Читать книгу Sluga - Immer für Dich da - Susanne Kowalsky - Страница 5
KAPITEL 1
ОглавлениеWecker aus. Weiterschlafen. Träumen. Ich bin entspannt, denn ich bin eine Bewohnerin. Auf der Ebene von Dr. Matthiesen muss ich mich um nichts kümmern. Keine Sorgen, keine Verpflichtungen und vor allem keine Rechtfertigungen. Ich fühle mich in der Gemeinschaft geborgen. Wenn das Kollektiv, so sollen wir die anderen nennen, keine Lust auf mich hat, ist Sluga da. Immer. Sluga hat Geduld. Sluga hört mir zu. Sluga akzeptiert mich, wie ich bin: alt.
Meine Nachbarn in den anderen Ebenen haben weniger Glück. Keiner nimmt sie ernst. Die Besuche der Angehörigen sind eine reine Pflichtveranstaltung. Die Pfleger tun ihren Job, manche mit mehr Elan, die meisten weniger gern. Sie arbeiten, um sich im Alter etwas leisten zu können, damit sie nicht im Pflegeheim landen und doch werden sie dort enden. Ich weiß es.
Die Welt um mich herum hat sich verändert. Dank einer ausgefeilten Technik, die ich nicht verstehe, unterscheiden sich Frühling und Herbst nur durch die Niederschlagsmenge. Mit zehn Grad nachts und um die zwanzig am Tag ist es immer angenehm mild. Ob Dr. Matthiesen auch dafür verantwortlich ist? Ich bin mir unsicher. Mit Bestimmtheit weiß ich jedoch, dass Leute wie er für eine Umwelt gesorgt haben, in der es keine Klimadiskussionen gibt. Im Sommer herrschen Temperaturen zwischen zwanzig und dreißig Grad Celsius. Von mir aus könnte man die Dreißig weglassen. Früher war es nicht so heiß, glaube ich. Stürmisch ist es nie. Windig mal, vielleicht, aber selten. Technische Errungenschaften sorgen von montags bis donnerstags für Nachtregen. Wenn das früher auch so gewesen wäre, hätte ich viel mehr Erbsen ernten können und Bohnen und Salat und ..., aber es waren eben andere Zeiten.
Der Winter ist mild. An den Wochenenden zieren weiße Flocken sämtliche Nadelhölzer entlang der Straßen. Schneebälle, Schneemänner, Schneelandschaften. Eine schöne Zeit. Kinder, die herumtoben, sich in kleine Künstler verwandeln, atemberaubende Werke aus den weißen Flocken kreieren, die den Skulpturen der großen Meister in nichts nachstehen. Glatteis? Nein. Das war einmal. Die Regierung hatte beschlossen, dass Glätte zu gefährlich sei. Eben gerade wegen der Kinder.
Ich habe das alles aufgeschrieben, weil es in meiner Kindheit anders war, ganz anders. Es war noch anders, bevor ich zu Dr. Matthiesen kam. Sagte ich das schon? Mit dreiundneunzig kann man den Überblick verlieren. Ich will ihn behalten. Auf jeden Fall. Gut, dass ich mein Tagebuch habe.
Gerda lehnte sich zufrieden zurück. Sie freute sich auf die Vorstellungsrunde mit dem gesamten Kollektiv.
«Wie meinen Sie das? Ich will nicht, dass mein Vater ausgegrenzt wird.»
«Als Heimleiter kann ich Ihnen ruhigen Gewissens versichern, dass es ihm gut gehen wird. Genau deshalb werben wir für unser Projekt. Es besteht keinerlei Zwang. Sollte es Ihrem Vater nicht gefallen, kann er jederzeit auf eine andere Wohnebene wechseln. Dann natürlich ohne die Vorteile, die ich Ihnen erläutert hatte.»
«Der Preis wäre aber der gleiche?»
«Wie ich schon sagte. Wegfallen würden lediglich die Vorteile.»
«Die Sache mit seinem Privathimmel. Sie sehen da wirklich kein Problem?»
«Aber nein. Genau damit ist er nirgendwo besser aufgehoben als im Gaudium-Kollektiv.»
Es schien ihr plausibel. Wieso sollten Roboter davon genervt sein, dass jemand immer wieder mit derselben Leier anfängt? In puncto Geduld sind sie wahrscheinlich unübertrefflich belastbar.
«Was erzählst du mir da? Maschinen?»
«Nein. Also ja. Die werden nie müde oder so.»
«Du meinst wirklich M a s c h i n e n?!»
«Nein, eher so wie wir, also fast, nicht ganz. Die sind Teil des Programms Immer für Dich da. Sie kümmern sich um dich, reden mit dir, helfen dir bei allem, was dir schwer fällt.»
«Künstliche Pfleger? Wenn die kaputt gehen, kommen die dann ebenfalls in den Himmel? In meinen Himmel? Niemals! Der Pfarrer hat da auch noch ein Wort mitzureden.»
«Dein verdammter Himmel!»
«Hör auf zu fluchen. Das ist Teufelswerk.»
Verzweifelt versuchte Cassandra das Gespräch mit ihrem Vater in eine andere Richtung zu lenken. «Du kannst dann deine Freizeit gestalten, wie du willst.»
«Ich will fernsehen. Ohne Smartpf.... Wie heißt das Ding? Smartpfonn? Ich will kein Telefon-Bildschirm. In den Kasten will ich gucken. Ist da auf der Ebene so ein Fernsehdings?»
«Nein. Diese Kästen hat heute keiner mehr.»
«Du hast doch gesagt, ich kann da Freizeit haben, wie ich will.»
«Ja. Herrgott, noch mal.»
«Cassandra! Hab ich es verdient, dass du mich so anschnauzt? Willst mich eh nur abschieben.»
«Papa!» Sie wischte sich einzelne Tränen von den Wangen, wünschte, ihr Vater wäre den modernen Zeiten gegenüber aufgeschlossener. Bequemlichkeit durch ein geregeltes Miteinander, von der Gesellschaft gewählte Akzeptoren, die stets nur den Idealfall für ihre Staatsbürger im Sinn hatten. Seit Kurzem das Immer-für-Dich-da-Testprogramm.
«Joachim, Joachim Schreiber. Sie müssten das da stehen haben. Ich kenne mich damit aus. Sie brauchen bei mir gar nichts zu versuchen. Bei mir ist immer alles korrekt. Ich passe auf!»
«Herzlich willkommen!»
«Was soll der Blödsinn?»
«Willkommen in Residenzia!»
«Kenn ich schon. Wohne ja schließlich hier. Was ist das?»
«Das sind die Regeln für Gaudium. Ganz einfache Regeln. Wenn Sie dennoch Fragen haben, fragen Sie, jederzeit.» Upra überreichte Herrn Schreiber ein Merkblatt:
Regel Nummer 1: Sluga unterhält sich jeden Tag mit mir. Ich erlaube Sluga, auf mein Zimmer zu kommen.
Regel Nummer 2: Roberta, Rabota oder Rabynya waschen mich. Sie helfen mir beim Anziehen. Ich bin damit einverstanden.
Regel Nummer 3: Nachts kümmert sich Sidelka um mich. Ich nehme Sidelkas Hilfe an.
Regel Nummer 4: Dr. Matthiesen stellt mir einmal in der Woche Fragen. Ich beantworte seine Fragen.
«Was? Wie? Fragen? Wieso? Welche Fragen? Ich will hier meine Ruhe haben.»
«Gaudium ist absolut ruhig. Lesen Sie sich das Merkblatt durch, so oft Sie möchten. Wenn Sie alles verstanden haben, unterschreiben Sie. Geben Sie es hier am Empfang wieder ab. Jörg nimmt das Blatt. Oder ich. Es wird archiviert.»
«Mein Heimvertrag ist längst im Hause. Wieso soll ich auf einmal noch was unterschreiben?»
«Herzlich willkommen!»
«Antworten Sie mir gefälligst!»
«Ich heiße Sie herzlich willkommen. Machen Sie sich keine Gedanken.»
«Ich will kein Merkblatt. Ich will Antworten!» Dieses Ding glaubt wohl, ich bin senil. Weit gefehlt. Ich bin noch voll da, obwohl ich hier lebe. Nachdem Renate gestorben war, dachte ich mir, es wäre besser, in ein Heim zu ziehen. Schon allein deshalb, weil ich nicht kochen kann. Das hat sie immer gemacht. Wer auch sonst? Sie hat alles in Ordnung gehalten, hat dafür gesorgt, dass ich für meine Analysen Zeit hatte. Nun ist sie nicht mehr da. Zeit habe ich mehr als sonst was auf der Welt. Wie auch immer. Mein Wissensspektrum ist unermesslich. Weiß ich dennoch mal etwas nicht, recherchiere ich, dokumentiere, studiere es anschließend, verstehe es letzten Endes. Mir macht keiner so leicht was vor. Die neue Ebene, das Kollektiv, alles höchst interessant, wenn man von diesem Verwaltungsding absieht.
«Jörg? Upra? Wie sieht‘s aus? Haben alle das Merkblatt unterschrieben?»
Björn Timte trug die Verantwortung für das Personal, die Ebenen, die Finanzen, die allgemeine Sicherheit. Er war vorbehaltlos begeistert von den Möglichkeiten der Technik. Allein das Wetter: seit Jahren grandios. Dürren, Erdbeben, Überflutungen, sonstige Naturkatastrophen gehörten der Vergangenheit an. Dank technischer Errungenschaften. Es war an der Zeit, sich endlich auf den Menschen selbst zu fokussieren, ein Ziel, das ihm seine Kollegen nicht abnahmen.
«Lesen Sie sich das Merkblatt durch so oft Sie möchten. Dann unterschreiben Sie es.»
«Lass gut sein, Upra.»
Der Verwaltungsroboter beachtete Jörg nicht.
«Herzlich willkommen! Ihre Unterlagen werden unter Einhaltung aller Datenschutzbestimmungen archiviert.»
«Ich bin der Heimleiter, Upra. Das weißt du doch, oder nicht?»
«Sie werden sich bei uns wohl fühlen.»
«Upra. Sieh doch bitte nach, ob im Rechenzentrum alles läuft. Tust du mir den Gefallen?» Auf Jörgs Bitte hin eilte der Administrationsandroid umgehend los.
«Also, wie gesagt, Herr Timte. Fast alles da. Es fehlen allerdings noch die Unterschriften der Herren Schreiber und Krüger.»
«Die Tochter hat für Herrn Krüger unterschrieben.»
«Hat sie denn eine gültige Vollmacht?»
«Sind Sie hier der verantwortliche Heimleiter oder ich?»
Diesen schroffen Ton war Jörg von seinem Chef nicht gewohnt. «Entschuldigen Sie bitte, Herr Timte.»
Zum ersten Mal kamen Zweifel bei ihm auf, ob tatsächlich alles seine Richtigkeit hatte, nicht nur im Bezug auf die Unterschrift. Möglicherweise könnte er sich an einen der Akzeptoren wenden, um seine Vorbehalte zu teilen. Andererseits waren genau sie es, die Experimente mit neuen Automaten jeglicher Art unterstützten. Allein die Klimaneutralisator-Maschinerie basierte auf fortschrittlicher Robotik. Jeder weiß, dass diese Errungenschaft für eine bessere Welt ohne Hungersnöte gesorgt hatte. Die da oben planten ganz genau, für alle. Er fand das gut. Das war nicht immer so gewesen.
1987 stand ich in der ersten Reihe, als es um den Boykott einer hoch brisanten Volkszählung ging. Ich, nein, wir alle hatten Angst vor einer Einschränkung unserer Bürgerrechte, schleichend, unauffällig, brandgefährlich. Wir fürchteten uns vor Datensammlungen, vor dem Datenaustausch mit einer unbekannten Größe, vor der Vermischung von wirtschaftlichen Interessen mit der Arbeit von Geheimdiensten und der Polizei, die im schlimmsten Fall nur noch eine Marionette der Regierung sein könnte.
Ein gläserner Bürger anstelle eines gläsernen Staates, der von den Bürgern kontrolliert wird, im Sinn der Gemeinschaft. Ängste, die heute keinen mehr interessierten.
Würde ihn eine offizielle Meldung bei den Akzeptoren weiterbringen? Würde ein Gespräch mit Ärzten, Kollegen, Freunden Sinn machen? Sollte er in ein paar Tagen noch mal mit seinem Chef reden? Was wollte er überhaupt erreichen? Ratlos blätterte Jörg in den Werbeprospekten des Hauses.