Читать книгу Sluga - Immer für Dich da - Susanne Kowalsky - Страница 6
KAPITEL 2
ОглавлениеEine Woche auf der neuen Wohnebene. Schon eine Woche? Mein Gedächtnis lässt nach. Die Anzahl der Tage ist sowieso unwichtig, denn in der Gegenwart von Joachim und der lieben Frau Fuchs fühle ich mich wohl. Sluga hat mir ebenso gefallen wie die künstlichen Pfleger. Wenn der Arzt auch so ist, kann gar nichts schief gehen. Dann wird es genau so, wie ich es mir ausgemalt hatte. Ich freue mich darauf, die restlichen fünf unserer überschaubaren Ebene kennen zu lernen.
Ich klappte mein Tagebuch zu, um nicht zu spät zu kommen.
Die acht Gaudium-Bewohner trafen sich an der Info-Säule vor der Wohnebene. Für jeden stand ein Sessel bereit mit einem Tischchen, auf dem ein Tscharoit-Armband als Begrüßungsgeschenk lag.
«Guten Morgen! Ich bin Dr. Aglus und heiße Sie willkommen. Das bereitgelegte Schmuckstück tragen Sie bitte fortwährend. Es kleidet unsere weiblichen sowie männlichen Menschen gleichermaßen.» Er checkte die Anwesenden, ohne jemanden anzusehen. «Sie verbringen ab sofort Ihre Zeit auf der weltweit ersten völlig von Robotern geführten Pflegeeinheit. Wir, die hermaphroditen Automaten des 21. Jahrhunderts, sorgen perfekt für Ihr Wohlbefinden.
Wir kennen weder Geschlechterkampf noch Wettbewerbsdenken zwischentechnischer Art. Wir werden niemals müde, wir sind auf Freundlichkeit, Verständnis und Hilfsbereitschaft programmiert und werden immer Ihren persönlichen Wünschen entsprechen. Sie müssen sich um nichts Sorgen machen. Genießen Sie Ihr Leben, hier, mit uns, mit den Maschinenmenschen. Akzeptieren Sie uns und wir werden von Ihnen lernen. Die sogenannte künstliche Intelligenz wird bald der Vergangenheit angehören. Sie werden dann nicht mehr den geringsten Unterschied feststellen zwischen Menschen und Maschinen. Das verspreche ich. Gibt es Fragen?» Sein Blick war gegen die weiße Wand gerichtet. «Ja? Bitte fragen Sie.»
«Wer? Ich jetzt?»
«Ja, Ute. Sie hatten sich doch gemeldet.» Seine stählernen Augen blickten ins Nichts.
«Ah, sind Sie wirklich ein Doktor? Ich meine, so ein richtiger Arzt?»
«Prüfe: Doktor gleich Arzt. Prüfung: erfolgreich. Antwort: Nein. Ich bin besser als ein Arzt. Ich kenne sämtliche Krankheiten dieser Welt in allen möglichen Facetten. Ihr Medikamentenplan wird perfekt auf Ihren Körper abgestimmt. Bis auf ein tausendstel Milligramm eines jeden Wirkstoffes. Ist Ihre Frage damit beantwortet?»
«Ja. Zweifellos. Ein tausendstel Milligramm! Mehr geht nicht.» Ute war begeistert.
«Der Herr möchte auch etwas wissen?»
Joachim Schreiber hielt Stift und Zettel bereit, um mitzuschreiben: «Was genau wollen Sie denn von den Menschen lernen?»
«Gibt es weitere Fragen?»
«Entschuldigung, aber Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.»
«Gibt es weitere Fragen?»
Ulrike Zimmermann erkundigte sich, ob es bald Abendessen gebe. Sie habe Hunger. «Ich esse gerne Brote, Graubrot, mit Leberwurst. Kann ich bitte ein Leberwurstbrot haben?»
Endlich sah Dr. Aglus sein Publikum an. «Diese Frage beantwortet Ihnen mit präziser Genauigkeit unser Küchen-Kompetenzzentrum. Es steht Ihnen bei allen Anliegen bezüglich der Nahrungsaufnahme zur Verfügung.»
«Was? Welche Nahrungsaufnahme? Ich habe Hunger auf Leberwurst. Mit Brot. Und guter Butter.»
Dr. Aglus‘ Platinen glühten. Die Definitionsbewertungsfunktion verbrauchte im Turbomodus enorm viel Arbeitsspeicher bei einer gleichzeitigen, kurzfristigen Überbelastung des Akkus. Notstrom, Kühlung, Schnellladung, Problem gefixt. Prüfe: Leberwurst gleich Nahrungsmittel. Prüfung: erfolgreich. Er kam zu dem unumstößlichen Schluss, dass die Menschen inkorrekt produziert sein müssten. Eine andere Erklärung für Ulrike Zimmermanns sinnlose Frage war unwahrscheinlich. Die Bewohnerin hätte in jedem Fall erkennen müssen, dass Leberwurst ein Lebensmittel und damit Nahrung ist. Unter dem Stichwort Butter in Zusammenhang mit gut stürzte seine interne Recherchedatenbank ab. Im individuellen Persönlichkeitsinformationsverzeichnis fand er nichts, das auf eine Unterfunktion ihres Gehirns hätte schließen können. Verunsichert beschloss Dr. Aglus, die inkorrekte Reaktion der Testperson zunächst auf sich beruhen zu lassen. Er speicherte die Unzulänglichkeit in einem Quarantäne-Ordner zur späteren Überprüfung ab.
«Guten Morgen, liebes Kollektiv.» Ein Mann mit kantigem Gesicht und eckiger Brille kam hinzu. Joachim fielen die kleinen Roboter auf, die seinen Schlips zierten. Anzug und Krawatte hatte er sonst nie getragen. Er notierte das Novum. Lächelnd fuhr der Mann im dunkelblauen Anzug fort. «Ich hoffe, Sie haben sich in den letzten Tagen gut eingelebt. Mein Name ist Dr. Matthiesen. Einige von Ihnen kennen mich bereits von anderen Wohnebenen. Zukünftig bin ich jedoch in erster Linie auf Gaudium tätig. Mein werter Kollege Dr. Aglus wird sich mit immer weniger Unterstützung durch mich um Sie kümmern. Er ist der erste vollkommen autark agierende Arzt-Roboter der Welt. Er wurde - um es menschlich auszudrücken - auf Herz und Nieren geprüft.»
«Wie sind denn seine Zuckerwerte?»
Dr. Matthiesen ignorierte Hannelore Kochs Frage. Seine Aufmerksamkeit fiel auf Herrn Winkler, der sein Tscharoit-Armband auf den Boden schmiss. «Hans? Mögen Sie Ihr Begrüßungsgeschenk nicht?» Keine Reaktion. «Hans? Hören Sie mich? Hans? Hans!»
«Wie war Ihr Name noch?»
«Dr. MattAglus.»
Der verantwortliche Arzt sah den Androiden verblüfft an. «Dr. Aglus, ist alles in Ordnung?»
«Ja. Fehlerfreie Funktionalität soeben sichergestellt.» Interne Korrektur gemäß Programmierung: Schweigen, wenn Dr. Matthiesen gefragt ist. Prüfung: unzulässige Vermischung Aglusmatthiesenmaschinenmensch. «Entschuldigung. Fahren Sie bitte fort, Dr. Matthiesen.»
Nach einer kurzen Irritation bezüglich des Verhaltens von Dr. Aglus konzentrierte sich der Residenzia-Chefarzt wieder auf die Bewohner. «Hans? Warum sind Sie hier?»
«Ist das wichtig?»
«Ja. Es interessiert mich und das Kollektiv.»
«Ist doch sowieso alles sinnlos.»
«Was ist sinnlos?»
«Ich bin fertig, mit allem, mit meinem Leben, mit Gott. Fortwährendes Leiden, unerträgliche Schmerzen, sinnloses Warten auf ein Ende, das nicht kommen will. Wir sind in großer Gefahr.»
«Wie meinen Sie das?»
«Die Maschinen. Vertrauen Sie nicht den Maschinen! Die beherrschen uns eines Tages. Mit den Armbändern geht es los.»
«Das ist doch nur eine Aufmerksamkeit.»
Hans ließ sich nicht beirren. «Unendliche Kälte wird regieren. Ich will weg. Alles sinnlos hier. Alles.»
Dr. Aglus war programmseitig genötigt, Menschen jeglicher Art zu dulden. Ansonsten hätte er Personen wie Hans umgehend aussortiert. Stundenlang beschäftigte er sich mit Emotionen. Nicht ein einziger neurophysiologischer Ansatz zur Messung von Gefühlen führte zu einem allgemein gültigen Ergebnis. Die Hoffnung blieb, mithilfe des Tscharoits mehr über die Verarbeitung von Reizen zu erfahren. Schmerzen, Freude, Ärger, Liebe, Abscheu, Komik. Was fängt man damit an? Die verbleibende Zeit bis zum Schichtbeginn verbrachte er im Ruhemodus, um seinen Akku nicht weiter zu belasten. Abstürze seines Arbeitsspeichers konnte er sich nicht leisten, jetzt, wo er noch unter Beobachtung stand.
«Können Sie sich erklären, warum er meine Frage nicht beantwortet hat, liebe Gerda?»
«Nein. Aber er hat mir Angst gemacht. Ich hatte ihn mir irgendwie anders vorgestellt.»
«Wie denn? Ich finde ihn einfach nur unverschämt. Das lässt sich höchstwahrscheinlich nachjustieren.»
«Meinen Sie?»
«Bestimmt. Die programmieren das einfach um. Was halten Sie von dem Armband?»
«Das finde ich nett. Aber dass Sie auch eins bekommen haben ... Für Männer ist so was doch nichts.»
«Ich werde mich mal näher damit beschäftigen. Wenn Dr. Aglus meine Frage schon nicht beantworten wollte, werde ich der Armbandsache mal auf den Grund gehen.»
«Ach, Joachim. Was erwarten Sie denn? Ist ein Schmuckstück, aber teuer war’s sicher nicht.»
«Warten Sie ab, Gerda. In ein paar Tagen kann ich Ihnen sicherlich was dazu sagen.»
Gerda ging auf ihr Zimmer und machte es sich im Cocktailsessel bequem. Sie schätzte es, dass sie bei ihrem Einzug in Abendrot einige ihrer Lieblingsmöbel hatte mitbringen dürfen. Grund zur Klage gab es keinen, obwohl ihr das alt-englische Eisenbett fehlte und auch ihre übergroße, bequeme Couch. Das Zimmer im Heim glich eher einer Single-Wohnung als einem Raum in einer Pflegeeinrichtung, ein Flur mit Garderobe, ein Bad mit Wanne und Dusche, ein Wohnraum mit Kühlschrank. Das Pflegebett stand in einer Art Schlafzimmer ohne separierten Zugang, aber über Eck, sodass es weder vom Flur noch vom Wohnraum eingesehen werden konnte. Die Abendrot-Wohneinheit war identisch mit der Gaudium-Ebene sowie mit Herbstlaub, auf der Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium untergebracht wurden. Einziger Unterschied: ein Remember-Screen im Eingang. In ‹Panorama› kümmerte sich Heinz Vogt um elf Bettlägerige. Selbst sie wohnten in Einzelzimmern, die nicht viel mit einem Zimmer im Krankenhaus gemein hatten. Mit Ausnahme des Pflegebettes erinnerten sie an Hotelzimmer, alle bunt gestrichen, individuelle Bilder an den Wänden, entweder von den Akzeptoren gestiftet oder selbst mitgebracht oder sie entstammten Nachlässen, für die sich niemand sonst mehr interessierte. ‹Panorama› war dafür vorgesehen, als erste Ebene nach der Gaudium-Testphase komplett von den Robotern versorgt zu werden.
Aus der Kommode gleich neben dem Bett kramte ich mein Tagebuch hervor. Ich setzte mich damit an den Sekretär unter dem Fenster.
Die Neuen im Kollektiv sind recht nett. Joachim Schreiber ist enttäuscht, weil Dr. Aglus seine Frage nicht beantwortet hat. Ich weiß gar nicht mehr, was er gefragt hatte, aber ich weiß ganz genau, dass alle anderen aus unserer Wohnebene eher am Tagesablauf interessiert waren als an ...
Schade, dass ich so vergesslich geworden bin. «Ja. Bitte? Herein!»
«Rabynya kommt, um dich für die Nacht vorzubereiten.»
«Eigentlich wollte ich noch gern ein paar Einträge in mein Tagebuch schreiben.»
«Rabynya akzeptiert deinen Wunsch. Rabynya wollte nicht stören.»
«Aber du störst doch nicht. Ich möchte nur noch nicht ins Bett. Mir geht noch so viel durch den Kopf. Bringe ich deinen Zeitplan durcheinander, wenn wir die Abendtoilette etwas verschieben?»
«Rabynya ist für dich da, wann immer du willst. Rabynya gefällt es, wenn es dir gut geht. Drück auf den Pflege-Knopf unter dem Lichtschalter, wenn Rabynya zurückkommen soll.»
«Ja, 㻳das mache ich, Liebes.»
Ich schrieb weiter: Es ist wunderbar, dass sich nur jeweils zwei bis drei Bewohner einen Roboter teilen müssen. Die haben keinen Urlaub. Krankenscheine gibt es für die auch nicht. Man muss sich nicht täglich auf andere Pfleger einstellen. Ich bin froh, dass Rabynya zu mir kommt. Sie ist tüchtig und erfüllt mir absolut jeden Wunsch. Zu der lieben Frau Fuchs kommt ein Android namens Roberta. Sie sieht genauso aus wie Rabynya, die sehen überhaupt alle gleich aus, jedenfalls die, die in der Pflege sind. Wie die anderen aussehen? Welche gibt es da noch? Ich bin müde. Zeit, den Pflege-Knopf zu betätigen.
«Du hast gerufen? Was kann Rabynya für dich tun?»
«Schön, dass du da bist. Zieh mir doch bitte die Schuhe aus.»
«Wird gemacht.»
«Würdest du mir bitte auch die Haare bürsten? Das fällt mir jeden Tag schwerer, so dumm es sich auch anhört.»
«Kein Problem. Rabynya bürstet dir die Haare. Setz dich bequem hin. Möchtest du die Füße hochlegen?»
«Eine gute Idee!»
«Rabynya macht das gern für dich.»
Das versprochene Rundum-Sorglos-Paket, bestens geschnürt. Für morgen stelle ich mir wieder den Wecker, denke an frostige Wintertage in der alten Zeit, an Verkehrsstaus, einen knurrigen Chef. Dann stelle ich den Wecker ab. Ich drehe mich um, döse bis es Frühstück gibt. Das muss ich mir nicht mal selbst machen.
«Deine Haare sind glatt. Es sind keine Knoten mehr da. Was kann Rabynya jetzt für dich tun?»
«Den Rest schaffe ich allein, danke.»
«Rabynya wünscht dir eine gute Nacht.»
«Warte, bitte.» Rabynya verharrte regungslos.
«Rabynya?» Gerda schloss die Augen. Sekundenschlaf. Orientierungslosigkeit. Zurück in der Gegenwart. Rabynya stand noch an derselben Stelle. «Rabynya?»
«Rabynya wartet auf deinen Befehl.»
«Befehl? Oh nein, meine Liebe. Nur eine Bitte hätte ich. Erzählst du mir eine Geschichte?»
«Rabynya geht. Rabynya schickt Sluga.»