Читать книгу Küssen kann schon mal passieren - Susanne Fülscher - Страница 6
2.
ОглавлениеEs war eine Woche nach meiner denkwürdigen Begegnung mit Luca. Jade und ich saßen im Stadtcafe, tranken Latte macchiato und diskutierten hitzig.
»Natürlich gibt es die große Liebe«, sagte Jade. Sie trug eine neue grüne Tunika, angeblich aus biologischer Baumwolle.
»Aber klar!« Ich nickte übertrieben. »Genauso wie den Weihnachtsmann.«
»Ach, Lena ... Du hast ja keine Ahnung.«
»O doch«, meinte ich lässig. »Jungs wollen immer nur Sex und Mädchen verwechseln das dann mit Liebe.«
»Manchmal wollen aber auch Mädchen nur Sex und Jungs verwechseln das dann mit Liebe.«
Ich musterte sie forschend. »Klingt ja ganz so, als würdest du dich bestens damit auskennen.«
Jade ließ Zucker in ihre Latte macchiato rieseln. »Vielleicht. Ab und zu. Aber auch Jungs haben manchmal große Gefühle. Das kannst du mir glauben.«
Eigentlich waren wir zum Französischlernen hergekommen, doch die Frühlingssonne hatte uns auf andere Gedanken gebracht. Herzflattern, Schmetterlinge im Bauch, Gefühlschaos. Ich konnte mir auch ein Leben ohne den ganzen Zirkus vorstellen, aber Jade malte sich ihr künftiges Liebesleben in allen Facetten aus. Darin kamen vor: a) die große Liebe, b) Herzensbrecher Anton aus der Elf, c) leidenschaftliche Küsse mit Anton, d) die Verwandlung des oberflächlichen Anton in einen Vegetarier und Kämpfer für die Tierwelt. Nicht darin kamen vor: a) Liebe, die im Grunde keine Liebe war, b) miese Küsse mit Anton, c) Liebeskummer wegen eines Typen, dem Tiere sonst wo vorbeigingen.
»Jade, du bist echt ein hoffnungsloser Fall«, stöhnte ich. »Die Menschen reden sich bloß ein, dass es so was wie die große Liebe gibt. Weil sie die Langeweile des Lebens sonst nicht ertragen würden.«
»Da spricht ja die Expertin. Ausgerechnet die Nonne!«
Jade nannte mich manchmal so. Weil ich noch nie einen Freund gehabt hatte und auch in absehbarer Zukunft keinen wollte.
Beleidigt blickte sie aus dem Fenster. Als hätte ich versucht ihr die Gefühle für Anton madig zu machen. Vielleicht hatte ich das auch, aber wenn, dann nur, um sie zu schützen. Anton war der Falsche. Er würde Jades Herz brechen und sie danach abservieren – so wie er es mit vielen Mädchen zuvor getan hatte. Doch davon wollte sie nichts wissen. Für sie war Anton so etwas wie eine heilige Kuh und heilige Kühe schlachtete man nicht.
»Dann nenn mir mal eine große Liebe, nur eine einzige«, forderte ich sie auf.
»Romeo und Julia«, sagte Jade wie aus der Pistole geschossen und tunkte ihren Löffel in den Milchschaum.
»Zählt nicht. Das ist Literatur.«
»Okay, dann meine Eltern.«
Auch wenn es unpassend war, prustete ich los. Jades Eltern waren seit etlichen Jahren geschieden und es verging kein Tag, an dem meine Freundin nicht hoffte, dass die beiden eines Tages wieder zusammenkommen würden. Was ziemlich traurig war. Denn was auch immer sie anstellen würde: Die Uhr ließ sich nicht zurückdrehen. Und das Leben war auch keine kitschige Telenovela, in der sich die Liebenden am Ende immer kriegten.
»Trotzdem muss man deswegen ja nicht aufhören an die große Liebe zu glauben, oder?« Jade leerte ihr Glas in wenigen Zügen, dann starrte sie auf den Grund, als wäre dort das Wort Liebe eingraviert.
»Richtig. Genauso wie man immer noch drauf hoffen kann, dass gleich der Osterhase um die Ecke biegt und dir einen Heiratsantrag macht.«
»Weißt du eigentlich, wie blöd du bist?« Es gelang ihr nicht, ein böses Gesicht zu machen, und von einigen Glucksern unterbrochen fuhr sie fort: »So blöd, dass man dich eigentlich versteigern müsste. Aber dich will ja keiner. Weil du so gefühllos, stumpf und kalt wie ein tiefgefrorenes Fischstäbchen bist.«
Wir lachten, doch bei mir blieb ein flaues Gefühl in der Magengrube zurück. War ich wirklich so? Ein tiefgefrorenes Fischstäbchen? Gar nicht in der Lage, mich zu verlieben? Vielleicht. Aber selbst wenn ich insgeheim doch darauf hoffte, dass eines Tages ein paar rosarote Gefühle herbeigeflattert kamen, ich kannte keinen Jungen, der es überhaupt wert war. Die meisten wollten doch sowieso nur Sex. Verschlangen Mädchen hungrig wie ein Pausenbrot und wussten später nicht mal mehr, ob sie Wurst oder Käse gegessen hatten.
Jade taxierte mich von der Seite. »Auch auf die Gefahr hin, dass du mich für völlig bescheuert hältst – ich finde ja, du würdest ziemlich gut zu Luca passen.«
»Igitt, zu dem Lackaffen?«, rief ich aus. »Der Typ hat mich total übel angemacht!«
»Ach, komm. Insgeheim bist du doch stolz darauf, dass jemand deinen Jeans-Po süß findet.«
Natürlich hatte ich ihr alles brühwarm erzählt. Wie wir uns immer alles erzählten.
»Überhaupt nicht!«, ereiferte ich mich und musste doch zugeben, dass Jade nicht ganz Unrecht hatte. Noch nie hatte irgendjemand irgendwelche Körperteile an mir als süß bezeichnet. Geschweige denn mein Hinterteil. Trotzdem musste es nicht ausgerechnet der Lackaffe sein. Ein cooler Typ in meiner Größe wäre mir eindeutig lieber gewesen.
Jade grinste. »Stell dir bloß vor, was für niedliche Kinderlein bei euch rauskommen würden. Eine Mischung aus Fischstäbchen und Lackaffe. Ein biologisches Wunder!«
»Danke, Jade. Du bist eine ausgesprochen tolle beste Freundin«, gab ich grinsend zurück.
»Jetzt kommen wir aber zur Frage des Tages.« Sie sah mich gespannt an. »Kannst du bei dem Lackaffen ins Zimmer gucken?«
»Woher soll ich denn das wissen? Und wieso ist die Frage superwichtig? Sie ist superunwichtig! Das interessiert doch niemanden.«
Jade schnappte sich die Getränkekarte und tat, als würde sie Preise studieren. »Also wenn ich Bewohnerin deines Zimmers wäre, hätte ich das längst geprüft.«
»Du bist aber nicht Bewohnerin meines Zimmers und jetzt lass uns bitte über was anderes reden, okay? Ich steh nicht auf den Schnösel.«
»Ist es dir vielleicht peinlich, in seiner Nähe zu wohnen?«, nervte Jade weiter.
»Nein, aber lästig.«
Das stimmte. Seit sich in unserer Klasse herumgesprochen hatte, dass Luca und ich Nachbarn waren, wurde ich ständig gelöchert. Was er so in seiner Freizeit treibe. Ob er eine Freundin habe. Wie er morgens nach dem Aufstehen aussähe. Mit welcher Zahnpasta er sich die Zähne putze. Ob die Mafia bei ihm ein und aus gehe und so weiter und so fort.
Mich interessierte das alles weniger als die Schafsköttel am Deich, und nachdem ich einmal einen Schatten am Fenster gegenüber ausgemacht hatte, der verdächtig nach Luca aussah, zog ich meistens die Gardinen zu, sobald ich mein Zimmer betrat.
»Kein Grund, so allergisch auf ihn zu reagieren«, meinte Jade.
»Doch! Er ist ein Lackaffe. Hast du selbst gesagt. Ein oberflächlicher Idiot und Streber.«
»Immerhin hat er keine Tiere auf seinem Schulbrot. Ganz im Gegensatz zu dir.«
»Wenn du die Schweinsköpfe, Rinderhälften und Lammhinterteile meinst – die esse ich gerne«, ärgerte ich sie.
Doch Jade ließ sich nicht mal ein müdes Lächeln entlocken und sagte: »Was ich aber echt irre finde ... Er hört auf dich. Oder warum gelt er sich sonst nicht mehr die Haare?«
Auch das stimmte. Seit ich Luca auf unserem Hof verspottet hatte, war er keinen einzigen Tag mehr mit schmierigen Gelhaaren und hochgeklapptem Kragen in die Schule gekommen. Er trug zwar immer noch Polohemden, mintgrüne, rosafarbene und himmelblaue, aber der Kragen blieb unten und seine braunen Haare ringelten sich so, wie sie sich ringeln wollten. Was seinen Anblick um einiges erträglicher machte.
Weil ich fand, dass wir genug über den Lackaffen gelästert hatten, gingen wir lustlos zum Französischlernen über. Ich hatte es dringend nötig, denn ich war innerhalb des letzten Schuljahres von Drei auf Vier abgesackt. In Deutsch und Mathe brachte ich ebenfalls keine Glanzleistungen und in Physik stand ich sowieso auf einer glatten Fünf. Das war blamabel und lag vermutlich an meiner angeborenen Faulheit. Statt zu pauken, hatte ich nun mal mehr Spaß daran, nachmittags mit dem Rad durch die Gegend zu flitzen. Trotzdem konnte es so nicht weitergehen. Wegen Mama, wegen Jade, von der ich nicht getrennt werden wollte, aber auch meinetwegen. Kleben zu bleiben war uncool.
Als ich eine Latte macchiato später nach Hause kam, saß meine Mutter mit einer rotblonden, ziemlich aufgetakelten Frau in der Küche. Die beiden tranken Tee und aßen Plätzchen.
»Hi«, sagte ich und starrte die Frau an. In ihrem engen grünen Kleid und mit den hochgesteckten Haaren sah sie ein bisschen wie eine Filmdiva aus.
»Lena, das ist unsere neue Nachbarin, Frau Pisani«, stellte mir Mama die Frau vor. »Bei ihr im Haus ist das Wasser abgestellt.« Sie lachte verlegen auf. »Da hab ich ihr unsere Toilette angeboten.«
»Moment«, schaltete sich die Frau mit sympathischem Lächeln ein. »Ich habe geklingelt und mich einfach aufgedrängt. So war das.«
Pisani ... Neue Nachbarin ... Wasser abgestellt ... Etliche Alarmglocken schrillten gleichzeitig los. Luca hieß ebenfalls Pisani, er war genauso unser neuer Nachbar und bestimmt war auch bei ihm das Wasser abgestellt. Man musste keine Leuchte in der Schule sein, um eins und eins zusammenzuzählen: Die gestylte Frau war Lucas Mutter und aller Wahrscheinlichkeit nach würde auch der Lackaffe irgendwann klingeln und unsere Toilette benutzen wollen. »Dann mal gutes Teetrinken«, murmelte ich und huschte gleich wieder hinaus.
In meinem Zimmer schickte ich Jade eine SMS:
Hilfe! Die Lackaffen-Mutter hockt in unserer Küche und trinkt mit Mama Tee. Lena
Bleib, wo du bist, simste Jade nur Sekunden später zurück. Ich komme und rette dich. J.
Bereits fünfzehn Minuten später stand sie tatsächlich auf der Matte, doch ihr groß angekündigter Rettungsversuch bestand lediglich darin, mich in mein Zimmer zu zerren und triumphierend grinsend ein Opernglas aus ihrer Tasche zu ziehen.
»Was soll das denn werden? Willst du die Lackaffen-Mutti damit erschlagen?«
Jade kicherte. Als wäre es das Normalste von der Welt, zog sie die Gardine weg und richtete ihr Opernglas auf das Fenster gegenüber.
»Spinnst du? Lass das!«, fauchte ich, aber sie rückte keinen Zentimeter beiseite und ließ sich auch nicht das Opernglas aus der Hand nehmen.
»Was meinst du, wie geschmeichelt er wäre, wenn er wüsste, dass wir gerade zu ihm rübergucken.«
»Wir? Du!« Ich schoss so giftige Blicke auf sie ab, dass sie eigentlich hätte tot umfallen müssen, aber sie blieb stur am Fensterrahmen stehen. »Du hast sie echt nicht mehr alle! Ich bin mir ja nicht mal hundertprozentig sicher, ob Luca überhaupt das Zimmer zur Straße hat.«
Jade schraubte an dem Opernglas herum, dann kicherte sie leise. »Doch. Hat er. Er sitzt am Tisch und lernt, der Streber.«
»Es reicht, okay?« Ich versuchte Jade das Opernglas zu entreißen, doch sie drehte sich blitzschnell weg. »Ehrlich, du nervst.« Ich ließ mich aufs Bett sinken und starrte missmutig an die Decke. »Man könnte ja fast meinen, du bist in ihn verknallt.«
»Ich? In den? Das wüsste ich aber!«
»Dann lass den Scheiß.« Ich sah sie flehend an.
Jade hockte sich rittlings auf die Fensterbank und strich sich über ihren kastanienbraunen, wie immer ein bisschen strubbelig aussehenden Bob. »Ich mag Luca nicht besonders, das stimmt, aber er ist auf jeden Fall interessanter als die Jungs in unserer Klasse.«
Ich zuckte teilnahmslos mit den Schultern.
»Na, hör mal! Jemand, der sein ganzes Leben an der italienischen Adria verbracht hat – das ist der Wahnsinn!«
»Wenn man dort eben geboren wurde ... Schwein gehabt.«
Jade nahm die Bänder ihrer Tunika in den Mund und kaute darauf herum. »Der Arme. Und jetzt muss er in der Rankestraße wohnen.«
»Jade!«, rief ich entnervt aus. »Ich will nicht die ganze Zeit über diesen Typen reden. Das ist pure Zeitverschwendung!«
»Jetzt mach aber mal einen Punkt. Du hast mich schließlich angesimst. Damit ich dich rette. Jetzt rette ich dich und was ist? Zum Dank krieg ich eins aufs Dach.«
»Danke, Rettung abgeschlossen.« Im Grunde war mir gar nicht so ganz klar, was ich überhaupt von meiner Freundin erwartet hatte. Vielleicht bloß, dass sie mich ablenkte. Nur funktionierte das nicht, wenn sie ständig vom Lackaffen faselte.
Gelangweilt drehte sich Jade um und richtete ihr Opernglas erneut auf das Fenster gegenüber. Gefühlte zwei Sekunden später prallte sie zurück, als sei ihr ein Geist erschienen. »Heilige Scheiße! Ich glaub, er hat mich gesehen.«
»Wer? Luca?«
»Natürlich Luca. Wer sonst!«
Ich vergrub meinen Kopf zwischen den Kissen und stöhnte auf. Wie peinlich war das denn! Beim Spannen erwischt zu werden – und natürlich würde Luca nur eine verdächtigen, nämlich mich!
Aus dem Flur drangen Stimmen. Wahrscheinlich war Frau Pisani dabei, sich zu verabschieden.
Jade kam zu mir rüber und strich mir über meine Spaghettihaare. »Komm, reg dich ab. Ist doch kein Drama.«
Ich schob ihre Hand weg. »Ich fange gerade erst an, mich richtig aufzuregen. Du hast mich bis auf die Knochen blamiert. Luca denkt doch jetzt garantiert, dass ich ihn beobachte. Weil ich entweder debil bin oder verknallt. Oder beides.«
»Und wennschon. Gefühle sind nie peinlich.«
»Ich hab aber keine Gefühle für ihn, verstehst du? Null, nada, niente!«
Jade nickte. »Ich geh dann besser mal.« Sie robbte vom Bett und blieb einen Moment am Fußende stehen. »Du bist jetzt aber nicht sauer auf mich, oder?«
»Doch! Und wie! Am liebsten würde ich dich killen.«
Jade ging geduckt zur Tür. »Und morgen? Willst du mich da auch noch killen?«
»Das sehen wir dann.«
Jade schlich sich mit einem gehauchten Tschüss davon, das ich mit einem gebrummten Ciao erwiderte. Ich wollte keinen Stress mit meiner besten Freundin, nur musste sie endlich begreifen, dass mir ihre kindischen Aktionen bisweilen auf den Geist gingen.
Luca kam an diesem Nachmittag nicht mehr zu uns rüber, um unser Bad zu benutzen, was bloß ein Glück war. Wahrscheinlich wäre ich vor Scham im Boden versunken. Aber ich wollte auch nicht an morgen denken, wenn ich ihn in der Schule wiedersehen würde.