Читать книгу Küsse und Café au Lait - Susanne Fülscher - Страница 9
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ОглавлениеDas Flugzeug landete pünktlich auf dem Flughafen Charles de Gaulle.
Trotzdem war Elda schon mit den Nerven fertig, denn genau in dem Moment, in dem das Flugzeug zur Landung angesetzt hatte und bereits durch die Wolken hindurchholperte, war es doch noch passiert. Mit einer hastigen Bewegung hatte der Mann neben ihr die Tüte aus der Lasche des Vordersitzes gezogen, das Gesicht nicht mehr rot, sondern kalkweiß, und unter widerwärtigem Würgen hineingespuckt. Was für ein Auftakt!
Als das Flugzeug endlich ruckartig bremste, wollte Elda bloß noch raus. Egal wie. Egal was sie da draußen erwartete.
Erst als sie am Förderband auf ihren Koffer wartete, fiel ihr wieder ein, weshalb sie eigentlich hier war. Nur wenige Meter von hier entfernt wartete jetzt ihre Familie – statt ihrer Mutter das Walross, statt ihres Vaters der Dürre, dazu noch dieser langhaarige Junge – und sie ärgerte sich plötzlich, dass sie den Nouvels nicht mehr als zwei Briefe geschrieben hatte. Angerufen hatte sie auch nicht. Aus Angst, sich nicht ausdrücken zu können. Jetzt wurde aus der Angst nach und nach Panik.
Vor lauter Nervosität begann sie rückwärts auf Französisch zu zählen: cent, quatre-vingt-dix-neuf, quatre-vingt-dix-huit, quatre-vingt-dix-sept … Da kam er endlich angefahren, ihr funkelnagelneuer Koffer mit dem orangefarbenen Streifen auf der Breitseite. Zu schick für ein 16-jähriges Mädchen, aber bestimmt nicht zu schick für Paris, die Stadt der Mode und der bestgekleideten Frauen der Welt.
Eldas Herz stolperte, als sie nach dem Gepäckstück griff und es unter einigen Mühen auf den Boden wuchtete. Es wurde ernst. Verdammt ernst. Paris war kein Traum mehr, das kam ihr in dem Moment, als sie wie ferngesteuert Richtung Sortie ging, wie ein Paukenschlag zu Bewusstsein. Das Drängeln und Schubsen der Leute war ebenso Realität wie der stickige Dunst, der in dem ganzen Gebäude zu wabern schien.
Menschen, wohin Elda auch sah, eine undefinierbare Masse, in der sie die drei Personen von dem Foto niemals würde ausfindig machen können. Automatisch verlangsamte sich ihr Schritt. Dabei bemerkte sie jedoch nicht, dass es hinter ihr jemand besonders eilig hatte und ihr rücksichtslos seinen Gepäckwagen in die Ferse rammte. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihren Fuß.
»Au! Verdammt!«
Quasi im selben Moment landete eine Hand auf ihrer Schulter, Elda fuhr herum und sah in das grell geschminkte Gesicht einer wuchtigen Frau, die in einer abenteuerlichen Kombination aus Blumenrock und Blazer steckte.
»Elda … c’est toi?!«, rief sie, indem sie die zweite Silbe des Namens betonte.
»Oui, Madame«, antwortete Elda hölzern.
Alles an der Frau war übertrieben. Ihre Größe, ihr breites Grinsen, vom Make-up ganz zu schweigen. Statt das Rouge dezent zu verwischen hatte sie sich zwei rosarote Apfelbäckchen gemalt, ihr Lippenstift schillerte pink und war zudem mit Gloss übermalt.
Jetzt lachte sie laut auf. »Das Madame lässt du bitte gleich weg!« Zum Glück verstand Elda bisher fast jedes Wort. »Ich heiße Albertine. Und …« Sie zeigte auf den zierlichen Mann an ihrer Seite, der einen piekfeinen Anzug mit Fliege trug: »Das ist Stéphane.«
Elda reichte ihrem neuen Vater die Hand, erst dann fiel ihr Blick auf den Jungen, der nur zwei Schritte von ihnen entfernt stand. Etienne? Auf dem Foto hatte er vollkommen anders ausgesehen – weniger hübsch, weniger freundlich, dafür mit kleinerer Nase –, aber vielleicht war seit der Aufnahme ja einige Zeit vergangen und ihr Bruder hatte sich einfach verändert.
»Darf ich vorstellen?«, schaltete sich jetzt Monsieur Nouvel ein. Seine Stimme war tief und männlich und wollte so gar nicht zu seiner Erscheinung passen. »Das ist Serge.«
Elda sah zwischen Serge und ihren Gasteltern hin und her. In den Briefen hatten die beiden von einem Etienne gesprochen. Oder doch nicht? Langsam begann sie an ihrem Verstand zu zweifeln.
»Hi« Serge streckte ihr die Hand entgegen. »Ich gehöre nicht direkt zur Familie. Eher indirekt.« Er lächelte smart. »Ich bin ein Freund von Etienne.«
Monsieur Nouvel griff inzwischen nach dem Koffer, und während er Elda aus dem Flughafengebäude bugsierte, erklärte Albertine, Etienne habe eine leichte Magenverstimmung und Serge sei daher netterweise eingesprungen. Zur Bestätigung zwinkerte ihr der Junge von der Seite her zu. Er machte einen sympathischen Eindruck; nicht mal der Zinken in seinem Gesicht konnte seinem Charme etwas anhaben.
Unter Madame Nouvels fortwährendem Gebrabbel wurde Elda zwischen parkenden Taxen, Autos und Reisenden hindurch zum Parkhaus geschleust, allerdings verstand sie jetzt nur noch einen Bruchteil dessen, was geredet wurde. Irgendwie ging es um die Sicherheit von Verkehrsmitteln, um das Wetter in Deutschland, dann war Madame Nouvel aus unerfindlichen Gründen plötzlich beim Thema Kurzsichtigkeit. Als sich auch noch Monsieur Nouvel einschaltete, um über die Kunstschätze von Paris zu referieren, schaltete Elda auf Durchzug. Sie fühlte sich auf einmal so erschöpft, als hätte sie drei Tage und Nächte am Stück durchgetanzt.
Endlich waren sie beim Auto, einem heruntergekommenen Renault in Himmelblau. Elda versuchte ihre Überraschung zu verbergen. Ihre Eltern kauften sich in der Regel alle drei bis vier Jahre einen neuen Wagen. Um so eine Schrottkiste, in der es nach Benzin, faulen Äpfeln und verschwitzten Sportklamotten roch, hätten sie sicher einen großen Bogen gemacht.
Madame Nouvel setzte sich ans Steuer, Elda wurde trotz lautstarken Protests auf den Beifahrersitz verfrachtet. So blieb den Männern nichts anderes übrig als sich nach hinten zu quetschen, wo sie erst mal jede Menge Eierkartons, Schokoladenpapier und Werkzeuge beiseite schaufeln mussten, um überhaupt Platz zu finden.
»Ist es weit bis zur Wohnung?«, fragte Elda in fließendem Französisch. Allerdings hatte sie sich für diesen kurzen, einfachen Satz erst minutenlang die Vokabeln zurechtlegen müssen. Das konnte ja heiter werden …
»Eine knappe Stunde. Je nach Verkehrslage.«
Mit der Nase an der Windschutzscheibe fuhr Madame Nouvel aus dem Parkhaus heraus, dann chauffierte sie den Renault rasant durch den Feierabendverkehr. Immer wieder ertappte sich Elda dabei, wie sie auf der Beifahrerseite in die nicht vorhandenen Bremsen ging. Zumal halb Paris mit dem Auto unterwegs zu sein schien. Alle paar Sekunden wurde irgendwo gehupt, unrechtmäßig eingeschert oder zu dicht aufgefahren. Zum Glück war Madame inzwischen verstummt; die Verkehrslage erforderte ihre ganze Konzentration. Was hinten auf der Männerbank geredet wurde, war wegen der laut brummenden Motoren sowieso nicht zu verstehen. Ein-, zweimal drehte sich Elda um und blickte in Serges grinsendes Gesicht. Immerhin einer, der sich über ihre Ankunft zu freuen schien.
Der Renault bahnte sich nur mühsam seinen Weg durch die stinkende, mit Autos verstopfte City. Es dauerte eine gute Stunde, bis sich die Verkehrslage ein wenig beruhigte, doch statt schmucker Altbauten aus der Gründerzeit tauchten jetzt Hochhaussiedlungen auf. Graue Betonklötze, so weit das Auge reichte, ein paar dazwischen gesetzte Sträucher gaben nur eine halbherzige Dekoration ab.
»Wie hässlich …«, sagte Elda mit Blick nach draußen. »Das ist also auch Paris.«
»Ganz genau.« Madame Nouvel schmunzelte in sich hinein. »Und wo wir wohnen, ist es auch nicht viel hübscher. Leider.«
Im Bruchteil einer Sekunde lief Elda knallrot an. Sie war ganz automatisch davon ausgegangen, dass die Nouvels in einer verschnörkelten Stadtvilla irgendwo am Stadtrand wohnten, vielleicht auch in einer großzügigen Altbauwohnung, nicht jedoch in einer Hochhaussiedlung.
Madame Nouvel lächelte amüsiert, woraufhin Elda in ihrem Sitz ein paar Etagen tiefer rutschte und beschämt den Kopf einzog. Serge pfiff auf der Rückbank irgendeine Melodie, ansonsten war nur das Brummen des Motors zu hören. So fuhren sie eine Weile, dann bog Madame Nouvel von der Hauptstraße ab und durchquerte eine trostlose Trabantensiedlung. Danach ging es noch ein paar Mal im Zickzack, bevor sie quietschend in die Bremsen stieg und einen Kantstein hochpolterte.
Eldas Schultern waren inzwischen bis zu den Ohren gewandert, sie wagte kaum nach draußen zu gucken. Zu groß war ihre Angst, dass alles noch hässlicher als in ihrer Vorstellung sein könnte.
»Et voilà!« Monsieur Nouvel klatschte in die Hände, als wolle er seine Mitfahrer antreiben, ein bisschen schneller auszusteigen.
Mit puddingweichen Beinen quälte sich Elda aus dem Renault.
»Tut mir Leid, dass wir dir kein Haus mit Pool bieten können«, bemerkte Madame Nouvel augenzwinkernd, während Serge und ihr Mann den Koffer ausluden.
»Macht nichts«, nuschelte Elda, »und … bitte entschuldigen Sie wegen vorhin.«
Eine Schweißwolke umwehte sie, als Madame Nouvel ihr den Arm um die Schulter legte. »Zum allerletzten Mal: Albertine und du – d’accord?!«
Elda nickte. Monsieur Nouvel umarmte sie ebenfalls. »Siebter Stock.« Er deutete auf den schmutzig-grauen Kasten, der vor ihnen in den Himmel ragte, und fügte beinahe entschuldigend hinzu: »Die Aussicht ist allerdings fantastisch.«
Serge wollte mit ins Haus kommen, doch die wuchtige Frau, die Elda in Gedanken schon mal zur Übung Albertine nannte, sagte hart, aber herzlich: »Wiedersehen, Serge. Bis bald!«
Serge stutzte, blieb jedoch wie auf Kommando stehen und hob die Hand zum Gruß. »Au revoir. Au revoir, Elda.«
Damit drehte er ab und ging tänzelnden Schrittes davon. Albertine marschierte vorneweg zum Hochhaus. Feuchte Kälte schlug ihnen entgegen, als sie das Treppenhaus betraten. Wie selbstverständlich steuerte Albertine den Fahrstuhl an und hupte ungeduldig auf einem der Knöpfe herum.
Elda hasste Fahrstühle, schlimmer, sie flößten ihr Angst ein, doch da sie sich nach dem Fauxpas im Auto nicht gleich wieder zickig anstellen wollte und überdies keine Lust hatte, die sieben Stockwerke nach oben zu stiefeln, folgte sie den Nouvels in den metallenen Käfig. Es roch so heftig nach Schimmel, dass Elda einen Moment der Atem stockte. Die Tür ging surrend zu, und während Stéphane den Koffer auf den Boden sinken ließ – der Fahrstuhl reagierte sofort mit einem bedrohlichen Rucken -, studierte sie die mit Graffiti besprühten Wände. Fiche-moi la paix und Fous le camp, stand dort geschrieben, derbe Slangausdrücke, die sie nicht mal genau hätte übersetzen können. Wo zum Teufel war sie hier gelandet?
Der Fahrstuhl fuhr ruckelnd nach oben, zum Glück öffnete sich die Tür am Ziel sofort wie von Geisterhand, einmal den Gang bis zum Ende entlang, dann standen sie vor einer mit Stoffsonnenblumen dekorierten Tür. Eldas Herz hämmerte laut, als Albertine aufschloss. Wenn die Wohnung nun genauso grässlich wie der Fahrstuhl, der Flur, ja der gesamte Wohnblock war?
»Etienne, wir sind da!«, rief Madame und zu Elda gewandt sagte sie: »Herzlich willkommen!«
Elda betrat nur zögerlich die Wohnung. Ein frischer Blumenstrauß stand auf der Kommode, die Wände leuchteten himmelblau, ansonsten war der Flur so schmal, dass man sich kaum einmal um die eigene Achse drehen konnte. Gentlemanlike nahm Monsieur Nouvel ihr die Jacke ab und hängte sie an die Garderobe, dann schleppte er ihren Koffer gleich in das erste Zimmer links. Seine Frau schubste Elda mit sanftem Druck hinterher.
»Dein Reich, Elda.« Sie drehte sich um die eigene Achse. »Hier kannst du tun und lassen, was du willst.«
»Oui, merci.« Elda sah sich verstohlen um. Das Zimmer hatte nicht mehr als sieben Quadratmeter, wahrscheinlich eher weniger. An der linken Wand stand ein Eisengestellbett mit einer blümchenübersäten Tagesdecke, vor dem Doppelfenster ein roter Plastiktisch, schräg gegenüber ein Holzschrank. Eine Apfelsinenkiste mit Deckchen diente als Tisch, davor befand sich ein grüner Samtsessel, auf dem ihr ein Plüschhase entgegenglotzte.
Albertine zupfte das Deckchen auf der Apfelsinenkiste zurecht.
»Gefällt es dir?«
Krampfhaft bemüht, ihrer Gastmutter nicht in die Augen sehen zu müssen, würgte Elda ein oui hervor. Bestimmt hätte sie ihr die Lüge angesehen und nach der peinlichen Szene im Auto wollte sie die Nouvels auf keinen Fall ein weiteres Mal verletzen. Weil sie nicht wusste, wo sie hinschauen sollte, zählte sie die Blümchen auf der Tapete. Elda hasste Blümchen, zumindest auf Stoffen und an Wänden, jetzt hatte sie Unmengen davon.
»Es gefällt ihr nicht«, zischte Stéphane seiner Frau zu.
»Doch«, log Elda. »Zu Hause habe ich einen … ähnlichen Sessel.« Etwas Plausibleres war ihr auf die Schnelle nicht eingefallen. Dass sie in Deutschland ein richtiges Luxuszimmer von 20 Quadratmetern mit sonnengelben Möbeln, einem iMac, einem eigenen Fernseher plus DVD und einer CD-Anlage hatte, verschwieg sie lieber.
»Etienne, nun komm endlich!«, rief Albertine.
Eine Tür klappte, kurz darauf schlurfte ein langhaariger Junge ins Zimmer, der tatsächlich Ähnlichkeit mit dem Typen auf dem Foto hatte.
»Das ist Elda«, sagte ihre Gastmutter nicht ohne Stolz in der Stimme.
»Tag«, sagte Etienne und reichte Elda schlaff die Hand.
»Hallo, Etienne.«
Im gleichen Moment ließ Etienne seine Hand wieder fallen und drehte den Kopf zur Seite.
»Du könntest ihr vielleicht mal die Wohnung zeigen«, schlug Stéphane vor.
»Keine Zeit.« Schon machte Etienne auf dem Absatz kehrt und schlurfte wieder aus dem Zimmer.
Albertine hob entschuldigend die Schultern. »Das Abitur nächstes Jahr. Weißt du – er hat so viel zu lernen. Und dann die Magenverstimmung …«
Elda nickte zwar verständnisvoll, fand den Auftritt ihres Gastbruders dennoch reichlich daneben. Er hatte nicht mal eine Miene verzogen, geschweige denn gelächelt.