Weile lauschte die Katze mit angespanntem Körper, dann schien sie sich davon überzeugt zu haben, dass von der Gestalt keine Gefahr für sie drohte. Sie rollte sich ein und schloss die Augen.

Nicht lange danach verließ ein hochgewachsener Mann die gegenüberliegende Stephanskapelle und spazierte über den Platz. Er trug das knielange Obergewand eines hochgestellten Geistlichen – eine rote, mit prächtigen Goldstickereien verzierte Dalmatika – über seiner weißen, bodenlangen Albe und hielt eine Laterne in seiner Rechten. Seiner Anwesenheit auf dem Pfalzhof zollte Penelope nur mehr ein kurzes Blinzeln.

Seit Adalbert, der Erzbischof von Bremen und Hamburg, vor ein paar Tagen zusammen mit dem König und dessen Gefolge in Worms eingetroffen war, hatte er sich stets nach der Matutin noch einmal kurz die Beine vertreten, bevor er seine Kammer in der Bischofspfalz aufsuchte.

Unter einem Baum in der Nähe vom Sims der Katze blieb Adalbert stehen, nestelte an seinen Gewändern und schlug sein Wasser ab.

Dann ging alles blitzschnell.

Kaum hatte der Erzbischof seine Robe wieder in Ordnung gebracht, als die kapuzenverhüllte Gestalt hinter dem Ostchor hervorstürzte und sich auf ihn warf. Eine Dolchspitze glänzte vor Adalberts Gesicht, und er kreischte lauthals um Hilfe. Penelope fauchte, sprang mit gesträubtem Fell vom Fenstersims und brachte sich in einem Gebüsch in Sicherheit. Irgendwo hinter den Quartieren der Hörigen waren ein schlaftrunkenes Stöhnen und dann verwischte Schritte zu hören, während Adalbert von Bremen auf dem Pfalzhof keuchend um sein Leben rang. Es gelang ihm, der vermummten Gestalt den Dolch aus der Hand zu schlagen, und seine Dalmatika zerriss, als er versuchte, sich aus dem Griff der anderen Hand zu befreien. Schließlich bekam der Angreifer Adalberts Lampe zu fassen, holte damit aus und schlug das schwere Gehäuse mit aller Kraft gegen den unbedeckten Kopf des Erzbischofs. Adalbert röchelte, verdrehte die Augen und fiel wie ein Stein zu Boden.

Sein Geschrei hatte Leben in die umliegenden Häuser gebracht. Rufe wurden laut, und verängstigte Gesichter zeigten sich hinter halbgeöffneten Türen und Verschlägen. Der Angreifer ließ die Laterne fallen, griff nach seiner Kapuze, um sie vor seinem Gesicht festzuhalten, und rannte wie der Teufel in Richtung Hohlgasse davon. Auch Penelope suchte das Weite und verschwand im Schatten der Bäume.

Nach und nach bevölkerte sich der Pfalzhof beim Ostchor mit Neugierigen, die den reglos am Boden liegenden Erzbischof händeringend und ratlos umstanden.

»Man muss den Kämmerer rufen«, sagte einer der Knechte schließlich.

»Schickt nach dem Burggrafen«, meinte ein anderer.

Sie taten beides.

Die kleine Schar, die um den Erzbischof Maulaffen feilhielt, spekulierte bereits flüsternd darüber, ob der Kirchenfürst mit allem Pomp und Prunk in ihrem Dom beigesetzt oder ob er nach Bremen geschafft werden würde, wo man von den Reliquien, die seine Gebeine zweifellos hergaben, so gar nichts haben würde, als der Burggraf von Worms eintraf.

Mit einer Fackel in der einen, dem gezückten Schwert in der anderen Hand und vier bewaffneten Dienstleuten im Schlepptau kam Bandolf von Leyen über den Pfalzhof gestapft und verschaffte sich mit lauter Stimme Platz.

»Auseinander, Leute! Was gibt es da zu gaffen? Schafft euch fort!«

An seinen finster zusammengezogenen Brauen, den vorgeschobenen Lippen und dem zerknitterten Obergewand, das unordentlich über seinem Gürtel hing, konnte man unschwer erkennen, dass man ihn mitten aus dem Schlaf gezerrt hatte.

»Gottverflucht, was für ein Schlamassel«, entfuhr es ihm, als er erkannte, wer da niedergestreckt auf dem Boden lag.

Für einen so großen und stämmigen Mann unerwartet geschmeidig, kniete Bandolf sich auf den Boden und beugte sein breites, bärtiges Gesicht über Adalbert von Bremen. Die Augen des Erzbischofs waren geschlossen, und auf seiner bleichen Stirn klaffte eine faustgroße Wunde. Reichlich Blut war geflossen, beschmutzte seine kostbare Dalmatika und nistete in seinem weißen Haar, wo es bereits trocknete. Ein handtellergroßes Loch verunzierte das Gewand, und eine mit Blut beschmierte Laterne lag neben Adalberts Körper im niedergedrückten Gras.

»Was ist hier passiert?«, fragte Bandolf scharf.

»Der Teufel hat den Erzbischof des Königs geholt«, raunte einer der umstehenden Knechte.

»Dummkopf. Ich will wissen, was ...«

Bandolf unterbrach sich, denn nun kam auch Pothinus, der Kämmerer des Domstifts, mit gewichtiger Miene auf den Platz gerauscht. Wie immer umschwebte ein penetranter Geruch nach Weihrauch seine füllige Gestalt, als würde er sein Habit darin baden. Er nahm die Anwesenheit des Burggrafen mit einem verärgerten Blick zur Kenntnis und hob pikiert die Brauen.

»Was hat der Aufruhr hier zu bedeuten?«, wollte er wissen.

Dann erst sah er Adalbert von Bremen leblos auf dem Boden liegen.

»Allmächtiger!« Bevor Bandolf ihn noch zurückhalten konnte, hatte Pothinus auch schon nach einer Trage geschickt, um die Leiche des Erzbischofs in die Stephanskapelle zu bringen.

»An Eurer Stelle hätte ich es nicht so eilig damit, das Ableben Seiner Eminenz zu verkünden«, bemerkte Bandolf trocken.

»Wie meint Ihr das?« Pothinus starrte den Burggrafen mit schlecht verhohlener Abneigung an. »Und was habt Ihr hier eigentlich zu schaffen?«

»Ein paar übereifrige Narren hämmerten an mein Tor, machten einen fürchterlichen Lärm und schrien, es hätte auf dem Pfalzhof Mord und Totschlag gegeben. Aber was ich eigentlich sagen wollte ...«

Der Kämmerer unterbrach ihn. »Der Erzbischof ist offenbar gestrauchelt und unglücklich auf seine Laterne gefallen. Ein tödlicher Unfall. Äußerst tragisch. Ich werde umgehend Bischof Adalbero davon in Kenntnis setzen«, erklärte er spitz. »Wie Ihr also selbst seht, Burggraf, hat es keinen Mord gegeben, und Eure Anwesenheit ist hier nicht länger vonnöten.«

Bandolf schenkte dem Kämmerer ein sparsames Lächeln.

»Ihr habt Recht. Es hat hier keinen Mord gegeben«, gab er zu. Mit der flachen Hand klopfte er auf Adalberts Wangen. »Seine Eminenz atmet ja noch.«

»Was?« Pothinus’ Stimme überschlug sich. »Das kann doch nicht sein?«

Er drängte den Burggrafen umstandslos beiseite und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf das aschgraue Gesicht des Erzbischofs. Bandolf erhob sich und zuckte mit den Schultern.

»Ich habe schon öfter Leichen gesehen, als Ihr gebeichtet habt«, meinte er, »und das ist keine.«

Pothinus ignorierte ihn, und der Burggraf beobachtete amüsiert, wie es hinter der Stirn des Kämmerers augenscheinlich zu arbeiten begann und er eifrige Tätigkeit entfaltete.

»Holt mir auf der Stelle den Bruder Apotheker hierher«, rief er, während er nun seinerseits umständlich Adalberts Wangen tätschelte. »Und du da« – unvermittelt packte er einen der gaffenden Hörigen am Kittel, der erschrocken zurückwich –, »du läufst hinüber in die Pfalz und weckst den Vogt des Bischofs«, raunte er ihm zu. »Aber dass du mir ja keinen Krach schlägst, hörst du? Ich werde dem Bischof selbst Bericht erstatten.«

Mit Interesse registrierte der Burggraf, dass von einem Bericht an den König über das Unglück, das seinem engsten Berater widerfahren war, nicht die Rede war.

Endlich schienen Pothinus’ hektische Bemühungen um den Bewusstlosen Erfolg zu haben. Die Lider des Erzbischofs flatterten. Er röchelte und schlug die Augen auf. Offenkundig verwirrt blickte er in die Gesichter, die ihn umringten und auf ihn herabstarrten. Schließlich blieb sein Blick auf dem dunklen Bart des Burggrafen haften, und er murmelte etwas Unverständliches.

»Eminenz«, säuselte der Kämmerer und schob sein rundes Gesicht mit der spitzen Nase in Adalberts Blickfeld. »Welch ein Glück, dass Ihr wohlauf seid.«

»Was ist passiert?«, krächzte Adalbert von Bremen und versuchte sich aufzurichten.

»Ihr müsst liegen bleiben«, beschwor ihn Pothinus. »Gleich kommt eine Trage. Dann werden wir Euch in Eure Kammer schaffen, wo Ihr Euch ausruhen könnt.«

»Man hat mich überfallen«, flüsterte der Erzbischof von Bremen so erstaunt, als könne er seine Worte selbst nicht glauben.

»Sprecht jetzt nicht«, bemühte sich Pothinus zu beschwichtigen. »Ihr braucht Ruhe und müsst still liegen. Der Bruder Apotheker wird gleich hier sein.«

»Konntet Ihr Euren Angreifer erkennen, Eminenz?«, fragte der Burggraf.

»Herr im Himmel«, zischte Pothinus gereizt. »Lasst doch jetzt die Fragerei. Seht Ihr nicht, wie übel Seine Eminenz zugerichtet ist? Er braucht Muße und Pflege. Und wenn ich Euch daran erinnern darf: Ihr steht hier auf dem Gebiet des Bischofs.«

Der Burggraf zuckte mit den Schultern, doch Adalbert von Bremen hob abwehrend die Hand. Seine Größe war durch seine liegende Position schwer zu bestimmen, doch Bandolf kannte ihn vom Sehen und wusste, dass er hochgewachsen war und trotz seines Alters eine straffe Haltung besaß. In seinem Gesicht spiegelten sich eine wache Intelligenz und eine glatte Würde, die über seinen Eigendünkel und seinen maßlosen Ehrgeiz hinwegtäuschten. Er ignorierte die Bemühungen des Kämmerers und schaute den Burggrafen abwägend an.

»Kenne ich Euch nicht?«, fragte er.

»Ich bin Bandolf von Leyen, Eminenz, Burggraf der Stadt Worms. Ihr wart in der Großen Halle, als der König mich vor ein paar Tagen in meinem Amt bestätigt hat.«

»Ja, ich erinnere mich.« Der Erzbischof seufzte. »Der Mann, der mich angegriffen hat, trug einen dunklen Mantel. Sein Gesicht konnte ich aber leider nicht erkennen. Er hatte es mit einer Kapuze verhüllt.« Mit einem Anflug von Zorn fügte er hinzu: »Er hat mich hinterrücks überfallen. Er packte meine Lampe und schlug sie mir auf den Kopf, und daraufhin verlor ich wohl das Bewusstsein.«

»Hatte er denn keine Waffe bei sich?«, fragte Bandolf erstaunt.

Adalbert runzelte die Stirn.

»Doch, ja. Er hatte etwas in der Hand. Ich glaube, es war ein Dolch.«

Er stöhnte und fasste sich an den Kopf. Pothinus warf dem Burggrafen einen empörten Blick zu, aber bevor Bandolf weiterfragen konnte, sorgte die Ankunft von Bruder Anselm, dem Apotheker, für Ablenkung. Auch die Männer, die der Kämmerer um eine Trage geschickt hatte, kehrten mit einer Leichenbahre zurück. Bandolf und Pothinus traten beiseite, und während der Burggraf seine Dienstleute nach Hause schickte, sah er, wie Pothinus sich bückte und etwas vom Boden aufhob. Der Kämmerer schob den Gegenstand in seinen weiten Ärmel, und Bandolf fragte sich müßig, was es gewesen sein mochte. Inzwischen protestierte Adalbert von Bremen so heftig wie vergeblich dagegen, dass man ihn auf der Leichenbahre zur Pfalz hinübertragen wollte.

»Wenn ich tot bin, könnt ihr mich auf einer Leichenbahre davonkarren, aber noch lebe ich«, rief er schwach.

»Aber Ihr müsst Euch niederlegen«, beschwor ihn Bruder Anselm, »Eure Körpersäfte sind durcheinandergeraten, und bis ich Euch zur Ader lassen kann, müsst Ihr Euch ruhig verhalten.«

Schließlich fügte sich der Kirchenfürst. Unter viel Aufhebens wurde er auf die Bahre gehievt und im Gefolge des Bruders Apotheker und seines Gehilfen zur Bischofspfalz hinübergetragen. Langsam löste sich auch die Versammlung der Gaffer auf, und Bandolf, der der Trage mit Adalbert hinterhersah, zitierte leise: »Wund aber flüchtete gleich der Hirsch zur vertrauten Behausung.«

»Was wollt Ihr damit sagen?«, fragte Pothinus misstrauisch.

Der Burggraf lächelte. »Nichts, Kämmerer, gar nichts.«

Pothinus schickte sich an, der Prozession zu folgen, doch Bandolf hielt ihn zurück.

»Was habt Ihr denn vorhin im Gras gefunden?«

Pothinus runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, was Ihr meint.«

»Ihr habt doch etwas vom Boden aufgehoben und in Euren Ärmel gesteckt?«, beharrte Bandolf.

»Ach das?« Der Kämmerer rang sich ein Lächeln ab und streckte seine Hand vor. An seinem Mittelfinger steckte ein silberner Ring mit einem polierten Amethysten. »Der Ring ist mir vom Finger geglitten, und ich habe ihn aufgehoben.« Er zuckte mit den Schultern. »Das ist alles.«

»Ein Glück, dass er Euch nicht verlorenging«, meinte Bandolf mit schmalen Augen.

»Ja, ein Glück«, bestätigte der Kämmerer und starrte den Burggrafen eisig an. Dann machte er sich eilig davon, um den Einzug des Erzbischofs in die Pfalz nicht zu verpassen.

Bandolf sah sich noch einmal auf dem Platz um, der sich allmählich leerte. Breitbeinig stand er vor dem niedergedrückten Gras, wo Adalbert von Bremen gelegen hatte, und biss sich auf die Lippen. Er hatte deutlich gesehen, dass Pothinus etwas in seinen Ärmel geschoben hatte. Wieso hatte der Kämmerer gelogen? Schließlich zuckte er mit den Schultern und wandte sich zum Gehen.

Bandolf war tief in Gedanken versunken, als er die Hohlgasse zum Marktplatz hinunterstapfte. In den Häusern der Eigenleute des Bischofs war am Vortag geschlachtet worden, es roch nach rohem Fleisch, Pökelsalz und Gedärm. Schafsund Rinderblut mischte sich mit Urin und Fäkalien, die in schmalen Bächen die Gasse hinabflossen, um sich dann auf dem flacher gelegenen Marktplatz in schlierigen Pfützen zu sammeln. Schlachttage waren Festtage für die Ratten von Worms, und Bandolf fluchte laut, als ein knopfäugiger, fetter Nager über seine Stiefel huschte.

Unter dem hölzernen Marktkreuz, das am vergangenen Tag bei der Hofgasse errichtet worden war, blieb der Burggraf stehen und warf gewohnheitsmäßig ein scharfes Auge über den Marktplatz. Er wollte sehen, ob alles seine Ordnung hatte. Trotz der späten Stunde herrschte hier noch Unruhe, denn zu Michaeli in zwei Tagen war Jahrmarkt in Worms. Das Ereignis hatte fahrende Händler und Kaufleute von weither angelockt, die mit ihren schwer beladenen Karren draußen vor den Toren der Stadt lagerten. Seit Tagen waren Leute des Bischofs schon damit beschäftigt, Buden und Stände auf dem Markt und in den umliegenden Gassen aufzubauen. Bauern und Hörige von den Höfen und Klöstern der Umgebung, die ihre Marktgebühr bereits entrichtet hatten, schliefen zwischen den Ständen bei ihren Hühnerverschlägen, Gemüsekarren, Säcken, Gehegen und Fässern. In ganz Worms waren die Gastunterkünfte der Stifte und die Böden der Schankstuben restlos belegt, und gewiefte Bürger hatten jeden freien Platz in ihren Ställen und Scheunen teuer an Unterkunftsuchende vermietet. Hie und da flackerte noch ein Feuer zwischen eigens dafür aufgeschichteten Steinen, und aus jeder Ecke schnarchte, grunzte, blökte oder gackerte es. Bandolf hörte jedoch nichts, was verdächtig gewesen wäre. Er nickte zufrieden und war im Begriff, den Platz zu überqueren, als er unversehens über ein Bündel stolperte.

»Hundsfott, dämlicher!« Ein verschlafener Bauer kam fluchend auf die Beine, fuchtelte mit einem Knüppel herum und spuckte dem Störenfried auf die Schuhe. Dann erst bemerkte er das gute Leder dieser Stiefel, und ihm schwante Übles. Seine trüben Augen glitten an Bandolfs stämmigen Beinen hoch, über den bestickten Saum des knielangen Gewandes bis zu dem breiten Schwert, das an einem silberbeschlagenen Gürtel hing. Schließlich blieb sein Blick knapp unterhalb der zornigen, winterblauen Augen des Burggrafen hängen, und er versuchte lahm, den Knüppel hinter seinem Rücken verschwinden zu lassen.

»Gib das her, du Trottel!« Bandolf riss ihm den Knüppel aus der Hand, packte das Ohr des Missetäters mit seiner kräftigen Pranke und drückte zu.

»Das ist für den *Hundsfott‹ und deinen faulen Rotz auf meinen Stiefeln«, knurrte er erbost.

Der Bauer jammerte zum Steinerweichen, und Bandolf ließ ihn los.

»Was glaubst du, was du hier machst? Waffen jeder Art sind unter dem Marktkreuz verboten«, sagte der Burggraf, während sein Blick über den mager bestückten Karren des Mannes glitt.

»Ich hab’s doch nicht so gemeint, Herr.« Der Bauer zupfte an seinem schlaffen Kittel und rieb sich sein misshandeltes Ohr.

»Wie ist dein Name?«

»Ich heiße Boso, Herr. Ich komme aus Roxheim mit einer Fuhre Dinkel für den Markt.«

»Ein freier Bauer?«

Eingeschüchtert nickte der Mann. Bandolf unterdrückte ein Seufzen, dann stellte er sich breitbeinig auf. »Du hast den Marktfrieden gebrochen und hast eine Waffe gegen den Burggrafen von Worms gerichtet.« Der Bauer sackte vollends in sich zusammen, doch Bandolf fuhr unbeirrt fort: »Nach dem Gesetz des Königs und dem des Bischofs verurteile ich dich zu einer Buße von ...« – noch einmal schaute er auf die spärliche Ware des Bauern – »... von einem Pfennig.« Geflissentlich überhörte er das erleichterte Aufatmen des Mannes.

»Ich schicke morgen meinen Schreiber bei dir vorbei. Und in der Hölle sollst du braten, wenn du dann nicht hier bist.« Drohend starrte er den Bauern an.

»Ja, Herr. Danke, Herr. Gott segne Euch und Euer Vieh und Euer Weib und Eure ...«

»Spar dir die Worte«, schnitt Bandolf ihm unwirsch das Wort ab und schüttelte den Kopf.

Eigentlich hätte er den Bauern in Haft nehmen und morgen vor das Marktgericht schleppen müssen. Aber die Buße, die Boso dann für sein Vergehen hätte berappen müssen, wäre dreimal so hoch gewesen, und Bandolf bezweifelte, dass der Mann so viel hätte aufbringen können. Den freien Bauern ging es schlecht genug, denn der Wettstreit mit den Feudalherren war groß. Herzöge und Grafen, Bischöfe und Äbte hatten längst das meiste gute Land an sich gerissen, mitsamt den Bauern, die es bearbeiteten. Kriege, Missernten, Hungersnöte und die immer wieder wie die Geißel Gottes auftauchende Pest taten ein Übriges, sodass viele freie Bauern ihr Land, ihre Habe und ihre Freiheit einem Herrn übereignet hatten, weil ihr karges Land sie nicht mehr ernährte.

Bandolf ließ den Bauern stehen und setzte seinen Weg quer über den Marktplatz fort. Ein dumpfes Stöhnen vom Schandpfahl am anderen Ende des Platzes, leises Gezänk und Schnarchlaute begleiteten ihn, bis er in die Hachgengasse einbog. Bald darauf stand der Burggraf in der Münzergasse hinter dem Mehlhaus vor seinem Heim. Egin, sein Höriger, der die Pforte der Mauer um Bandolfs Anwesen bewachen sollte, kauerte vor dem Tor und schnarchte mit offenem Mund. Sein Atem stank durchdringend nach schalem Bier.

»Egin«, brüllte Bandolf und stieß ihn mit seinem Stiefel kräftig in die Seite. Der Hörige kam schwankend auf die Beine und starrte seinen erbosten Herrn benommen an.

»Du stinkst wie zehn Schankstuben zusammen. Und wo, zum Teufel, bist du vorhin gewesen, als die Leute des Bischofs mir die Tür einrannten?«

Egin setzte zu einer lahmen Erklärung an, doch der Burggraf ließ ihn nicht weiter zu Wort kommen. »Wenn ich dir anschaffe, das Tor zu hüten, dann hast du deinen Hintern hier nicht wegzurühren. Und wenn ich dich noch einmal erwische, wie du vor dich hin schnarchst, verkaufe ich dich nach Lorsch. Und glaub mir, die Klosterbrüder sind nicht so nachsichtig wie ich.«

Eilig öffnete Egin die Pforte. »Es geht auf Michaeli zu, Herr. Da ist es kalt nachts. Man muss sich doch irgendwie warm halten«, nuschelte er undeutlich.

Der Burggraf schenkte ihm noch einen letzten, drohenden Blick, warf dann das Tor hinter sich zu und durchquerte den überwölbten Eingang zum Hof. Für einen Augenblick blieb er stehen, kniff prüfend die Augen zusammen und lauschte. Friedliche Stille lag über seinem Haus, dem Stall und der Scheune. Bandolf nickte zufrieden. Als er über den Hof ging, entdeckte er Penelope, die mit eingerolltem Schwanz auf der kniehohen Gartenmauer hockte. Aus ihren bernsteinfarbenen Augen schaute sie ihm aufmerksam entgegen. Der Burggraf beugte sich zu ihr hinunter, strich über ihr glattes Fell und kraulte sie zwischen den Ohren.

»Nun, meine Schöne – hattest du eine erfolgreiche Jagd? «

Penelope erwiderte seine Zärtlichkeiten mit einem behaglichen Schnurren und rieb ihren Kopf an seinem Bein. Dass Bandolf der grauen Katze einen Namen gegeben hatte und Gespräche mit ihr führte, war für Matthäa, seine Frau, ein ständiger Quell der Belustigung.

»Bist du heute Nacht auf dem Pfalzhof gewesen?«, fragte er. »Hast du gesehen, wer den Erzbischof überfallen hat?«

Er knetete ihre weichen Ohren, und Penelope gurrte ekstatisch. Nicht zum ersten Mal wünschte sich Bandolf, Gott hätte der Katze eine Stimme verliehen. Würde Penelope sprechen können, wie einst Odins Raben, die für ihren gewaltigen Herrn die Welt ausgeforscht hatten, würde ihm das seine Arbeit beträchtlich erleichtern. Bevor er ins Haus ging, sah er noch, wie Penelope auf den vorgewölbten Torbogen sprang und dort von der Dunkelheit verschluckt wurde.

Außer den nächtlichen Geräuschen seiner Hauseigenen, die in der Halle schliefen, war das Haus still. Der Burggraf bahnte sich einen Weg zwischen den Schlafenden zum Kamin und entzündete einen Kienspan in der noch schwelenden Glut. Im spärlichen Licht der kleinen Flamme stieg er die Treppe hoch und öffnete vorsichtig die Tür zur Schlafkammer, um seine Frau nicht zu wecken. Kaum hatte er die Kammer betreten, knirschten die Holzbohlen unter seinem Gewicht protestierend, und Matthäa bewegte sich. Bandolf hielt die Flamme an den Docht einer Talglampe neben der Bettstatt. Als das Talglicht brannte, löschte er den Kienspan sorgsam in einem mit Sand gefüllten Tongefäß und begann sich auszuziehen.

Matthäa drehte sich zu ihm um. Ihr prachtvolles, rotblondes Haar war zerzaust, und sie blinzelte ihn schläfrig an. Bandolfs Gemahlin war keine jener zarten Schönheiten, wie sie die Mönche gerne als Vorbild für ihre Darstellungen der Heiligen Frauen nahmen; aber Bandolf hatte sich in ihre rundlichen Formen und in ihr reizvolles Gesicht mit der kleinen Nase und den großen dunklen Augen vernarrt. Der Wärme wegen, die diese Augen ausstrahlten, hatte er einst um sie geworben.

»Ihr seid schon wieder zurück?«, fragte sie und setzte sich auf. Ihre Miene schien ihm ein wenig bedrückt zu sein, doch sie lächelte ihn an, und Bandolf dachte, dass das unstet flackernde Licht der Lampe ihn getäuscht hatte.

»Hmm.«

»Was ist denn passiert?«

»Adalbert von Bremen ist auf dem Pfalzhof überfallen worden«, antwortete Bandolf, warf seine Beinlinge über das Obergewand auf die Truhe und nestelte an den Bändern seines weißen Leinenhemdes,

»Der Erzbischof?«

»Hmm.«

»Allmächtiger«, entfuhr es Matthäa. »Ihm ist doch nichts geschehen?«

Bandolf schüttelte den Kopf, kratzte sein bärtiges Kinn und gähnte, während er den Holzverschlag des kleinen Fensters einen Spalt breit öffnete. Matthäa sah ihm stirnrunzelnd zu.

»Schließt mir nur den Laden wieder zu. Wer weiß, was des Nachts hereinkommt«, schalt sie auch gleich. »Ich will nicht, dass wir morgen alle siech sind. Oder Schlimmeres.«

»Unsinn«, brummte der Burggraf ignorant. Er legte noch seinen Schurz ab und kroch dann nackt, wie Gott ihn erschaffen hatte, zu seiner Frau unter Laken und Fell. Wohlig streckte er sich aus. Matthäa schaute zu, wie ihr Gatte die Augen schloss, ohne ihre Neugier befriedigt zu haben. Spielerisch zupfte sie an seinem Bart. »Was war denn nun? Ist der Erzbischof verletzt? Habt Ihr den Täter gefasst?«, schmeichelte sie.

»Hmm.«

Matthäa versetzte ihrem Gatten einen Schubs und zog ihre Hand zurück. »So lasst Euch doch nicht jeden Wurm aus der Nase ziehen«, rief sie ärgerlich. »Wenn Ihr mir nicht auf der Stelle erzählt, was passiert ist, spreche ich kein Wort mehr mit Euch.«

»Ein Segen«, entschlüpfte es Bandolf, er setzte sich dann aber doch gehorsam auf. Auch wenn die Priester lehrten, die Frau sei dem Manne untertan, so hatten ihm doch über zehn Ehejahre gezeigt, dass es besser für ihn war, ihr in manchen Dingen nachzugeben.

»Ich habe keine Ahnung, wer der Angreifer war«, sagte er. »Als ich auf dem Pfalzhof eingetroffen bin, ist schon alles vorbei gewesen. Tatsache ist: Der Erzbischof ist niedergeschlagen worden. Offenbar hat er mit dem Mann gerungen, aber er sagt, er hätte sein Gesicht nicht gesehen.« Der Burggraf grinste breit. »Wer immer es gewesen ist, er hat Adalbert eine Laterne über den Schädel gezogen, und morgen wird er höllische Kopfschmerzen haben. Aber als ich ihn verließ, war er schon wieder recht munter.«

»So eine Unverfrorenheit«, empörte sich Matthäa. »Was glaubt Ihr, wer könnte es gewesen sein? Ein Dieb?«

Bandolf zuckte mit den Schultern. »Ich finde es schwer vorstellbar, dass sich ein kleiner Dieb am engsten Vertrauten des Königs vergriffen hätte.«

»Vielleicht wusste der Dieb ja nicht, wen er vor sich hat«, bemerkte Matthäa. Sie kuschelte sich zufrieden an ihren Gatten. Bandolf legte einen Arm um sie und strich abwesend über ihr dichtes Haar.

»Adalbert trug seine Robe«, meinte er. »Und außerdem hat er sein Gesicht oft genug in der Stadt gezeigt, seit der Hof in Worms ist. Jedes Streunerkind würde ihn erkennen.«

»Wollt Ihr damit sagen, jemand hätte den Erzbischof absichtlich überfallen? Jemand wollte ihm ans Leben?«, hauchte Matthäa. Ihre Wangen hatten an Farbe verloren, und sie bekreuzigte sich. Wer würde es wagen, sich an einem Fürsten der Kirche zu vergreifen? Musste das nicht schreckliche Höllenqualen im Jenseits nach sich ziehen?

»Wäre wohl möglich«, nickte Bandolf. Aus dem Augenwinkel sah er einen schmalen Schatten durch den Fensterverschlag schlüpfen und hinter die Truhe huschen. Er lächelte und rutschte tiefer in die Laken.

»Zum Glück ist es nicht an mir, das herauszufinden«, meinte er und gähnte wieder.

»Ich dachte, das wäre Eure Aufgabe als Burggraf?« Matthäa ließ sich anstecken und gähnte ebenfalls.

»Pothinus hat sich aufgebläht wie ein Gockel, als ich Fragen stellte, und hat mich daran erinnert, dass der Dom sein Misthaufen ist, auf dem ich nichts zu kratzen hätte«, brummte Bandolf.

Matthäa nickte. Es war nicht das erste Mal, dass ihr Mann und der Kämmerer des Bischofs aneinandergerieten. Die Kirche von Worms war mit großen Gebieten der Stadt belehnt worden, und in diesen Bezirken galt das Recht der Kirche, das Pothinus als Kämmerer des Bischofs vertrat. Gleichzeitig war Worms jedoch auch die Burg des Königs, und die Bürger der Stadt genossen königliches Recht, das der Burggraf als Beamter des Königs ausübte.

Matthäa, nun auch wieder müde geworden, griff nach dem Talglicht. Als sie die Flamme ausblasen wollte, gerieten zwei bernsteingelbe Augen in ihr Blickfeld, und sie sah Penelope eingerollt auf Bandolfs Beinlingen liegen. »Diese freche Katze hat sich schon wieder hier hereingeschlichen«, rief sie ärgerlich und schlug die Laken zurück, um das lästige Tier zu entfernen.

Bandolf hielt sie zurück. »Löscht das Licht, und lasst es gut sein für heute Nacht«, sagte er. »Was kann sie schon anrichten?«

Matthäa schüttelte den Kopf über seine Unvernunft, murrte etwas von zerrupften Gewändern und von Katzen, die ihr nachts den Atem stehlen würden, gab dann aber doch nach und blies die Lampe aus. Halbherzig schwor sie sich, dass es das allerletzte Mal gewesen war, dass sie die Katze in ihrer Schlafkammer duldete.

Die Verschwörung der Fürsten

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