Читать книгу Die Verschwörung der Fürsten - Susanne Eder - Страница 9
Kapitel 4
ОглавлениеAls der Burggraf durch die Brotpforte hinaus aufs Land ritt, hatte sich bereits eine kleine Gruppe von Bauern der Umgebung vor dem Tor versammelt, die jeden Tag bei Sonnenaufgang, wenn die Pforten geöffnet wurden, in die Stadt drängten, um Eier, Kohl, Rüben und andere Feldfrüchte anzubieten. Bandolf, der es kaum erwarten konnte, die Quacksalberin, die sein häusliches Wohl bedrohte, in die Finger zu bekommen, preschte ungeduldig durch die wartende Menge hindurch, sodass die Bauersleute auseinanderstoben und ihm wütende Flüche hinterherriefen.
Als er sein Pferd in Richtung Südosten auf dem Weg nach Roxheim durch den Wald lenkte, der Worms von den sumpfigen Auen des Rheins trennte, begann sein Zorn langsam zu verrauchen. Zurück blieb die Furcht, die ihn jäh bei der Vorstellung überfallen hatte, dass seine Frau sich den quacksalbernden Händen einer Kräuterdrude ausgeliefert hatte. In seiner Jugend hatte er grausige Bekanntschaft mit einer solchen Vettel gemacht. Das entsetzliche Sterben ihres Opfers stand noch immer deutlich vor seinen Augen, und er schauderte bei der Vorstellung, was der Trank, den sein Weib zu sich genommen hatte, anrichten mochte.
Ich hätte sie prügeln sollen, dachte er verdrossen und schalt sich einen weichherzigen Narren. Unwillkürlich gab er seinem Braunen die Sporen.
Wie Hildrun es beschrieben hatte, fand der Burggraf die Hütte der Kräuterdrude auf einer sanften Anhöhe inmitten einer Waldlichtung. Rauch stieg aus einer Öffnung im Dach auf. Die Kräuterdrude war also zuhause. Bandolf saß in einiger Entfernung ab und band sein Pferd an einen Baum. Dann stürmte er mit grimmigem Gesicht den Pfad hinauf zur Hütte und riss die niedrige Holztür so heftig auf, dass die Angeln protestierend quietschten.
Was jedoch als gebieterischer Auftritt gedacht gewesen war, schlug fehl. Bei seinem ungestümen Eintritt stolperte der Burggraf über einen Tonkrug, ruderte wild mit den Armen, um nicht zu stürzen, und riss dabei noch eines der Kräuterbündel herunter, die vom Dachgebälk baumelten. Knapp vor der Kräuterfrau kam er endlich zum Stehen, rot im Gesicht vor Zorn und Verlegenheit.
»Willkommen, Burggraf«, sagte Garsende mit einem Lachen in der Stimme.
Auf den ersten Blick herrschte das Durcheinander in der Hütte vor. Überall standen Töpfe und Krüge in allen Größen zwischen Flechtkörben und Kästchen aus Holz, und die aufgebockte Holzplatte zwischen Bank und Schemel verschwand unter der Last von Schüsseln, Schneidbrett und Utensilien zum Hacken, Rühren und Zerstoßen. Federn eines halb gerupften Huhnes, die bei Bandolfs Eintritt aufgestoben waren, schwebten in der Luft und hefteten sich an die Kräutersträuße und Pflanzenbündel, die von der Decke hingen. Dennoch wirkte die kleine Kammer sauber, und sie roch auch nicht nach Moder und Fäulnis, wie Bandolf erwartet hatte.
»Womit kann ich Euch wohl dienlich sein?«, fragte Garsende, während sie die Scherben des Krugs aufhob, über den Bandolf gestolpert war.
Sie mochte um wenige Jahre älter sein als Matthäa, und ihre schlanke Gestalt reichte beinahe an seine heran. Braunes Haar, ordentlich zu einem langen Zopf geflochten, umrahmte ihr schmales Gesicht. Nur die großen dunklen Augen und ein schön geschwungener Mund verliehen ihren herben Zügen einen gewissen Reiz. Hätte sie nicht ein so schlichtes, an etlichen Stellen schon geflicktes Gewand getragen, so hätte sie mit ihrer gepflegten Rede sogar für eine Frau von Stand gelten können.
Bandolf, der hier die Vorhölle und die schmutzige Vettel seiner Erinnerung vorzufinden erwartet hatte, blinzelte verunsichert und klaubte seinen Zorn zusammen.
»Du kannst mir sagen, womit du mein Weib vergiftet hast«, knurrte er.
Garsende schaute auf. »Ich habe nichts dergleichen getan. Ich bin Heilerin und keine Giftmischerin«, sagte sie ärgerlich. »Die Kräuter, die ich Eurer Gattin mitgegeben habe, sind völlig harmlos.«
»Völlig harmlos, wie?«, höhnte Bandolf. »Und ehe ich mich versehe, spuckt mein Weib Schleim und Galle.«
Garsende stand auf und legte die Scherben auf den Tisch. »Das ist doch Unsinn«, beteuerte sie, doch Bandolf ließ sie nicht ausreden. »Ich werde nicht dulden, dass du hier noch länger dein Unwesen treibst. Du wirst von hier verschwinden. Und wenn ich dich noch einmal hier antreffe, dann wirst du es bereuen!«, drohte er.
»Hat sich nun plötzlich jedermann mit Rang und Namen gegen mich verschworen?«, rief sie aufgebracht.
»Was soll das heißen?«
Garsende biss sich auf die Lippen. »Ach, nichts weiter«, winkte sie ab. Entschieden fügte sie hinzu: »Die Hütte und das Waldstück, auf dem sie steht, ist mein Eigen, und dafür gibt es Schrift und Siegel. Ihr seid der Burggraf von Worms, doch außerhalb der Stadtmauer habt Ihr keine Befugnis, mich von hier zu vertreiben. Oder wollt Ihr den Landgrafen bemühen? Oder gar den Bischof?«
Bandolf setzte zu einer scharfen Erwiderung an, doch jetzt ließ sie ihn nicht zu Wort kommen. Ärgerlich fuhr sie fort: »Was ist nur los mit der Welt? Unser Handwerk war früher hoch angesehen, aber jetzt beginnt man uns scheel anzuschauen, redet schlecht gegen uns und will uns, so scheint es, allerorts vertreiben. Trüge ich einen Nonnenschleier oder wäre ich ein Mann mit Kutte und barbiertem Schädel und würde Euch ein Kraut anbieten, Ihr würdet es bedenkenlos schlucken.«
»Die Mönche und die frommen Frauen verhökern aber keine Zaubertränke, die die Menschen umbringen«, knurrte Bandolf. »Ich habe Weiber deiner Art gesehen und weiß, was sie anrichten.«
»Und wenn Ihr nun in Eurer Suppe ein paar harte Linsen findet, pickt Ihr sie dann heraus, oder schüttet Ihr gleich die ganze Suppe fort?«, konterte Garsende spitz. Sie schüttelte den Kopf und holte tief Luft. »Unter uns mag es Quacksalberinnen geben, das will ich zugeben. Aber gibt es nicht überall schwarze Schafe unter den weißen?«
Bandolf, dessen Wut langsam verebbte, brummte verdrossen etwas von Druden, die es verstanden, den Geist eines Mannes zu verwirren.
»Das sind nichts als dumme Reden«, versetzte Garsende. Ihre dunklen Augen blitzten. »Welchen Grund sollte ich denn haben, Eurer Gemahlin oder sonst jemandem Leid zuzufügen? «
»Weil du es nicht besser verstehst«, murrte Bandolf in seinen Bart, doch widerstrebend gestand er sich ein, dass in ihren Worten etwas Wahres lag.
Die Heilerin presste die Lippen aufeinander und schwieg. Einen langen Augenblick starrten sie sich an, als wollten sie aneinander Maß nehmen. Endlich senkte Garsende den Kopf und sagte: »Ich schwöre Euch bei meinem Seelenheil, dass mein Aufguss der Burggräfin nicht schadet. Der Trank wird sie des Nachts ruhiger schlafen lassen und ihren Schmerz lindern.«
Der letzte Rest von Zorn in Bandolf verpuffte augenblicklich, und er rief bestürzt: »Was redest du denn da? Matthäa ist doch nicht etwa krank?« Er hatte so fest daran geglaubt, sein Weib wäre um einen obskuren Zaubertrank hier gewesen, dass ihm ein ernstes Leiden gar nicht in den Sinn gekommen war.
Garsende schien einen Moment lang nachzudenken, dann griff sie nach einem Krug. »Setzt Euch, Burggraf«, lud sie ihn ein. »Ich werde Euch erklären, was Eurer Gemahlin fehlt.«
»Vortrefflich hast du das gemacht. Wirklich ganz famos«, schalt Garsende mit sich selbst, nachdem der Burggraf sie verlassen hatte. Anstelle ihn mit Schmeicheleien versöhnlich zu stimmen, hatte sie nichts Besseres gewusst, als ihm Widerworte zu geben und sich mit ihm anzulegen.
Es hatte ihn zwar offenkundig erleichtert, als sie ihm erklärte, seiner Frau fehle nichts weiter als ein Ungleichgewicht ihrer Körpersäfte und eine leichte Schwarzgalligkeit, die ihre Reinigung begleitete. So der Allmächtige es wollte, wäre seine Gemahlin durchaus in der Lage, ein Kind zu empfangen. Aber gänzlich schien auch das den Burggrafen nicht zu beschwichtigen.
Dabei wäre es doch so dringlich gewesen, gerade jetzt, gerade ihn, den Burggrafen von Worms, für sich einzunehmen und ihn für ihre Sache zu gewinnen. Garsende seufzte. Es fiel ihr doch sonst nicht mehr so schwer, ihre Zunge zu zügeln.
Im Kloster, als sie noch ein junges Ding gewesen war, da hatte sie sich oft den strengen Ordensregeln widersetzt und sich verstockt gegen die Schwestern aufgelehnt. Sie hatte es ihrem Vater übelgenommen, als er sich auf sein Bastardkind besann und Garsende gegen den Wunsch ihrer Mutter in einem Kloster unterbrachte. Die Schwestern hatten ihr Bestes getan und versucht, mit milden Vorhaltungen und mit dem Rohrstock ihrem Trotz beizukommen, und widerstrebend hatte sie sich schließlich eingefügt. Im Stillen aber hatte sie, blutjung und unwissend, fest daran geglaubt, dass man überall freier atmen würde als im Kloster.
Als Konrad von Rieneck über ihre Zukunft verfügte und sie vor die Wahl stellte, entweder den Schleier zu nehmen oder zu heiraten, hatte sie sich daher ohne zu zögern für die Ehe entschieden.
Aber es war nicht dazu gekommen. Bevor der Graf eine Heirat für sie arrangieren konnte, war er gestorben, und Garsende kehrte zu ihrer Mutter nach Worms zurück.
Sie lächelte belustigt.
Schnell hatte sie begriffen, dass das Leben außerhalb der Klostermauern längst nicht so unbeschwert war, wie sie es sich als junges Ding vorgestellt hatte. Nicht, dass eine Ehe sie freier gemacht hätte, doch eine unverheiratete Frau hatte es ungleich schwerer, als respektabel zu gelten.
Die kantigen Züge eines Mannes und sein humoriges Lachen, das stets einen Beiklang von Spott zu haben schien, standen plötzlich vor ihren Augen.
Der Dorn in meinem Fleisch. Der Stachel in meinem Herzen, dachte Garsende widerwillig und seufzte. Sie hatte sich nun einmal für dieses Leben entschieden und die Stelle ihrer Mutter aus freien Stücken eingenommen, als sie gestorben war. Und dazu gehörte ein untadeliger Leumund, den sie nicht durch leichtsinnige Tändeleien aufs Spiel setzen durfte. Das hatte sie Lothar deutlich gemacht und ihn seither nicht wiedergesehen. Garsende hoffte, dass er ihr auch in Zukunft fernbleiben würde, sodass ihr Entschluss nicht wieder ins Wanken geriet.
Energisch schüttelte sie den Gedanken an ihn ab. Sie hatte ganz andere Sorgen, die um vieles dringlicher waren!
Und während sie ihre unterbrochene Arbeit an den Baldrianwurzeln wieder aufnahm, überlegte sie, was zu tun sei, um der Drohung des jungen Schnösels von Rieneck zu begegnen.
Der Burggraf verließ Garsendes Hütte mit gemischten Gefühlen. Sein Gespräch mit der Heilerin war anders verlaufen, als er erwartet hatte, dennoch fiel es ihm schwer, sich von seiner Vorstellung von ihr gänzlich zu verabschieden. Ihr Handwerk flößte ihm nach wie vor Misstrauen ein, und dass sie offenbar weder Ehemann noch Vormund hatte, trug nicht zu seiner Beruhigung bei. Andererseits musste er zugeben, dass ihre verständige Art ihn nicht unbeeindruckt gelassen hatte, und ihr Bericht über Matthäas Befinden ließ ihn ein wenig hoffnungsfroher in die Zukunft schauen. Auch musste die Kräuterfrau wohl eine gewisse Bildung genossen haben, und Bandolf fragte sich, wie es kam, dass sie dennoch allein in dieser Abgeschiedenheit lebte. Er beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen, sobald er den Kopf wieder frei hätte.
Wie erwartet, empfing ihn Matthäa kühl, und auch Hildrun und Filiberta gingen ihm so weit wie möglich aus dem Weg. Sein spätes Frühstück wurde ihm in unwirtlichem Schweigen serviert. Mit Unbehagen dachte er an das Päckchen mit Kräutern in seiner Manteltasche, das die Kräuterfrau ihm für Matthäa mitgegeben hatte. Wie in aller Welt sollte er seiner Gattin Garsendes Geschenk nur überreichen, ohne sich eine Blöße zu geben? Endlich, nachdem er sich durch einen großen Humpen Bier ausreichend gestärkt fühlte, gab Bandolf seiner Gattin das Päckchen mit einem schiefen Grinsen. »Ich will Euch erlauben, die Kräuterfrau zu besuchen. Aber merkt Euch wohl, keine Heimlichkeiten mehr«, brummte er.
Matthäa senkte den Kopf, und Bandolf bemerkte mit Erleichterung, dass ein angedeutetes Lächeln ihre Mundwinkel umspielte.
»Ihr seid schon manchmal ein recht ungehobelter Klotz«, sagte sie, noch nicht ganz besänftigt, und schaute ihn unter ihren Wimpern hervor an.
»Das mag so sein«, gab er widerstrebend zu. »Aber ich habe nur Euer Wohl im Sinn, das wisst Ihr doch.« Er drückte ihr einen herzhaften Kuss auf die Wange.
»Schafft Euch fort«, rief sie lachend und stieß ihre kleinen Fäuste gegen seine Brust. »Ich habe zu tun und keine Zeit für Eure Tändelei.«
Sie wandte sich ab, und Bandolf fragte sich, wie seine Frau es anstellte, dass er sich jedes Mal fühlte, als hätte er den Kürzeren gezogen, obwohl er doch die Oberhand behalten zu haben glaubte.
Er konnte nicht lange darüber nachsinnen. Kaum hatte er sich beglückwünscht, dass die häuslichen Wogen wieder geglättet waren, als ein junger Bursche in seinen Hof gestürmt kam und aufgeregt nach ihm verlangte. Der Burggraf müsse sogleich mit ihm kommen, stieß er atemlos hervor, denn bei den Gerbgruben habe man einen Toten gefunden.
»Herrgott, wieso denn gerade ich?«, wollte Bandolf wissen und rümpfte die Nase über den Gestank nach Pfuhl und Jauche, den der Junge verströmte. »Hat der Tote denn keinen Herrn, der sich darum kümmern kann?«
»So ist das nicht«, zischelte der Bursche durch seine Zahnlücken, und in seinem pockennarbigen Gesicht mischte sich die Gier nach Spektakel mit abergläubischer Furcht. »Schnorr, der Gerber, war ein Freier, Herr.«
»Dann ist seine Familie für das Begräbnis zuständig«, erklärte Bandolf unwirsch.
»Aber sie haben Würgemale an Schnorrs Hals gefunden«, rief der Junge aufgeregt. »Und die alte Gutrun, welche Schnorrs Weib ist, hat gesagt, da müsse der Burggraf her und herausfinden, wer’s war, der den alten Schnorr um die Ecke gebracht hat.«
»Das hat mir gerade noch gefehlt«, brummte Bandolf. Er brüllte nach Prosperius, und gemeinsam mit dem Gerberjungen verließen sie das Haus.
Sie nahmen den Weg über die Zwerchgasse, bogen bei der kleinen Kapelle St. Kilian in die Cappelgasse ein, und schon dort schlug ihnen der unangenehme Geruch des Gerberviertels entgegen.
Der Burggraf, der darüber nachgrübelte, was er unternehmen sollte, um Licht in die Angelegenheit des Erzbischofs von Bremen zu bringen, hörte nur mit halbem Ohr zu, als Prosperius den Gerberjungen über den Toten ausfragte. Der magere Bursche, der sich zum ersten Mal in seinem jungen Leben im Mittelpunkt der Ereignisse sah, fand offensichtlich schnell Gefallen an seiner Rolle und spann eine abenteuerliche Lebensgeschichte um den dahingeschiedenen Gerber Schnorr. Leichter zu beeindruckende Geister als der des Burggrafen hätten bald geglaubt, dass es sich bei dem Gerber um eine hochgestellte Persönlichkeit gehandelt haben musste, der durch widrige Umstände dem Trunk verfallen und von Gott und der Welt verfolgt worden war. Als dem Jungen endlich die Fantasie ausging, kratzte sich Prosperius verblüfft am Kopf, während Bandolf in seinen Bart grinste.
Die ärmlichen Hütten der Gerber und die Gruben, in denen Felle und Häute eingeweicht wurden, lagen nahe der Mauer am äußersten Rand der Stadt. Der Gestank nach Fäulnis, scharfer, mit Wasser versetzter Lohe, Säuren und Dorschlebertran, mit denen die Felle gewalkt wurden, lag über dem Viertel wie eine Glocke.
Um eine der Gruben hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt, die aufgeregt miteinander schwatzte. Als der Burggraf mit seinem Schreiber näher kam, machten die Leute respektvoll Platz, und die Gespräche verstummten.
Vor der Grube lag die Leiche des Gerbers mit dem Gesicht nach unten. Die abgetragene Hose war trocken, doch der Kittel des Toten triefte, und sein schütteres graues Haar klebte nass an seinem Schädel. Ein durchdringender Gestank nach Fäule und Gerbstoffen stieg von der Leiche auf. Bandolf hielt sich den Ärmel vor die Nase und kniete neben dem Toten nieder.
»Hilf mir, ihn umzudrehen«, wies er Prosperius an. Sein junger Schreiber wurde blass, starrte ihn erschrocken an und wich kopfschüttelnd zurück. »Da ... da ist doch sicher Blut«, stammelte er.
Bandolf runzelte die Stirn. »Du willst mir doch nicht sagen, dass es dir vor ein bisschen Blut graust?«
Prosperius presste nur die Lippen aufeinander und schwieg.
Seufzend mühte sich Bandolf ab, den steifen Körper allein umzudrehen. Sein Schreiber würgte und hielt sich die Hand vor den Mund. Bandolf schüttelte resigniert den Kopf, doch dann entfuhr ihm ein »Bei allen Heiligen!«, und er begrub die vage Hoffnung, dass der Junge übertrieben hätte und Schnorr, der Gerber, doch eines natürlichen Todes gestorben wäre.
Das Gesicht des Toten war aufgequollen und verzerrt. Die gelbliche Haut warf Blasen und hatte rotbraune Flecken wie eine verfaulende Rübe. Die weit aufgerissenen Augen des Gerbers stierten in den Himmel, und seine Zunge hing schwärzlich verfärbt aus dem fast zahnlosen Mund. An seinem mageren Hals, der mit Blasen und Flecken übersät war, konnte man deutlich schwarzblaue Würgemale erkennen.
Bandolf holte tief Atem und warf einen strengen Blick in die Menge.
»Wer hat den Toten gefunden?«, fragte er.
»Das war ich, Herr.« Einer der Männer, ein großer Kerl mit massigen Schultern und einem Gesicht wie ein Kind, schob sich zögernd nach vorne. Er roch fast ebenso unangenehm wie die Leiche. Unsicher blieb er vor dem Burggrafen stehen und bemühte sich, nicht auf den Toten zu starren, der zu ihren Füßen lag.
»Nun?« Bandolf nickte dem Mann aufmunternd zu. »Wer bist du?«
»Sie rufen mich Brun, Herr«, gab der Mann zögerlich Auskunft. Dann verstummte er wieder, und Bandolf seufzte.
»Also schön, Brun. Und weiter?«
»Ich bin Gerbergehilfe.«
»Nun mach schon«, sagte der Burggraf ungeduldig. »Ich will wissen, was sich zugetragen hat. Wann und wie hast du den Toten gefunden?«
»Ach so.« Brun runzelte die Stirn, kratzte sein stoppeliges Kinn und schien ernsthaft über die Frage nachzudenken. Die anderen Gerber und Gehilfen, die sich im Hintergrund hielten, begannen zu flüstern und zu lachen. Der Burggraf warf einen Blick um Beistand auf Prosperius, doch sein junger Schreiber stand noch immer mit ungesunder Gesichtsfarbe abseits und kämpfte offenkundig mit einem Anfall von Übelkeit.
Bandolf unterdrückte ein Seufzen, dann donnerte er: »Ruhe!« Die Männer verstummten, und der große Gerbergehilfe begann endlich zu sprechen.
»Das war so, Herr: Ich bin heut früh der Erste bei den Gruben gewesen. Und wie ich so zu den Häuten geh«, er deutete auf eine Ansammlung von Gestängen unweit der Grube, an denen gespannte Häute in der Luft trockneten, »da seh ich jemanden über der Grube hängen. Und wie er da so hängt, denk ich, das ist Schnorr, der etwas aus der Grube herausholen will. Weil es doch seine Grube ist. Und weil er so komisch über dem Rand hängt. Doch dann merk ich, dass er sich nicht rührt, und geh rüber, um nachzusehen, was er da macht.« Hilfe suchend schaute er die anderen an, und als niemand etwas sagte, zuckte er mit den Achseln. »Ich dachte, Schnorr wäre vielleicht noch vom Suff hinüber und würde in die Grube kotzen.«
»Wär nicht das erste Mal gewesen, dass Schnorr in die Grube kotzt«, bemerkte einer der Männer, und zustimmendes Gelächter ertönte.
»Heut kotzte er aber nicht«, schloss Brun lapidar. »Tot hing er kopfüber bis zum Bauchnabel in der Brühe. Erwürgt wie ein Kaninchen.«
Der Burggraf zog nachdenklich die Brauen zusammen, während er die Kleidung des Toten abtastete. »War außer dir noch jemand da?«, fragte er. »Irgendwo bei den anderen Gruben vielleicht?«
»Ich war der Erste heut«, wiederholte Brun. »Da war sonst niemand.«
»Und ist dir vielleicht jemand entgegengekommen, als du zu den Gruben gegangen bist?«
Der große Mann schüttelte den Kopf.
»Na schön.« Bandolf warf noch einen letzten Blick auf den toten Gerber, dann stand er auf. Er trat ein paar Schritte beiseite, um die anderen Männer vom lähmenden Anblick der Leiche abzulenken. Noch einmal wandte er sich an den Gerbergehilfen. »Wann genau hast du ihn denn gefunden?«
»Na, heut in der Früh. Die Glocke von St. Magnus hatt gerade zur Laudes geschellt.«
Bandolf entließ ihn mit einem Nicken und schaute sich bei der Grube um. Dort, wo der Gerber über dem Grubenrand gelegen hatte, war der Boden fest und trocken. Ein Stapel säuberlich aufgeschichteter Häute lag vor der Grube, ebenso ein paar Werkzeuge, die zum Schaben und Schneiden gebraucht wurden, und daneben stand ein großer Wassereimer. Bandolf beugte sich über den Rand der Grube und starrte mit krauser Nase und angewidertem Gesicht in die stinkende Brühe. Als ihm die Augen von der scharfen Flüssigkeit zu tränen begannen, zog er seinen Kopf wieder zurück und hatte nichts weiter gesehen als Häute, die in der Brühe schwammen.
»Wer von euch war gestern der Letzte, der bei den Gruben war?«, fragte er die Männer, die ihn neugierig beobachteten.
»Das war ich, Herr«, meldete sich der pockennarbige Junge, der Bandolf die Nachricht von Schnorrs Tod überbracht hatte. »Ich war der Letzte. Ich ging kurz vor Sonnenuntergang. Aber da ist Schnorr schon längst nicht mehr da gewesen.«
»Bei Sonnenuntergang war Schnorr also schon fort«, stellte der Burggraf fest. »Wann ist er denn weggegangen?«
Der Junge runzelte die Stirn. »Ja, das war komisch. Zur Mittagsstunde ist er noch da gewesen, aber zur Non’ hab ich ihn nicht mehr gesehen.« Fragend schaute Bandolf in die Runde. »Hat ihn sonst jemand nach der Sext noch gesehen?« Doch die Männer schüttelten einmütig den Kopf.
»Ist es oft vorgekommen, dass Schnorr seine Arbeit schon nach dem Mittag verlassen hat?«, wollte Bandolf wissen.
Einer der Gerber bemerkte bissig: »Wir können’s uns nicht erlauben, den halben Tag auf der faulen Haut zu liegen wie die Großen. Und Schnorr schon gar nicht.« Die anderen nickten beifällig.
Bandolf ignorierte den Ausbruch von Unmut und fragte weiter: »Hat er jemandem gesagt, wohin er wollte?«
Die Männer sahen sich an und schüttelten dann die Köpfe. »Schnorr hat den ganzen Vormittag damit geprahlt, dass sein Schicksal sich bald wenden würde«, meinte einer der Männer mit einem Achselzucken. »Aber das war nichts Neues. Das hat er andauernd behauptet. Von uns hat jedenfalls keiner etwas auf sein Geschwätz gegeben.« Zustimmendes Gemurmel ertönte.
»Schnorr hat sich mächtig was drauf eingebildet, dass er ein Freier war«, bemerkte ein anderer und spuckte verächtlich aus. »Wir Übrigen gehören zum Bischof, aber Schnorr hat seine eigene Grube bestückt. Nicht, dass es ihm was genützt hätte. Er war nicht besser dran als wir. Eher noch schlechter.«
»Und das, was es ihm eingebracht hat, hat er dann mit den Dirnen und im Suff schnell wieder verjubelt«, gab ein schmalbrüstiger Gehilfe zum Besten und grinste. »Wenn er abends ging, dann nicht nach Haus zu seinem Weib.«
»Und wohin ist er gegangen?«, wollte Bandolf wissen, obwohl er die Antwort schon zu kennen glaubte.
Der Gerberjunge lachte. »Zum alten Fischerwirt hinter der Rheingasse. Der braut schlechtes Bier, dafür bekommt man es billig. Und die Weiber dort...«, er hob vielsagend die Brauen und pfiff durch seine Zahnlücke. »Na, und wenn dann beim Fischerwirt dichtgemacht wurde, dann ging’s quer durch die Stadt zum ...« Sein Nachbar stieß ihm unsanft den Ellenbogen in die Seite. »Du sollst nichts Schlechtes über die Toten sagen«, zischte er. »Schon gar nicht, wo er doch noch daliegt.« Der Junge blickte bestürzt hinüber zu dem toten Gerber und schlug hastig ein Kreuz.
»Schon gut«, brummte der Burggraf und dachte bei sich, dass es nicht schwer war zu erraten, wo Schnorr sein Vergnügen gesucht hatte, wenn der Ausschank geschlossen worden war.
»Hatte Schnorr Streit mit einem von euch? Oder mit jemand anderem, von dem ihr wisst?«, fragte er laut.
Der Schmalbrüstige reckte sein Kinn. »Schnorr war nicht eben ein freundlicher Kerl, aber so übel, dass man ihm den Hals umdrehen musste, so übel war er nun auch nicht.«
Die anderen nickten mit Nachdruck.
Bandolf zog die Brauen zusammen und starrte mit finsterem Ausdruck auf den Toten hinunter. Irgendjemand hatte Schnorr doch übel genug gefunden, um ihm den Hals umzudrehen. Wem aber konnte der Gerber solch ein Dorn im Auge gewesen sein? Bandolf seufzte.
»Was geschieht jetzt mit ihm?«, wollte der Nachbar des Gerberjungen wissen.
»Schickt jemanden zur St.-Rupert-Kirche hinüber, damit man ihn abholt«, antwortete der Burggraf. »Wenn seine Witwe nicht für die Beerdigung aufkommen kann, werde ich für ein Armenbegräbnis sorgen.«
»Du warst mir ja äußerst hilfreich«, brummte Bandolf auf dem Weg zu Schnorrs Hütte, wo er die Witwe befragen wollte.
»Ich kann doch nichts dafür, Herr«, versicherte Prosperius, dessen Gesicht noch immer die Farbe einer überreifen Birne hatte. »Bei solch einem Anblick stülpt sich mein Gedärm von außen nach innen, und Schleim und Galle kriechen mir in den Schlund und ...«
»Schon gut«, winkte Bandolf hastig ab. Mit Wehmut dachte er an seinen alten Schreiber, der vergangenes Jahr an einem Lungenfieber gestorben war. Just in solchen Dingen war er ihm stets eine große Hilfe gewesen. Der junge Prosperius hingegen ... Bandolf seufzte.
Die Hütte des toten Schnorr duckte sich zwischen den anderen Gerberhütten und machte den Eindruck, als würde sie nur mangelhaften Schutz gegen Regen und Kälte bieten. Die Witwe Gutrun, eine magere Frau mit abgehärmtem Gesicht und schwieligen Händen, empfing den Burggrafen und seinen Schreiber vor der Tür, wo sie auf dem Boden hockte und Roggen spelzte. Es wurde den beiden schnell klar, dass Gutrun weniger Trauer als Zorn über das Hinscheiden ihres Gatten empfand, weil er sie und ihre Kinderschar mittellos zurückgelassen hatte.
»Immer hat er sich großgetan und aufgeplustert, und dann ist er hingegangen und hat alles mit schlechten Weibern und Bier durchgebracht«, klagte sie, während sie das unschuldige Getreide wütend bearbeitete. Auf Bandolfs Frage, ob sie wüsste, wer einen Groll gegen ihren Mann gehabt haben könnte, zuckte sie nur uninteressiert mit den Schultern.
»Wann hast du deinen Mann denn das letzte Mal gesehen?«, wollte der Burggraf wissen. Gutrun runzelte die Stirn, und die Furchen in ihrem Gesicht vertieften sich.
»Gestern früh. Als er zu den Gruben ging.«
»Hast du dir denn keine Sorgen gemacht, als er heute Nacht nicht nach Hause kam?«, fragte Prosperius erstaunt.
Die Witwe lachte bitter auf und warf dem jungen Schreiber einen erbosten Blick zu. »Da hatt ich Bessres zu tun, als mir jedes Mal graue Haare wachsen zu lassen, wenn der nicht heimkam«, giftete sie.
Prosperius schien krampfhaft bemüht zu sein, nicht auf die dünnen grauen Strähnen zu starren, die unter dem fleckigen Kopftuch der Witwe hervorschauten. Bandolf verbiss sich ein Lachen und wandte sich an die Witwe: »Und als du ihn gestern früh gesehen hast, war Schnorr da anders als sonst?«
Gutrun schaute ihn verständnislos an, und Bandolf versuchte es anders. »Dein Mann hat seine Grube gestern nach der Sext im Stich gelassen. Hat er dir vielleicht gesagt, wo er nachmittags hinwollte?«
Gutrun kniff ihre trüben Augen zusammen und schüttelte den Kopf. »Nichts hat er mir gesagt, Herr. Gar nie nichts. Er hatte einen Brummschädel von seiner Zecherei in der Nacht zuvor. Aber er war trotzdem guter Dinge.« Sie runzelte die Stirn und brach dann plötzlich in Tränen aus. »Immer hat er gesagt, es würde besser werden und er würde bekommen, was ihm zustände. Noch gestern hat er’s gesagt. Ach, und dann lässt er sich den Hals umdrehen, und ich steh da mit den Kindern und weiß nicht, wie das Begräbnis bezahlen. Er muss doch anständig unter die Erde«, jammerte sie.
Unter dem missbilligenden Blick seines Schreibers kramte Bandolf einen Hälbling aus seiner Börse, den er der Witwe Gutrun in die schwieligen Hände drückte, und verabschiedete sich.
»Ich finde, der König hat den Gumbertsjungen zu hart bestraft«, bemerkte Prosperius mit undeutlicher Stimme. Sein schmaler Körper schwankte, als säße er auf einem Maultier. »Das Wort des alten Gumbert hat Gewicht in der Stadt. Da wäre es doch klug vom König gewesen, sich gut mit ihm zu stellen.«
»Unsinn«, brummte der Burggraf. »Der Bursche hat mutwillig die Töpfe der Bauersfrau zerschlagen und ist dabei erwischt worden. Der Leumund des Weibes war bestens, und sie hatte zwei Zeugen und einen guten Bürgen.« Auch Bandolfs Stimme klang nicht mehr allzu sicher, und seine Augen glänzten. Er hoffte, der Weg von der Bischofspfalz bis zu seinem Heim würde genügen, um den weinseligen Nebel in seinem Kopf wieder etwas zu lichten. »Ich denke, ein Ferkel und zwei Sack Roggen sind als Buße angemessen.« Er grinste breit. »Wie ich Gumbert kenne, wird er sich jedes einzelne Getreidekorn von seinem Sprössling zurückerstatten lassen, und in nächster Zukunft wird der junge Schnösel anderes zu tun haben, als müßig mit seinen Kumpanen zu saufen und Unfug anzustellen.«
Prosperius wackelte skeptisch mit dem Kopf.
Sie bogen in die Brotgasse ein und wichen einem Karren aus, der bis obenhin mit Holz beladen war und gefährlich schwankte.
»Der Zorn eines Krämers auf den König macht mir kein Kopfzerbrechen. Im Grunde weiß er nämlich genau, dass das Urteil gerecht war«, meinte Bandolf. »Was mir Sorgen macht, waren die versteckten Anspielungen, die man mir heute in Gesellschaft des Hofes zugeflüstert hat.«
In der Regel stand Bandolf, als Burggraf mit dem Blutbann belehnt und Stellvertreter des Königs, dem Gerichtstag zu Michaeli vor. Doch dieses Jahr war Heinrich selbst mit großem Gefolge beim Richtplatz vor der Pfalz erschienen und hatte das Gepränge offensichtlich ebenso genossen wie die Wormser Bürger, die zum ersten Mal miterlebten, dass ihr junger König Gericht hielt. Danach besuchten Heinrich und sein Hofstaat die Messe im Dom, und anschließend hatte man sich in der Bischofspfalz zu einem Festmahl versammelt.
Bei seiner Rückkehr vom Bankett des Königs war Bandolf vor der Marktschänke auf seinen Schreiber gestoßen, der Michaeli offensichtlich schon auf seine Weise gefeiert hatte.
»Was für Anspielungen meint Ihr denn, Herr?«, fragte Prosperius. Er rieb sich die Augen und schnäuzte sich dann lautstark in den Ärmel seines Kittels.
Bandolf runzelte die Stirn. »Es waren weniger die Worte als der Tonfall und die vielsagenden Blicke, die man mir dabei zugeworfen hat, verstehst du?« Prosperius schüttelte den Kopf.
»Nimm den Schwabenherzog Rudolf als Beispiel«, erklärte Bandolf. »Er hat mich nach der Messe beiseitegenommen und gefragt, ob ich den Beutelschneider schon gefunden hätte, der Adalbert von Bremen überfallen hat. Als ich verneinte, meinte er, der Überfall habe die Gemüter bei Hof sehr erregt, und es solle nicht zu meinem Schaden sein, wenn ich sobald wie möglich einen Schuldigen beibringen würde.«
»Und was ist nun daran verkehrt?«
»Hast du mir nicht zugehört?«, rief der Burggraf verärgert. »Er sprach von einem Schuldigen. Nicht von dem Schuldigen.«
Prosperius gluckste. »Hört Ihr da nicht zu viel hinein, Herr?«
»Durchaus möglich. Aber Bischof Adalbero hat mich kurz darauf dasselbe gefragt. Er wiederum gab mir zu verstehen, dass meine Tage als Burggraf gezählt wären, wenn ich nicht bald einen Schnapphahn vorzuweisen hätte. Und zwar noch bevor der König Worms wieder verlässt. Als Bruder des Herzogs von Schwaben hat der fette Adalbero genügend Einfluss bei Hof, um seine Drohung wahr machen zu können. Nichts würde ihn mehr freuen, als wenn ich versagte«, knurrte Bandolf düster. »Andere, wie der Herzog von Bayern, ließen Bemerkungen über die besorgniserregenden Zustände in den Gassen der königlichen Städte fallen, in denen nicht einmal Männer der Kirche mehr sicher vor den Übergriffen des Gesindels wären.«
»Da ist der Erzbischof bei Hof wohl recht angesehen, wenn jedem so an der Ergreifung des Diebs gelegen ist«, mutmaßte der junge Schreiber.
»Pah«, schnaubte Bandolf. »Mir dagegen will scheinen, den hohen Herren ist nur darum zu tun, dass der Vorfall so schnell wie möglich in Vergessenheit gerät.«
Aus einem Durchlass stürmte eine Gruppe junger Burschen auf die Brotgasse. Sie trugen ihre besten Gewänder, hielten Kränze in den Händen und grölten ausgelassene Lieder. Offenbar wollten sie vor die Stadt, wo am Abend auf der Gemeindewiese Michaeli gefeiert werden würde. Es war ein alter Brauch, dass die jungen Männer das Fest damit eröffneten, die Mädchen ihrer Wahl mit einem Kranz zu küren.
Prosperius sah der beschwingten Gruppe ein wenig wehmütig hinterher. »Und der König? Was meint der König dazu?«, fragte er schließlich.
Bandolf schüttelte den Kopf. »Der Erzbischof von Köln klebte wie eine Klette an seinem Gewand, was Heinrich sichtlich unbehaglich war. Er schien mehr Vergnügen in der Gesellschaft seiner jungen Ritter zu finden und verteilte seine Gunst augenfällig unter den Männern niedrigen Standes. Die Herren von Laufen und Hohenhardt, von Blochen und Steinach waren entzückt über die Aufmerksamkeit, die der junge König ihnen schenkte. Anno maßregelte ihn deshalb ganz offen, und Heinrich verließ die Tafel ziemlich abrupt in miserabler Stimmung, noch bevor ich mit ihm sprechen konnte.«
»Und der Erzbischof von Bremen?«, bohrte Prosperius weiter.
»Seine Eminenz scheint noch ans Krankenlager gefesselt zu sein. Er war weder bei der Messe noch auf dem Bankett.«
Eine Weile brütete der Burggraf dumpf vor sich hin, dann stieß er plötzlich zornig hervor: »Ich werde den Attentäter finden, Prosperius. Komme, was da wolle. Ich habe nicht die geringste Lust, mich zum Spielball der Herren am Hof machen zu lassen.«
»Aber was, wenn es nun doch ein Dieb gewesen ist?«, wandte sein Schreiber ein, doch Bandolf wedelte wegwerfend mit der Hand. »Das glaube ich nicht. Kein Beutelschneider, dem ich bisher über den Weg gelaufen bin, wäre so dämlich, sich an den Habseligkeiten eines Kirchenfürsten zu vergreifen. So etwas ist den Herren selbst Vorbehalten. Nein, wir müssen den Täter woanders suchen.«
»Beim Wirt am Markt saßen heute Brüder aus Lorsch beisammen«, berichtete Prosperius. »Sie waren nicht gut auf Seine Eminenz von Bremen zu sprechen. Der Herrgott selbst hätte eingegriffen, meinten sie, damit Adalbert ihr Kloster in Frieden ließe. Vielleicht ist da ja mehr an ihrem Geschwätz?« Er legte den Kopf schief und sah den Burggrafen treuherzig an. »Ich könnte mich doch ein wenig umhören. Die Brüder wissen einen guten Tropfen zu schätzen, und wenn Michaeli gefeiert wird und reichlich Wein und Bier fließen, wer weiß, was ein aufmerksamer Zuhörer da nicht alles aufschnappen könnte?«
Bandolf warf dem jungen Burschen einen argwöhnischen Blick zu, und Prosperius bedachte ihn mit einem unschuldigen Augenaufschlag.
Schließlich nickte Bandolf. »Na schön. Aber sieh zu, dass du nicht selbst in Weinseligkeit verfällst. Wenn du betrunken auf der Gasse landest, wäre das keineswegs von Nutzen«, mahnte er. Prosperius versicherte eifrig, dass er sich um nichts in der Welt von seiner Aufgabe ablenken lassen würde und niemand am Abend so nüchtern bliebe wie er und dass der Burggraf sich gänzlich auf ihn verlassen könnte.
»Ich will außerdem, dass du dich morgen in der Stadt einmal umhörst, was man über die Kräuterfrau Garsende zu sagen weiß«, beendete Bandolf seine Beteuerungen. »Erkundige dich nach ihrem Woher und ihrem Leumund.«
Prosperius fragte erstaunt: »Was hat denn eine Kräuterfrau mit dem Erzbischof von Bremen zu schaffen?«
»Das musst du nicht wissen«, beschied ihn Bandolf streng, und Prosperius seufzte enttäuscht.
»Du musst dich auch bald beim Fischerwirt nach den Kumpanen des toten Schnorr erkundigen«, fuhr Bandolf fort. »Ich will wissen, wieso der Gerber seine Arbeit vor der Zeit im Stich gelassen hat und wo er gewesen ist. Vielleicht hat er sich mit seinem Mörder getroffen.«
Sein Schreiber zog eine Grimasse. »Ist das denn noch so wichtig, Herr?«, fragte er. »Der Gerber wird sich betrunken haben. Dann gab es sicher einen Streit mit einem seiner Zechkumpane, und wenn nicht zufällig jemand gesehen hat, wie es passiert ist, und das Maul aufmacht, werden wir nie erfahren, wer ihm den Hals umgedreht hat.«
»Ich weiß nicht recht. Irgendetwas stimmt da nicht.«
»Das verstehe ich nicht. Es kommt doch oft vor, dass eine Prügelei unter Trunkenbolden ausartet und dabei dann ein armes Schwein zu Tode kommt. Wenn jemand den Streit beobachtet hat, dann findet Ihr den Täter leicht. Und wenn nicht« – Prosperius zuckte mit den Schultern –, »dann eben nicht.«
Der Burggraf ignorierte den Einwand. »Als ich mir die Leiche heute früh angeschaut habe, war der Körper noch steif. Das heißt, er muss irgendwann gestern Abend gestorben sein. Allzu spät wird es nicht gewesen sein, denn sonst wäre der Körper noch nicht hart gewesen«, grübelte er laut. »Der Gerber lag über seiner Grube zwischen einem Stapel mit Häuten und einem vollen Wasserkübel. Hätte es einen Kampf gegeben, dann wäre eines von beiden sicher umgefallen. Und Schleifspuren habe ich auch keine gesehen. Das bedeutet, der Mord hat dort stattgefunden, wo auch die Leiche war. Für mich sieht das so aus, als wäre der Gerber überrascht worden.«
»Und wenn man nun die Leiche zu den Gerbgruben getragen hätte?«, wandte Prosperius ein.
»Möglich wäre es, aber wozu?« Er seufzte. »Wenn ich doch bloß wüsste, wann der Gerber gestorben ist.«
Prosperius fiel offenbar keine Antwort dazu ein.
»Zudem hatte der Gerber außer den Würgemalen am Hals keine anderen Verletzungen«, führte Bandolf weiter aus. »Schnorr scheint sich nicht gewehrt zu haben. Auch das sieht mir nicht danach aus, als hätte es einen Streit oder einen Kampf gegeben.«
»Aber Schnorrs Gesicht war voller Blasen und verschrumpelt, nachdem er in der Gerbbrühe gelegen hat. Hättet Ihr da die Schläge überhaupt erkennen können?«
»Womöglich nicht«, gab Bandolf zu. »Aber wieso sollte Schnorr einen Streit mit seinem Zechkumpanen ausgerechnet bei seiner Grube austragen? Was hat der Gerber denn dort gewollt? Und mit wem ist er dort gewesen?« Er schüttelte den Kopf. »Nein«, erklärte er bestimmt. »An dieser Sache ist etwas faul, das weiß ich bestimmt.«
Hinter seinem Haus und den Nachbarhäusern hatten sich bereits die Ärmsten der Stadt versammelt. Es war Brauch, dass sie vom Festtagsmahl alles bekamen, was übrigblieb. Nichts durfte von den Resten im Haus bleiben, denn das würde Unglück bringen für jeden, der zu Michaeli geizte.
Bratenduft begrüßte Bandolf, als er mit Prosperius ins Haus trat. Aus Stall und Scheune ertönte Gesang und Gelächter. Matthäa hatte dafür gesorgt, dass für die Haus- und Dienstleute des Burggrafen ebenso wie für die Herrschaft ein Festmahl auf den Tisch kam. Schüsseln mit Eierspeisen und fetten Soßen, weißes Brot, gewürzt mit Knoblauch und Zwiebeln, Platten mit gekochtem Barsch und eingelegten Turteltäubchen, Süßspeisen mit Mandeln und Honig und als Krönung der gebratene Pfau wurden nacheinander aufgetragen und mit Bier und Wein heruntergespült. Matthäa trug ihr Festtagskleid aus blauem Barchent über einem Unterkleid mit fein bestickter Borte, das am Hals mit einer silbernen Fibel zusammengehalten wurde. Ihr wundervolles Haar hatte sie mit einer Spange zurückgesteckt. Die syrischen Granate, mit denen Spange und Fibel besetzt waren, funkelten wie ihre Augen, und das Perlmutt an ihrem Gürtel, der sich um ihre Hüften schmiegte, schimmerte im Licht so weich wie ihre Wangen. Stolz und glücklich betrachtete Bandolf seine hübsche Frau und dachte bei sich, dass vielleicht heute die Nacht der Nächte wäre, und bald würde auch in seinem Haus Kindergeschrei zu hören sein.
Je länger das Festmahl dauerte, umso zufriedener strahlte er in die Runde. Er fand, dass er es für den Sohn eines kleinen Vogts, der erst am Ende seines Lebens die Freiheit erlangt hatte, weit gebracht hatte. Erst in der Nacht, als das reichhaltige Festmahl in seinem Magen rumorte und der Wein ihn in einen schweren Schlummer fallen ließ, huschten der tote Gerber und Adalbert von Bremen wieder durch seine Träume.