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Das Abendessen war Albertine heilig. Da sie in der Regel nur am Vormittag arbeitete – sie schrieb Bastelanleitungen für diverse Frauenzeitschriften, was sich größtenteils von zu Hause erledigen ließ -, hatte sie nachmittags genügend Zeit, um aufwändig zu kochen. Allerdings musste an den meisten Tagen der Woche bereits um 18 Uhr gegessen werden. Spätestens. Weil ihr Mann, Souffleur an einem kleinen Theater, an mindestens drei Abenden in der Woche Dienst hatte.

Für Eldas Ankunft hatte sich Albertine etwas ganz Besonderes ausgedacht. Als Entrée Artischocken mit Himbeervinaigrette, anschließend Kalbshirn, Pommes de rattes und Salat, danach eine selbst gemachte Crème à la vanille und als Abschluss des Ganzen eine erlesene Käseplatte, die eigentlich das Haushaltsbudget sprengte. Zwar hatte Elda in einem ihrer Briefe angedeutet, dass sie kein Fleisch mochte, doch Albertines Kalbshirn hatte noch niemand widerstehen können.

Während Albertine sich in die Essensvorbereitungen stürzte, machte Elda sich frisch, dann legte sie ihre Gastgeschenke für Albertine und Stéphane auf den Küchentisch.

»Für uns?«

Elda nickte.

»Aber das war doch nicht nötig!«

Albertines Höflichkeitsfloskel ignorierend erklärte Elda, welches Päckchen für wen sei, danach zog sie sich unter dem Vorwand, sich noch ein wenig von der Reise ausruhen zu wollen, in ihr Zimmer zurück. Dass sie in Wirklichkeit erst mal den Schock über ihr neues Zuhause verdauen musste, behielt sie besser für sich. Die Wohnung war klein und plüschig, um nicht zu sagen geschmacklos. Das Mobiliar wirkte zusammengewürfelt, überall lagen Reste von Bastelarbeiten herum und besonders sauber sah es auch nicht aus. Allein der Blick in die Kloschüssel hatte Elda gereicht. Eine dunkelgelbe Spur von Kalk und Urin zog sich bis ins Wasserbecken, wo sie irgendwo in den Untiefen der Kanalisation verschwand. So etwas gab es bei ihr zu Hause nicht. Alles hatte immer blitzblank zu sein. Und dann dieser ungehobelte Kerl Etienne! Vollkommen desinteressiert hatte er Elda gemustert, als sie ihm ihr Gastgeschenk, die CD einer jungen norddeutschen Band, überreichen wollte. Kein Wunder, dass sie nicht erst gewartet hatte, bis er sein Telefonat beendet hatte, sondern gleich wieder abgedampft war.

Weil Elda nicht wusste, was sie sonst tun sollte, legte sie sich aufs Bett und testete den Härtegrad der Matratze. Okay, befand sie, nur das Kopfkissen, ein hartes, schmales Rechteck, bereitete ihr schon jetzt schlaflose Nächte. Unvorstellbar der Gedanke, hier die nächsten Wochen und Monate verbringen zu müssen. Wie heute Morgen auf dem Flughafen kämpfte sie eine Weile gegen den Kloß in ihrem Hals an, aber dann kamen doch die Tränen. Jetzt war sie im Land ihrer Träume, aber nichts von dem, was sie sich ausgemalt hatte, ließ sich hier auch nur ansatzweise wiederfinden. Wenn sie doch Sam anrufen könnte, um sich ein wenig trösten zu lassen. Aber der Kerl war für sie gestorben. Auf immer und ewig.

Es klopfte an die Tür. In aller Eile wischte sich Elda die Tränen ab und setzte sich aufrecht hin.

»Oui?«

Albertine kam herein, ein Tablett in den Händen. Sie hatte sich inzwischen umgezogen und trug eine zwei Nummern zu kleine Hose, so rosarot wie ein Zehn-Euro-Schein.

»Café au Lait?«

»Ja. Gerne.«

Albertine setzte sich zu Elda aufs Bett und goss zuerst Kaffee in eine Bol, dann kam reichlich heiße Milch dazu. Ein vertrauter Wohlfühlgeruch stieg Elda in die Nase.

»Hast du geweint?«

»Nein«, log Elda und klaubte peinlich berührt ein paar Fusseln von der Tagesdecke.

»Egal wo du hingekommen wärst…« Albertine reichte ihr die Bol. »Einleben müsstest du dich überall. Setz dich also nicht unter Druck, alles ganz prima zu finden.«

Auch wenn Elda nicht jedes Wort verstanden hatte, den Sinn hatte sie begriffen. Albertine ahnte offenbar genau, wie es in Elda aussah. Immerhin schien ihre Mutter kein bisschen sauer zu sein, was sie ihr hoch anrechnete.

»Danke für den Kaffee«, sagte Elda mit belegter Stimme.

»Danke für die Vase! Sie ist wirklich wunderschön.«

Weil Elda nicht gewusst hatte, was sie Albertine mitbringen sollte, hatte sie sich für eine grüne, schlanke Vase entschieden, die ihr mal auf dem Flohmarkt in die Hände gefallen war.

»Stéphane gefällt die Krawatte auch sehr.«

Zwar war Elda nicht klar, ob das der Wahrheit entsprach – Albertine lächelte so schief –, aber das erschien ihr im Moment auch nicht so wichtig. Woher hätte sie denn wissen sollen, was diesen Mann, von dem sie nur Alter und Beruf kannte, interessierte?

»Möchtest du dich vielleicht zu Stéphane ins Musikzimmer setzen? Es dauert noch etwas, bis das Essen fertig ist.«

Elda konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Das sonnengelbe Kabuff, das von CDs und Büchern überquoll, schimpfte sich also hochtrabend Musikzimmer. »Nein, danke«, sagte sie dann. »Ich ruf besser mal meine Eltern an.«

Albertine nickte. »Das Telefon steht im Flur.«

*

Eine knappe halbe Stunde später rief Albertine zum Essen. Elda hatte ihr Angebot nicht angenommen und trotz durchrasselnder Einheiten von ihrem Handy aus zu Hause angerufen. Aus Angst, sie könne wieder zu heulen anfangen und damit vor Albertine und Stéphane als absolute Fehlbesetzung dastehen. Zum Glück hatte sie sich dann doch beherrschen können. Wenn sie auch nicht in den höchsten Tönen schwärmte, so vermied sie es zumindest, über die Hochhaussiedlung, die merkwürdige Wohnung und den noch merkwürdigeren Sohn der Familie zu lästern. Nur bruchstückhaft erzählte sie von ihren netten Gasteltern – denn nett waren sie allemal –, dann legte sie rasch auf.

Der Abendbrottisch im Wohnzimmer war festlich gedeckt. Eine dunkelrote Decke fiel bis auf den Boden, Kerzen brannten und Albertine hatte sich sogar die Mühe gemacht, die Papierservietten kunstvoll zu falten.

Etienne saß schon auf seinem Stuhl und pulte an den Fingernägeln herum, als Stéphane Elda wie die Braut in der Kirche zu ihrem Platz führte.

»Salut«, murmelte Etienne, indem er kurz aufsah, dann pulte er in aller Seelenruhe weiter.

In Eldas Magen krampfte sich alles zusammen. Sie hatte überhaupt keine Lust mehr, diesem langhaarigen Kotzbrocken jetzt noch die CD zu schenken, andererseits wäre sie sich blöd vorgekommen das Präsent einfach für sich zu behalten. Sie stand auch gar nicht besonders auf diese Band, die ihre rockigen Stücke bisweilen auf Französisch sang. Genau wie die Vase und die Krawatte war die CD aus der Not heraus geboren.

Mit einer hastigen Bewegung legte sie das Päckchen vor Etiennes Teller und sagte wie einstudiert: »Für dich. Das ist eine neue Hamburger Band.«

Etienne zog das Geschenk langsam zu sich heran und bedankte sich, indem er sich zu einem kleinen Lächeln herabließ. Noch während er es in Zeitlupe auspackte, so als fürchte er sich geradezu vor dem Inhalt, kam Albertine mit einem Topf herein und legte eine dampfende Artischocke auf jeden Teller.

Ausdruckslos musterte Etienne die CD.

»Die Gruppe singt auf Französisch«, sagte Elda, weil sie die peinliche Stille nicht ertrug. »Sie ist bei uns sehr angesagt.«

Etienne nickte zwar, wandte sich aber sogleich wieder seinen abgekauten Fingernägeln zu. Er hatte nicht mal Anstalten gemacht, sich das Booklet anzusehen. Frustriert starrte Elda auf das stachelige Gemüse auf ihrem Teller, von dem sie nicht die geringste Ahnung hatte, wie sie es überhaupt essen sollte. Sie wünschte sich weg. Ganz weit weg.

Wein wurde ausgeschenkt – Elda und Etienne bekamen nur einen kleinen Schluck –, dann erhoben ihre Gasteltern die Gläser und Stéphane trug feierlich ein Gedicht vor, das Elda nicht mal ansatzweise verstand.

»Baudelaire«, verriet Albertine stolz, als wäre Elda nun wesentlich schlauer. Sie beugte sich weit über den Tisch, um dann lächelnd zu demonstrieren, wie man die Blätter der Artischocke abzupfte, das untere weiche Ende in die Vinaigrette tunkte und es zu guter Letzt laut schmatzend ablutschte. Elda machte es ihr nach, fand jedoch nichts Besonderes an dem Geschmack. Eigentlich schmeckte es in erster Linie nur nach Dressing.

Während nun ausgiebig gelutscht und geschmatzt wurde, bombardierten Albertine und Stéphane ihre neue Tochter mit Fragen. Sie wollten wissen, wie sie sich mit ihren Eltern verstand, wie sie in der Schule zurechtkam und was sie in ihrer Freizeit tat, lauter Dinge, die nicht so leicht zu beantworten waren, und schon gar nicht auf Französisch. Elda mühte sich ab, Rede und Antwort zu stehen, vergeblich suchte sie nach Vokabeln, sie stotterte und stammelte, und immer wieder mussten ihr die Nouvels fertige Sätze in den Mund legen, zu denen sie fleißig nickte, selbst wenn sie nicht der Wahrheit entsprachen. In der Schule brachte sie es pro Unterrichtsstunde auf maximal fünf Sätze; dass sie hier, während sie sich mit den Artischockenblättern abquälte, komplette Referate halten musste, überforderte sie maßlos.

Etienne saß die ganze Zeit da und sagte keinen Mucks. Erst als sich Albertine ganz unbefangen erkundigte, ob sie denn zu Hause einen Freund habe und Elda feuerrot anlief, merkte Etienne auf. Er warf seine langen Haare nach hinten, grinste und wollte gar nicht mehr damit aufhören.

»Nein, ich habe keinen Freund«, sagte Elda mit Blick auf ihre zerfledderte Artischocke und fugte in Gedanken nicht mehr hinzu. Die Gesichtsröte klang langsam wieder ab und auch Etienne hörte auf zu grinsen.

»Und du?« Elda sah Etienne herausfordernd an. »Hast du eine Freundin?«

Jetzt war Etienne dran mit Rotwerden. Wahrscheinlich hatte er einfach nicht damit gerechnet, dass sie ihn fragen würde, außerdem machte er sowieso den Eindruck, als wären Mädchen für ihn Wesen von einem fernen Planeten. Also stand er peinlich berührt auf und nuschelte, er müsse sich dringend in der Küche um den Hauptgang kümmern.

»Er kann gar nicht kochen.« Albertine lächelte säuerlich und Stéphane fugte hinzu: »Mein gut geratener Sohn ist schon überfordert, wenn er nur die Kartoffeln in eine Schüssel füllen soll!«

Albertine löste das letzte Blatt von ihrer Artischocke und steckte den weichen Boden mit einem wohligen Grunzer in den Mund. Noch während sie kaute, entschuldigte sie sich bei Elda für ihre Frage eben. Sie habe nicht indiskret sein wollen. Und was Etienne angehe: Wenn er sich weiter so fabelhaft der Mädchenwelt gegenüber benehmen würde, würde sich nie ein weibliches Wesen für ihn interessieren. Damit erhob sie sich, stapelte die Vorspeisenteller zusammen und bewegte ihren wuchtigen Körper in Richtung Tür. Elda bot rasch ihre Hilfe an, das gehörte sich ja wohl so, doch Albertine lehnte dankend ab.

Kaum waren sie allem, nestelte Stéphane verlegen an seiner Krawatte. Elda überlegte krampfhaft, was sie sagen könnte, aber ihr fiel beim besten Willen nichts ein. Der Mann war ihr so fremd, außerdem stieß sie immer wieder an ihre sprachlichen Grenzen, und da auch Stéphane ganz im Gegensatz zu seiner Frau eher ein Mann der leisen Töne zu sein schien, schwiegen sie nun beide im Duett.

Sieben Monate an diesem Tisch, dachte Elda. Sieben Monate ein Ekelpaket von Etienne ertragen müssen. Sieben Monate Artischocken auslutschen. Über den Daumen gepeilt waren das mehr als 210 Tage und noch hatte sie nicht mal einen halben Tag hinter sich gebracht.

»Meine Frau hat heute etwas ganz Besonderes gekocht«, erklärte Stéphane jetzt in das Ticken der Wanduhr hinein und lächelte dabei stolz.

Höflichkeitshalber lächelte Elda zurück und rätselte gleichzeitig, was das wohl sein mochte. Falls sie nicht alles täuschte, zog bereits verräterischer Bratengeruch durch die Wohnung. Ein Albtraum, wenn es wirklich Fleisch geben würde.

Schon kam Etienne zurück, wie immer schlurfend, und stellte eine Schüssel mit länglich geformten Kartoffeln auf den Tisch. Ohne einen Ton zu sagen schlurfte er wieder aus dem Wohnzimmer. Eine Weile drang Geklapper, vermischt mit Albertines Stimme, aus der Küche, Etienne sagte etwas in aufgeregtem Tonfall, dann schlug eine Tür und Mutter und Sohn brachten endlich das restliche Essen herein. Etienne trug eine wagenradgroße Salatschüssel vor sich her, Albertine hielt eine Fleischplatte wie eine Trophäe hoch.

»Cervelle de veau!«

Sie stellte den Teller ab, gleichzeitig wich Elda sämtliches Blut aus dem Gesicht. Soweit sie in Französisch richtig aufgepasst hatte, hieß cervelle Gehirn und veau Kalb. Was also nur bedeuten konnte, dass es Kalbshirn gab. Das Gehirn eines süßen Kalbes in einer bräunlichen Soße!

»Bitte!« Albertine drückte Elda die Auffüllgabel in die Hand.

Eldas Finger zitterten, während sie wie betäubt auf das dampfende Essen starrte.

»Keinen Hunger?«, erkundigte sich Stéphane besorgt.

»Aber… ich … ich esse doch kein Fleisch.« Elda reichte die Gabel einfach an Etienne weiter und bemühte sich den Blick von den Gehirnbrocken auf der Servierplatte abzuwenden, was jedoch gar nicht so einfach war. Der Anblick ekelte und faszinierte sie zugleich.

»Ach so, jaja …« Die Enttäuschung stand Albertine ins Gesicht geschrieben. »Aber vielleicht willst du wenigstens mal einen Happen probieren?«

Und Stéphane fugte mit einem Augenzwinkern hinzu: »Albertines Cervelle ist in ganz Frankreich berühmt!«

»Danke, aber … Ich esse nie Fleisch.« Elda kämpfte mit einem Würgereiz. »Niemals!«

Albertine musterte Elda erstaunt. Als könne sie einfach nicht glauben, dass sie die Sache tatsächlich strikt durchzog.

»Das ist jetzt aber … dumm.« Sie kratzte sich nervös das Kinn, auf dem ein einsames Haar spross. »Ich hab jetzt gar nichts ‘weiter für dich zu essen.«

»Kartoffeln und Salat reichen völlig!« Mit aufgesetztem Lächeln zog Elda die Salatschüssel zu sich heran und häufte sich eine große Portion auf.

Albertine sagte nichts weiter, sondern hielt Etienne den Teller mit dem Fleisch hin, der sich dann, immer wieder beeindruckt zu Elda rüberlinsend, auffüllte.

Das Essen verlief schweigend. Nicht mal Albertine, die sonst nie um eine Antwort verlegen zu sein schien, gab einen Ton von sich. Elda kaute hohl auf ihren Kartoffeln herum. Sie schmeckten ihr, genauso der Salat, nur wie sollte sie mit Appetit essen, wo sie gleich innerhalb der ersten Stunden von einem Fettnäpfchen ins nächste gestolpert war? Etienne hatte sie von Anfang an nicht gemocht und auch Albertine war sicher nicht mehr weit davon entfernt. Allein Stéphane aß mit einer Gleichmütigkeit, als könne ihn gar nichts erschüttern.

Erst beim Nachtisch kam das Gespräch wieder in Gang. Elda lobte die Vanillecreme in höchsten Tönen – sie schmeckte einfach fantastisch – und auf Albertines Gesicht zeigte sich ein mattes Lächeln. Man würde sich schon arrangieren – Kalbshirn hin, Kalbshirn her.

Küsse und Café au Lait

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