Читать книгу Küssen kann schon mal passieren - Susanne Fülscher - Страница 5

1.

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Luca kam an einem sonnigen Tag im März in unsere Klasse. Ihn nicht zu bemerken oder gleich in einer Datei mit der Aufschrift unwichtig abzuspeichern war unmöglich. Ebenso gut hätte ich versuchen können meine blonden Spaghettihaare in dunkle Locken zu verwandeln, Jade in eine Giftnatter oder die Erde in einen Erdnusskeks. Luca war Halbitaliener und weder zu übersehen noch zu überhören. Er hatte tubenweise Gel im Haar, trug ein pastellfarbenes Polohemd mit hochgeklapptem Kragen und redete dröhnend, wobei er alle paar Sekunden lachte. Wie von einem inneren Meldezwang besessen zeigte er ständig im Unterricht auf, und wenn er drankam, schwafelte er ohne Punkt und Komma. Das war einerseits gut, weil uns anderen weniger Zeit blieb, uns zu blamieren, andererseits nervte es, ihm dauernd zuhören zu müssen. Keine Ähs kamen über seine Lippen, er sprach, als hätte jemand seine Gedanken vorsortiert und in druckreife Sätze gebracht. Ein Typ zum Abgewöhnen. Lackaffe. Angeber. Wahrscheinlich auch noch ein Streber. Zu allem Überfluss hatte unsere Klassenlehrerin Frau Gabowski den Jungen mit der schnieken Notebooktasche ausgerechnet hinter mich gesetzt. Ich wusste nicht mal genau, warum, aber ich fühlte mich belauert und konnte das neunmalkluge Gequatsche in meinem Rücken kaum ertragen.

»Findest du eigentlich, dass er gut aussieht?«, fragte mich Jade wenige Tage nach Lucas Ankunft in der großen Pause. Während sich unsere Klassenkameraden in jeder freien Minute neugierig um Luca scharten, wohl um herauszubekommen, was ein Halbitaliener, der bisher an der Adria gelebt hatte, in unserer langweiligen norddeutschen Kleinstadt machte, flüchteten Jade und ich lieber auf den Schulhof, hielten unsere Nasen in die Märzsonne und sahen den Schneeresten beim Schmelzen zu.

»Mittel.«

»Mittelgut oder mittelschlecht?«

»Keine Ahnung.« Irgendwie war mir der Typ so egal, dass ich nicht mal Lust hatte, auch nur einen Gedanken an sein Äußeres zu verschwenden. »Und du?«

»Er hat ein schönes Lächeln und Nutella-Augen«, erklärte Jade mit Blick auf ihre Schneeboots. Es war bloß eine Frage von Tagen, bis sie sie gegen ihre geliebten Chucks austauschen würde.

»Schönes Lächeln, von wegen ... Seine Beißer sind doch bestimmt implantierte Kunstzähne«, lästerte ich. »Haben ihm seine superreichen Eltern spendiert.«

Jade prustete los. »Und zur Strafe, weil er damit angibt, wächst er nur in Zeitlupe.«

»Vielleicht bleibt er auch bis zu seinem Lebensende ein Zwerg«, setzte ich noch eins drauf. »Ein Zwerg in Lackaffenklamotten und mit Notebooktasche.«

Wir lachten, was im Grunde ziemlich gehässig war schließlich konnte der Neue nichts für seine Körpergröße –, dann hechelten wir weitere optische Details durch, bis uns bewusst wurde, was wir da eigentlich taten. Wir vergeudeten kostbare Lebenszeit damit, uns über einen total unwichtigen Typen auszulassen. So gesehen unterschieden wir uns kein bisschen von unseren Klassenkameraden mit ihrem Lucahier-Lucada-Getue.

Also schwenkten wir auf wichtigere Themen um. Jade erzählte, dass sie und ihre Tierschutzorganisation Bloody-Girls die lediglich aus ihr selbst und zwei weiteren Mädchen aus der Parallelklasse bestand, eine Antipelzmantel-Kampagne plante. Sie wollten sich mit Theaterblut beschmierte Transparente umhängen und damit vom Schloss über den Marktplatz bis zur Fußgängerzone ziehen.

»Findest du das nicht ein bisschen übertrieben?«, fragte ich. »Wer trägt in unserem Kaff schon Pelzmäntel?«

»Die Omas?«, verteidigte sich Jade.

»Und von denen verlangst du, dass sie ihre Nerze, die sie anno dazumal gekauft haben, wegschmeißen? Mann, Jade! Davon werden die süßen Tierchen auch nicht wieder lebendig.«

Meine Freundin wickelte ihr Brot aus, das mit einer stinkenden vegetarischen Paste bestrichen war. »Ich weiß auch, dass die Omas keine Gangster sind. Es geht doch bloß darum, das Bewusstsein der Leute zu schärfen.«

»Okay, dann schärf mal«, erwiderte ich matt. Ich fand, dass meine Freundin es mit ihrem Engagement bisweilen ziemlich übertrieb. Sie guckte mich ja schon schief von der Seite an, sobald nur ein Fitzelchen Wurst aus meinem Schulbrot hervorlugte, ereiferte sich, wenn ich mich von Mama mit dem Auto zur Schule fahren ließ, und fand Leute, die sich in Flugzeuge setzten, komplett daneben. Auf einer Skala von eins bis zehn lag Jades Nervfaktor bei 6,5. Der des Neuen allerdings bei 9,5. Mindestens. Und das war weitaus schlimmer.

* * *

Als ich am frühen Nachmittag in unsere Straße bog, parkte ein Möbelwagen mit den Ausmaßen eines Schlachtschiffes in unserer Straße. Man hätte damit problemlos Elefanten, Walrosse und Dinosaurier transportieren können.

Neugierig radelte ich näher und stieg ab, um mir die auf den Bürgersteig gespuckten Möbel genauer anzusehen: eine quietschgelbe Ledercouch, zwei Sessel in Leopardenoptik, Küchenstühle in allen Regenbogenfarben, ein Couchtisch mit wuchtigen Chrombeinen, silbrig lackierte Regalbretter und Zimmerpflanzen, die aussahen, als wären sie im Urwald geklaut worden. Bei uns zu Hause gab es keinen Schnickschnack, keinen Farbschock, keine tuschkastenbunten Möbel. Alles war schlicht – Holzmöbel, eine dunkelblaue Couch –, eben zeitlos schön, wie Mama immer sagte. So konnte man auch noch in zehn Jahren wohnen, zumal wir nicht zu den Leuten gehörten, die im Geld schwammen.

Gequäke drang aus dem Innern des Wagens. Die Stimme röhrte, versemmelte die Töne, wechselte in einen schrillen Sopran, bevor es erdrutschartig in die Tiefe ging. Ich wollte gerade auf dem Absatz kehrtmachen – der Singsang war wirklich total daneben –, als ein dunkelhaariger Typ an der Ladeklappe auftauchte.

Luca. Der Neue. In seinem Arm hielt er einen Kaktus und sah dabei so bescheuert aus, dass ich fast schon wieder lachen musste.

»Was ... was hast da?« Eigentlich hatte ich fragen wollen, was zum Teufel er hier zu suchen hatte, aber mein Gehirn hatte meinem Sprachzentrum schlicht die falschen Informationen übersandt.

»Einen Kaktus? Ja, ich glaube, die Pflanze hier nennt man Kaktus«, antwortete Luca, indem er nur einen Mundwinkel leicht nach oben bewegte.

»Und was machst du mit dem Kaktus?«

»Einziehen. Da.« Er deutete auf den Wohnblock direkt gegenüber von uns. »Ich und mein Kaktus.«

»Du und dein Kaktus, ihr zieht da ein?«, wiederholte ich, als hätte ich plötzlich einen Dachschaden.

»Ja, genau das tun wir. Und dann leben wir glücklich bis zu unserem Lebensende. Also ich und mein Kaktus.«

»Dann mal viel Spaß mit deinem Kaktus«, sagte ich, überquerte die Straße und schob mein Rad eilig auf den Hinterhof.

Den Schock, dass der Blödmann mit der großen Klappe und den gegelten Haaren direkt bei uns gegenüber einzog, musste ich erst mal verdauen. Unser Örtchen hatte an die 30000 Einwohner, ein Schloss, ein Kino, ein Theater – wieso um Himmels willen musste der Typ ausgerechnet in meinem kleinen Universum stranden? In der Rankestraße. Dort, wo sich sonst nur Hase und Igel Gute Nacht sagten. Wütend über das Schicksal, das mir so übel mitspielte, versuchte ich mein Rad anzuschließen, doch meine Hände zitterten wie Espenlaub.

»Scheißding!«, schimpfte ich und mühte mich verzweifelt mit der Kette ab.

Ich hörte Schritte und fuhr herum. Luca war mir nachgeschlichen und grinste, als wäre ein sperriges Fahrradschloss eine total witzige Angelegenheit. »Schloss kaputt?«, fragte er.

»Keine Ahnung«, gab ich unwirsch zurück. »Du singst übrigens wie ein Hund mit Vollklatsche.«

»Weiß ich. Aber die Ärzte weigern sich mir neue Stimmbänder einzusetzen.«

»Dann kauf dir welche im Discounter und tausch sie selbst aus.«

»He, he, ganz schön frech!«

»Ist angeboren. Kleiner Gendefekt«, brummte ich und wandte mich wieder dem Fahrrad zu.

Eine Weile herrschte Schweigen, dann bückte sich Luca, so dass unsere Köpfe auf einer Höhe waren. »Sorry, dein Name ist mir irgendwie entfallen«, sagte er und ich konnte seinen Spearmint-Atem riechen. »Wie, äh, wie heißt du noch mal?«

»Wie-äh-wie-heißt-du-noch-mal will jetzt nicht gestört werden. Wie-äh-wie-heißt-du-noch-mal muss jetzt nämlich dieses dämliche Rad anschließen.«

»Lass mich mal machen, Wie-äh-wie-heißt-du-noch-mal.« Bevor ich protestieren konnte, drängte Luca mich beiseite, ging vor dem Rad in die Hocke und öffnete das Schloss mit zwei Handgriffen.

»Luisa! Du heißt Luisa.« Er kam wieder hoch, die Stirn in Dackelfalten gelegt.

»Falsch.« Er, Mister Super-Brain aus Italien, hatte sich meinen Namen tatsächlich nicht gemerkt, was mich ziemlich aufregte.

»Aber es war was mit L, richtig?«

»Lena«, sagte ich, weil ich keine Lust auf Spielchen hatte.

»Lena – und weiter?«

»Keller. Das Gegenteil von Dachgeschoss.« Ich brachte den Witz lieber selbst, bevor er noch auf die Idee kam. Lena Dachgeschoss war in unserer Klasse so etwas wie ein Running Gag. Ich konnte es kaum noch hören.

Ohne die Miene zu verziehen, reichte mir Luca die Hand. So als würden wir nicht in ein und dieselbe Klasse gehen, sondern wären Geschäftspartner, die einen Deal besiegelten. »Luca. Luca Pisani.«

»Freut mich«, erwiderte ich und lächelte schmierig wie ein Ganove.

»Glaub ich dir nicht.« Luca zeigte beim Grinsen seine weißen Beißerchen, die ein bisschen künstlich aussahen. »Du findest es zum Kotzen, dass ich hier einziehe. Kann ich auch verstehen. Es ist ja deine Stadt. Deine Straße. Dein Fahrrad. Und dein Fahrradständer.«

»Mir doch egal, wo du einziehst. Solange du nicht überall deine Duftmarke hinterlässt.«

Luca lachte scheppernd. »Du bist ja doch nicht so humorlos, wie ich zuerst dachte! Hätte mich allerdings auch gewundert – bei dem süßen Jeans-Po.«

»Sehr witzig«, gab ich zurück, sauer über seine plumpe Anmache. »Und du hast zu viel Gel im Haar.«

»Wirklich?« Luca griff sich in seinen gelstarren Lockenschopf. Einen Moment lang schien er aus dem Konzept geraten zu sein.

»Vielleicht läuft man in Italien so rum«, setzte ich nach. »Hier ist das einfach nur daneben.«

»Okay, dann muss ich das wohl ändern«, erwiderte er vollkommen ernst.

»Prima. Und klapp bitte auch deinen Polokragen runter. Das sieht total dämlich aus.«

Lucas Schneidezähne blitzten auf. »Hey! Du könntest mir zur Abwechslung ruhig mal was Nettes sagen! Irgendwas muss doch auch okay an mir sein. Abgesehen von meinem talentfreien Gesang, meinen bescheuerten Gelhaaren und dem aufgestellten Polokragen.« Er zupfte daran und klappte ihn dann tatsächlich runter.

»Warum zieht ihr eigentlich ausgerechnet in die Rankestraße?«, überging ich seine Bemerkung. Er sah so sehr nach Geld aus, dass ich mich tatsächlich darüber wunderte. Die Rankestraße war nicht gerade die nobelste Gegend.

Luca hob gleichgültig die Schultern. »Zufall. Es war die erste akzeptable Wohnung, die meine Mutter übers Internet gefunden hat. Wir konnten uns von Italien aus ja nichts angucken.«

»Und wo hast du vorher gewohnt?«

»In einer Pension. Unsere Möbel sind heute erst aus Italien gekommen.«

Weil ich nicht wusste, wohin mit meinen Händen, klimperte ich mit dem Fahrradschlüssel. »Und einen Vater? Gibt’s den auch?«

»Logisch! Sonst wäre ich ja wohl kaum hier, hätte zwei Beine, zwei Arme und ein Hirn zum Denken. Und um deine Neugier zu befriedigen: Er ist in Italien geblieben.«

Wahrscheinlich hatten sich seine Eltern getrennt. Bei vielen in unserer Klasse war das so.

»Ich bin auch mit meiner Mutter allein«, sagte ich in dem plötzlichen Bedürfnis, den Blödmann trösten zu wollen.

»Deine Eltern sind geschieden?«

»Nein, mein Vater ist tot.« Ich ließ meine Stimme fröhlich klingen. »Bei einem Unfall gestorben, als ich noch klein war.«

Ich kannte das schon. Die bestürzten Mienen, wenn ich davon erzählte. Aber es war gar nicht mal so schlimm, wie es sich anhörte. Schließlich erinnerte ich mich nicht an das Leben mit meinem Vater. Wen oder was sollte ich also vermissen? Es gab nur ein paar Fotos im Fotoalbum, die mich manchmal traurig stimmten.

»Oh, das tut mir leid.« Luca bohrte seine Turnschuhspitze in den Asphalt. Wie seine edle Schultasche waren auch seine Sneakers aus Leder.

»Muss es nicht«, murmelte ich. »Schon in Ordnung.« Warum hatte ich es ihm nur erzählt? Ausgerechnet dem Neuen, der so gar keine Bedeutung in meinem Leben hatte.

»Okay, ich geh dann mal wieder zu meinem Kaktus. Aber wenn du magst ...«Er blickte zu Boden. »Vielleicht trinken wir mal eine Cola zusammen?«

»Ja, vielleicht«, entgegnete ich und fügte in Gedanken hinzu: ›Mit dir ganz bestimmt nicht. Ich brauche niemanden zum Colatrinken – und schon gar nicht einen Lackaffen wie dich.‹

Küssen kann schon mal passieren

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