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Sieh mich mal an

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»Ach, lass mich doch!«

Wütend auf mich selbst, auf Tini und auf den Rest der Welt stopfe ich meine Bücher und Hefte in die Tasche und stürme los. Mein Blick fällt auf die große runde Schuluhr, die wie ein Mahnmal über der Tür zum Sekretariat prangt. Sieben nach eins. Wenn ich mich beeile, schaffe ich vielleicht noch den Bus um zehn nach eins.

»Luisa!«, höre ich Tini krähen, doch ich spurte wie von siebenschwänzigen Ungeheuern verfolgt los. Üblicherweise nehmen wir gemeinsam den Bus um 20 nach, aber ich habe heute keine Lust auf ihr Schlaumeiertum. Warum hast du nicht … Hihi … Hab ich’s nicht gleich gesagt … Alex ist eben eine Nummer zu groß für dich … Übe doch erst mal an Exemplaren wie Thommie … Du hast es eben nicht drauf … Guck dich bloß mal an. Du bist doch unscheinbarer als ein tarnfarbener Gecko …

Da! Der Bus! Ich laufe weiter, erreiche ihn in allerletzter Sekunde und quetsche mich hinter einer Frau, die gerade einen unhandlichen Einkaufstrolley ins Innere des Busses hievt, durch die Falttür. Schon geht sie schmatzend hinter mir zu. Tini bin ich los, uff. Keuchend lasse ich mich auf die Sitzbank gleich hinter dem Fahrer sinken und merke, wie sich ein schadenfrohes Grinsen in mein Gesicht schleicht. Hat unsere Freundschaft schon so gelitten, dass ich mich freue Tini mal für ein paar Minuten los zu sein? Sie hat aber auch selbst Schuld. Immer muss sie mich klein machen oder provozieren.

Draußen fliegen kahle Bäume vorüber, die so vertrauten Häuserblöcke, an denen ich Woche für Woche, Tag für Tag entlangfahre. Passend zu meiner Stimmung ist der Himmel in ein dunkles Grau getunkt.

Alex … Natürlich bin ich nicht in ihn verliebt, wie könnte ich auch, ich kenne ihn ja gar nicht, aber er sieht schon verdammt gut aus. So blendend, dass allein der Gedanke an ihn ein Kribbeln in meiner Magengrube verursacht …

»Hey, du hast da was verloren.«

Ich blicke auf und nehme zunächst bloß meerblaue Augen hinter rechteckigen, schmalen Brillengläsern wahr. Danach dunkle Locken, die ein rundliches Gesicht umrahmen.

»Et voilà!«

Der Typ – ich schätze ihn auf 17, 18 – hält mir meine Monatskarte hin. Grinst. Weiße Zähne, ordentlich wie bei einer Perlenkette aufgereiht, werden sichtbar, doch das Auffälligste an ihm ist sein zerknitterter Vintage-Anzug und ein roter Schal, zweimal lässig um den Hals geschlungen.

Ich bedanke mich höflich – ohne Monatskarte bin ich wirklich aufgeschmissen –, und während ich noch überlege, wie das bloß passiert sein konnte, lässt sich der Kerl neben mich sinken und streckt seine Beine weit von sich.

»Dummerweise sitze ich jetzt nur im falschen Bus«, murmelt er und kratzt auf der Plexiglasscheibe herum, die uns vom Busfahrer trennt. »Normalerweise nehme ich den Achter.« Er stößt einen Seufzer aus. »Jetzt bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als bis zur Endstation mitzufahren und dann die 204 bis zur Lindenallee zurück zu nehmen.«

»Mm«, mache ich nur und beschließe kein schlechtes Gewissen zu haben.

»Na ja, eigentlich halb so schlimm«, räumt der Typ schon im nächsten Moment ein.

Ich nicke und schaue aus dem Fenster.

»Hey!« Er tippt mich behutsam an. »Du könntest trotzdem ruhig ein bisschen gesprächiger sein. Immerhin geht mir deinetwegen eine halbe Stunde flöten.«

»Oh, das tut mir leid.« Ich lächele schief und hoffe, dass er nicht vorhat mich weiter in ein Gespräch zu verwickeln.

Irgendwie ist mir nicht nach Reden zu Mute.

Doch bereits zwei Atemzüge später spüre ich wieder seine Hand auf meiner Schulter. »Schlecht gelaunt?«

»Ja, ziemlich«, antworte ich wahrheitsgemäß. Alex … Tini … Meine grässliche Feigheit …

»Na hör mal! Heute ist so ein schöner Tag!«

»Finde ich nicht.«

»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«

»Du darfst aber nicht fragen.«

Der Dunkelgelockte lächelt mich an. »Tut mir leid, ich bin immer viel zu neugierig. Ist eine schlechte Angewohnheit von mir.«

Eine Weile ruckelt der Bus die Weidenallee entlang, vorbei an Restaurants, Geschäften, Wohn- und Bürohäusern, dann bremst er plötzlich auf der Höhe meines Lieblingslokals, einem indischen Imbiss mit Plastikdecken und Plastikblumen auf den Stehtischen. Stau. Mitten auf dem Bürgersteig steht ein Pärchen eng umschlungen und küsst sich. Er ist groß, bullig und in Lederkluft, sie klein und zierlich und trägt rosafarbene Leggings, dazu sexy Highheels. Ich kann nicht anders und fange hysterisch an zu kichern.

»Darf ich auch mitlachen?«, mischt sich mein Sitznachbar ein.

»Ich sehe da draußen gar nichts Lustiges.«

»Ich eigentlich auch nicht«, weiche ich aus und denke, genau das ist des Rätsels Lösung! Typen – so kann man es auch in den Heften nachlesen, die immer bei Tini herumliegen – stehen auf kleine, hilflose Wesen, die sie anhimmeln. Angeblich weckt das ihre Beschützerinstinkte. Wenn Alex nur halbwegs in die Kategorie normaler Kerl fällt – wovon ich bei seiner Herzensbrecher-Optik ausgehe –, könnte ich ihn mit dieser Methode vielleicht für mich gewinnen. Beispielsweise sinke ich ohnmächtig vor seine Füße und er wird mich aufsammeln. Oder ich stehe tränenüberströmt am Schultor und er wird mich trösten. Vielleicht leiht Tini mir zu diesem Zweck sogar ihren Steppjackentraum in Quietschrosa.

»Guck mich mal an«, dringt die Stimme des Gelockten an mein Ohr.

»Wozu?«, entgegne ich und fixiere weiterhin das Prototyp-Pärchen.

»Ich weiß nicht … Irgendwie erinnerst du mich an eine berühmte Hollywoodschauspielerin. Ich komme bloß nicht auf den Namen.«

»Ich?«, frage ich, als wäre ich nicht das einzige Mädchen an seiner Seite.

»Ja, du! Du hast nämlich eine sehr markante Nase.«

»Vielen Dank, dass du mich daran erinnerst.« Eher gekränkt als geschmeichelt drehe ich mich zur Seite und richte meinen Blick wieder nach draußen. Seit mir im zarten Alter von elf Jahren zum ersten Mal mein römisches Hakennasenmodell aufgefallen ist, leide ich darunter. Und bin um jeden Tag froh, an dem keine gemeinen Sprüche kommen.

»Aber sie gefällt mir nun mal! Weißt du, dass du ein richtiges Charaktergesicht hast? Eins, das man nicht so schnell vergisst?«

Das reicht. Nie im Leben meint er ernst, was er gerade von sich gibt. Jungs machen vielleicht Tini Komplimente, nicht jedoch mir, dem Mädchen mit dem köterbeigen Haar und der Hakennase.

»Es war ausgesprochen nett von dir, dass du mir meine Monatskarte gebracht hast«, sage ich und fahre schwungvoll herum, »nur müssen wir uns deswegen jetzt nicht stundenlang unterhalten, okay?«

»Wieso? Was spricht dagegen? Bevor wir hier bloß nebeneinanderhocken und uns langweilen …«

»Ich langweile mich aber nicht und verarschen lasse ich mich schon gar nicht.«

Der Typ sieht mich erstaunt an. »Hör mal … Ich hab’s wirklich nicht nötig, Mädchen zu verscheißern!«

»Umso besser. Dann hätten wir das ja geklärt. Lässt du mich mal durch?«

Ich stehe auf, und weil der Typ so gar keine Anstalten macht, sich zu erheben, klettere ich geschickt über seine Knie. Wie gut, dass ich an der nächsten Station endlich aussteigen kann.

»Tschüss«, presse ich hervor. »Und vielen Dank noch mal.«

»Ciao. Auf dass wir uns bald wiedersehen!« Er lächelt. »Du weißt ja: Man trifft sich immer zweimal im Leben.«

Du hast doch komplett einen an der Waffel, denke ich, als der Bus endlich abbremst und die Türen aufgehen.

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