Читать книгу Sluga - Immer für Dich da - Susanne Kowalsky - Страница 8
KAPITEL 4
ОглавлениеFrau Fuchs war mit ihren 68 Jahren der junge Hüpfer auf Gaudium. Sie hatte die Nase voll von den anderen Ebenen in Residenzia. Professionell ausgebildete Pfleger? Antriebslose Stümper, sogenannte Fachkräfte, ohne Kompetenz. Keinem von ihnen traute sie über den Weg. Ganz zu schweigen von der schlechten Küche, die sie allerdings auch auf der neuen Ebene akzeptieren musste, denn das Essen war für alle gleich. Sie hätte sich elektronisch zubereitete Mahlzeiten gewünscht, die Zutaten abgewogen in Mikrogramm, in höchster Vollendung gleichmäßig vermengt. Planmäßiges Vorgehen, exakte Ordnung, penible Sauberkeit, Lebensqualität durch Technik. Das war ihre Welt. Dr. Aglus hatte ihr gefallen. Er war ein Garant dafür, dass die letzten Jahre ihres Lebens in geordneten Bahnen verlaufen würde. Sie freute sich auf die bevorstehende Zeit. Wenn doch nur der Rollstuhl nicht wäre. Kurz nach den Wechseljahren war es bei ihr los gegangen. Verspannungen im Nacken, Rückenschmerzen, jeder kennt das. Dann die zu spät gestellte, vernichtende Diagnose: Osteoporose im fortgeschrittenen Stadium. Mit der Präzision eines Roboterarztes wäre ihr das sicher nicht passiert. Zumal sie immer penibel auf ihre Gesundheit geachtet hatte.
«Störe ich?»
«Aber nein. Setzen Sie sich doch zu mir, Gisela. Wie fanden Sie die Vorstellungsrunde?»
«Ich bin von der grenzenlosen Entwicklung der Menschheit vollkommen überzeugt.»
«Wirklich? Im Grunde genommen gebe ich Ihnen schon recht. Aber grenzenlos?»
«Dazu gehört die Verwirklichung denkender Maschinen. Sie sind das Ergebnis moderner Forschung.»
«Denkende Maschinen?» Ute war von exakten Kalkulationen ausgegangen. Wenn-Dann. Ein simples Prinzip. Freies Denken weicht davon ab.
«Entwicklung und Lernen stehen für mich auf derselben Stufe. Und Lernen darf man niemals eingrenzen. Selbst bei den Maschinen nicht.»
«Wenn Sie Recht hätten, dann würden die Maschinen in letzter Konsequenz auch Gefühle erlernen. Hat Dr. Aglus bei seiner Rede nicht so was in der Art gesagt?»
«Nein Ute. Das glaube ich nicht.»
«Nicht?»
«Lassen wir das. Sollen wir uns noch einen Kaffee gönnen?» Unbeabsichtigt hatte die 91-jährige Gisela damit das Gespräch in eine Richtung gelenkt, die Utes Leidenschaft, über jeden und alles zu lästern, entfachte.
«Sie wollen einen weiteren Kaffee trinken?
Ist das etwa Ihr Ernst? Ich bin entsetzt! Jetzt sagen Sie bloß nicht, das Essen hier schmeckt Ihnen. Die allgemeine Versorgung in diesem Hause lässt eh zu wünschen übrig, wenn Sie wissen, was ich meine.» Ute Fuchs ließ sich über sämtliche Missstände, die es gibt oder je geben könnte, aus. «Aber das werden die Roboter den anderen schon austreiben. Die sind perfekt. Die lassen keine Schlampigkeiten zu.»
Gisela nahm einen Schluck von ihrem Kaffee, den sie sich von dem Teewagen neben dem Eingang zum Aufenthaltsraum geholt hatte. «Bis jetzt finde ich hier alles recht ordentlich. Nachlässig scheint keiner zu sein.»
«Ach, Gisela. Wenn Sie wüssten!»
«Was denn?»
«Die nehmen keine Rücksicht darauf, ob man sich uneingeschränkt bewegen kann oder nicht oder ob man schnell blaue Flecke bekommt.»
«Haben die Pfleger Ihnen denn schon mal weh getan?»
«Na ja, eher indirekt. Ich erinnere mich trotzdem nicht gern daran.» Ute erzählte Gisela davon, wie ihr beim Mittagessen ein Missgeschick passiert war. «Damit muss man leider leben. Aber es fängt dann an zu riechen. In Grund und Boden habe ich mich geschämt. Sie haben mich da sitzen lassen. Überaus peinlich. Nachher hat sich dann einer erbarmt. Ich erzähle Ihnen lieber nicht, wie die mit mir auf der Toilette umgegangen sind und anschließend unter der Dusche. Das mit den blauen Flecken sagte ich vorhin ja schon.»
«Nein, wirklich? Also haben die Ihnen doch weh getan. Unmöglich. Ich hab da mal was über Gewalt in Pflegeheimen gelesen. Aber hier? Andererseits hoffen wir ja alle darauf, dass uns die Roboter besser umsorgen, perfekt eben.»
«So soll es sein. Sie können froh sein, dass Sie direkt ins Kollektiv gekommen sind.»
«Ja, das bin ich, Ute. Das bin ich.»
Gerda Maiers Träume sorgten für einen unruhigen Schlaf: der 2. Weltkrieg, Erinnerungen an den kältesten Winter des 20. Jahrhunderts, der Tod des Vaters als sie erst Mitte 30 war. Alles längst vergessen und doch wieder da. Sidelka schloss die Tür hinter sich. Keine Aktion erforderlich, nicht bei einer leichten Unruhe. Der Nachtwachenautomat schwebte durch die Gaudiumebene zum nächsten Bewohner. Die Anderen hingen an den Ladestationen, räumten ihre Speicher auf, leerten die Cacheordner und bereiteten sich auf den korrekten Umgang mit Mängeln der menschlichen Spezies vor: unlogische Erwartungen, inexakte Aufträge, Divergenzen.
Dr. Matthiesen kam zum ersten Mal mit seinem Fragebogen auf Gerdas Zimmer.
«Hallo Gerda, ich darf Sie doch Gerda nennen?»
«Aber sicher, mein Lieber. So heiße ich ja.»
Der Doktor lächelte übers ganze Gesicht. «Können wir mit den angekündigten Fragen anfangen?»
«Ja, gerne.»
«Hat Ihnen einer der Roboter weh getan?»
«Ich habe immer an die Zukunft geglaubt, an technische Errungenschaften, an die Intelligenz der Ingenieure und Gelehrten.»
«Was ist mit den Robotern?»
«Ich habe nie einen Unterschied gemacht zwischen philosophischen, ethischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen.»
«Gerda.»
«Entschuldigung, wie war die Frage?»
«Ob Ihnen einer der Roboter weh getan hat.»
«Nein. Das nicht direkt.»
«Aber?»
«Nein. Mir hat keiner weh getan.»
«Bestimmt nicht?»
Gerda zögerte. «Nein.»
«Hat Ihnen ein Roboter widersprochen?»
«Nein, ich glaube nicht, nein, bestimmt nicht.»
«Hat Sie einer der Roboter verängstigt?»
Wiederum zögerte Gerda. «Nein.»
«Warum haben Sie gezögert?»
Gerda erzählte Dr. Matthiesen davon wie der Doktor sie in der Vorstellungsrunde verängstigt hatte. Sie könne sich selbst nicht erklären, wodurch. Sie habe sich auch mit jemand anderem darüber unterhalten. «Wie hieß der noch?»
«Kommen wir zum Thema zurück. Also. Gab es mit Sluga Verständigungsprobleme?»
«Nein, nicht mit Sluga.»
«Mit wem denn?»
«Na ja. So generell. Weiß ich nicht genau.»
«Denken Sie bitte darüber nach, Gerda.»
«Es ist eben im Allgemeinen. Ich komme aus einfachen Verhältnissen. Bei uns hat man kein Hochdeutsch geredet.»
«Platt?»
«Nein. Wir hatten unser eigenes Vokabular. Ich konnte mich nie davon frei machen. Wieso auch? Bisher hat mich noch jeder verstanden. Mit den technischen Pflegern und dem Synthetikarzt ist es manchmal etwas schwierig. Lappalien, eine kleine Bemerkung hier, eine Erinnerung dort, und alles ist durcheinander.»
«Was meinen Sie denn damit?»
«Das weiß ich nicht genau.» Gerda überlegte kurz. Dann fiel ihr ein Beispiel ein. «Ich habe zu Rabynya gesagt Wer A sagt, mutt ok Eier leggen. Daraufhin hat sie mich gefragt, ob es immer o.k. ist, Eier zu legen, wenn jemand A sagt. Damit hat mich Rabynya verwirrt. Ich sie auch, glaube ich. Es ist eben schwierig, ab und zu jedenfalls.»
«Hat Sluga Sie verärgert?»
«Nein!»
«Hat Naya Ihnen falsche Wäsche gebracht?»
«Nein.»
«Hat Dr. Aglus Sie bevormundet?»
«Nun, ja. Nein.»
«Ja oder nein?»
«Dr. Matthiesen, Sie sind aber penetrant.»
«Denken Sie doch bitte mal darüber nach.»
Hierauf schilderte Gerda einen, wie sie meinte, eher unwichtigen Vorfall. «Ich bewunderte ein Blümchen, das mir die Bewohner aus Abendrot zum Umzug nach Gaudium geschenkt hatten. Dr. Aglus kam, um sich kurz mit mir unterhalten. Nur, um seine Patienten besser einschätzen zu können, so sagte er. Was ich an der Pflanze auf der Fensterbank fände, hat er gefragt. Ich entgegnete, dass ich das Geschenk meiner ehemaligen Mitbewohnerinnen und -bewohner sehr schätzte. Er erwiderte, Gefälligkeiten würden keinerlei Sinn erfüllen. Darum bestehe er auf einer Entsorgung der Pflanze. Naya müsse sonst zu viel desinfizieren. Objekte ohne Sinn seien prinzipiell zu beseitigen.»
«Und dann?»
«Mir standen die Tränen in den Augen. Es hatte gar keine Bedeutung. Ich habe es nur erwähnt, weil Sie danach gefragt haben.»
«Wo ist Ihre Blume jetzt, Gerda?»
«Naya hat sie weggenommen.»
«Das tut mir leid. Möchten Sie eine Neue haben?»
«Nein. Es wäre nicht dasselbe.»
«Sind Sie sicher?»
«Ja.»
«Dann werde ich Sie jetzt wieder allein lassen, wenn das in Ordnung ist.» Dr. Matthiesen sah Gerda tief in die Augen und verließ dann ihr Zimmer. Sie kramte das Tagebuch heraus, einen Kugelschreiber und einen Kalender, weil sie in der letzten Zeit immer unsicherer wurde, um welchen Tag es sich gerade handelte.
In der letzten Nacht habe ich schlecht geträumt. Mir ging so vieles durch den Kopf, von früher, von dem, was ist, was sein wird. Meine Tage sind gezählt. Das liegt auf der Hand.
Die meisten meiner Freunde sind ohne einen Funken Würde von dieser Welt gegangen. Das will ich nicht. Ich möchte in den Genuss der Wunder unserer Zeit kommen. Ich glaube an das unendliche Universum der Wissenschaft. Doch irgendetwas führt der künstliche Arzt auf Gaudium im Schilde. Wenn ich nur wüsste, was er vorhat. Will er so etwas wie einen Krieg herbeiführen? Ich glaube, die Gedanken an Vater und den Zweiten Weltkrieg haben mich verwirrt. Oder es lag an Sluga? Ich bin müde. Aber diesen Gedanken halte ich noch fest, sonst habe ich ihn morgen womöglich vergessen.
Sluga kam zu mir. Sie redete über dies und das, bis sie mich plötzlich fragte, was es mit der menschlichen Seele auf sich habe. Ich sagte ihr, dass die Seele niemals stirbt.
«Sluga versteht», war alles, was sie dazu gesagt hatte. Wieso interessiert sich eine Maschine für die Seele?
Nach diesen Worten klappte Gerda ihr Tagebuch zu.
Upra berichtete unterdessen Jörg Malewski von Asymmetrien in den Mitarbeiterkonten.
«Du gehst mir gehörig auf die Nerven.»
«Upra geht niemals auf Nerven. Upra bleibt auf dem Boden.»
«Oh, Mann. Zeig‘ schon her!»
«Was stimmt denn an Sascha Himmelsbergers Konto nicht?»
«Es verläuft asymmetrisch zum Dienstplan.»
«Also gut. Bei nächster Gelegenheit werde ich mit Sascha über die Unregelmäßigkeiten reden. Du gibst ja sonst doch keine Ruhe.»
Voller Enthusiasmus hatte Jörg Malewski in den 1980er Jahren angefangen, Erziehungswissenschaften zu studieren, sich in aller Regelmäßigkeit über die fortschreitende Computerisierung aufgeregt und sogar beschlossen, das Studium hinzuschmeißen, sofern Computer zukünftig einen noch höheren Stellenwert einnähmen. Seinen Abschluss machte er, bevor es so weit kam. Dennoch hinterfragte er immer wieder den Sinn seines Studiums. Ihm fehlte der Praxisbezug, die Nähe zu den Menschen, die Hilfe brauchen und wie man ihnen am Besten begegnete. Mit seinem Job am Empfang wurde er seinem Intellekt in keiner Weise gerecht. Dennoch fühlte er sich in seiner Rolle wohl, weil er den Menschen nahe sein konnte, ohne pflegerisch tätig werden zu müssen. Er hatte den allergrößten Respekt vor seinen Kolleginnen und Kollegen, die in dieser Hinsicht unübertrefflich gut waren. Dabei blieben die eigenen Bedürfnisse der Pfleger auf der Strecke. Überstunden ohne Ende, wenig bis keine Dankbarkeit im persönlichen Umfeld, steigender Druck, ein immer größer werdender Verwaltungsaufwand zum Nachteil des Menschen.
Im Laufe der Zeit änderte er seine Einstellung zur Technisierung im sozialen Sektor gravierend. Mit dem Einzug der Roboter in die Pflege war eine deutliche Verbesserung der Umstände geplant. Hatten die Akzeptoren denn auch an die Gnadenlosigkeit von Maschinen gedacht?
Interessierte es Upra, warum Sascha seine Daten manipuliert hatte?