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Kloster Eberbach

Donnerstag, der 16. September

Eckhard Winterstein wartete vor der Vinothek, ihrem verabredeten Treffpunkt, und winkte sie auffordernd näher heran.

»Sind Sie einverstanden, wenn wir in meinem Wohnmobil reden?«, fragte er höflich. »Eigentlich könnte ich jeden Tag hierherfahren. Ich müsste nur über den Rhein, ich lebe in Mainz. Aber ich will am Drehort bleiben, Tag und Nacht, um seine Atmosphäre in mich aufzunehmen. Eine allumfassende Inspiration, Sie verstehen doch?«

Norma folgte ihm mit dem Entschluss, das Treffen auf der Stelle abzubrechen, sollte der Regisseur seinem Ruf gerecht werden und sich ausfallend oder cholerisch benehmen. Der Weg führte sie um das ehemalige Hospital herum und am Kleinen Klosterhof entlang.

»Die Fraternei«, erklärte Winterstein und deutete wie ein Gästeführer auf das breite Gebäude, dem sie entgegenstrebten. »Darin befand sich der sogenannte Brüdersaal, in dem die Zisterzienser Bücher abgeschrieben haben und wo, in neuerer Zeit, ein berühmter Film gedreht wurde. Denken Sie an gestern: der tote Mönch im Holzbottich!«

Sie verstand, worauf er anspielte. Schummriges Licht, voluminöse Weinfässer und dazwischen ein Bottich mit Wasser, durch dessen Oberfläche der blasse, aufgedunsene Körper einer korpulenten Leiche schimmerte. »Die Szene mit dem vergifteten Mönch spielt also dort drin?«

»So ist es, der Zuber aus ›Der Name der Rose‹ stand im Cabinetkeller, wie man die Fraternei auch nennt.«

»Hätten Sie selbst gern bei dem Epos mitgewirkt?«, fragte sie neugierig.

Winterstein seufzte leicht theatralisch. »Welcher Filmschaffende träumt nicht davon? Ich war zu meinem Leidwesen nicht dabei. Kloster Eberbach habe ich letztes Jahr erstmals besucht, um für meinen neuen Film zu recherchieren. Kommen Sie!«

Hinter dem Cabinetkeller öffnete sich der Große Klosterhof. Anders als am vergangenen Abend lag der gepflasterte Platz verlassen da bis auf ein Grüppchen Männer und Frauen, allem Anschein nach Touristen, die mit interessierten Mienen umherspazierten. Ob die Besuchergruppen von dem Mord erfahren hatten, fragte sich Norma unwillkürlich. Die zwei halbrunden Durchgänge zur Klostergasse, in der der tote Winzer gelegen hatte, waren durch Gittertore versperrt. Dahinter lag der innere Bereich des Klosters, der nur mit einer Eintrittskarte besichtigt werden konnte. Der Regisseur schritt weit aus wie jemand, der es gewohnt war, seine Arbeit schnell und zielorientiert zu erledigen. Auch Norma hielt sich für gewöhnlich ungern mit Schlendern auf. Nun jedoch ging sie absichtlich langsam. Sie wollte Zeit gewinnen und den Regisseur in ein Gespräch verwickeln, um ihn besser einschätzen zu können, sobald er auf den speziellen Grund seiner Einladung zu sprechen kam. Bisher hatte er nur erwähnt, dass es um sein Filmprojekt ginge.

»Verzeihen Sie meine Offenheit«, begann sie. »Gehen Sie mit Ihrem Dokudrama nicht ein wenig attraktives Thema an? Bei dem Wort ›Irrenanstalt‹ habe ich sofort die schlimmsten Bilder im Kopf. Menschen in Lumpen, verzweifelte Gestalten in Ketten. Was reizt Sie daran?«

Er hatte sich ihrem Schneckentempo notgedrungen gefügt. »Eben genau das ist mein Anliegen. Diese beklemmenden Assoziationen, wer hat sie nicht? Ich will eine vergessene Zeit ins Licht rücken. Mein Dokudrama erzählt die Geschichte der Psychiatrie in authentischen Bildern. Keine Frage, im 19. Jahrhundert gab es menschenverachtende Übergriffe, andererseits hatte die sogenannte Obrigkeit durchaus den aufrichtigen Willen, psychisch Kranken und geistig Behinderten zu helfen. Entscheidende Fortschritte werden wir in Spielszenen darstellen. Im Kloster Eberbach geschah Bahnbrechendes, Frau Tann!«

Hier spricht jemand, der von seinem Stoff überzeugt ist, erkannte Norma und fragte, von seiner Begeisterung mitgerissen: »Sie meinen Entwicklungen, die Persönlichkeiten wie Direktor Lindpaintner zu verdanken sind? Die Hauptrolle, für die Roman Bonheur einspringen wird?«

»Unbedingt! Philipp Heinrich Lindpaintner war 23 Jahre alt, als er in Eberbach zum Direktor berufen wurde – kein Arzt oder Psychiater, wie man vermuten würde, sondern ein Jurist. Das war 1817 und das Kloster mittlerweile säkularisiert. Lindpaintner wollte mit Humanität und Menschlichkeit wirken, ein ehrgeiziges Vorhaben für einen so jungen Mann.«

»Wurde er diesem Anspruch gerecht?«, fragte Norma mit wachsendem Interesse. Die Entwicklung der Psychiatrie war für sie ein unbekanntes Buch, und den Namen des Eberbacher Direktors hatte sie beim Empfang im Mönchsrefektorium zum ersten Mal gehört.

»Natürlich war er ein Kind seiner Zeit«, gab Winterstein zu bedenken. »Aus heutiger Sicht erscheinen uns die Methoden, die Lindpaintner zur Disziplinierung der Patienten angeordnet hat, als brutal und widersinnig. Das reicht von Schröpfkuren und Brechmitteln bis hin zum Hohlen Rad. Aber dennoch: Philipp Lindpaintner war ein Vorreiter, der auf Bildung und Beschäftigung der Patienten baute, anstatt die Kranken in Zellen zu verwahren.«

Norma hielt im Gehen innen, wandte sich um und warf einen Blick auf den dreiseitig geschlossenen Hof, der trotz seiner Pracht und beachtlichen Ausmaße einen Randbezirk bildete. »Ist es nicht ein Glückfall, dass Sie am Originalschauplatz drehen können?«

»Wie ein göttliches Geschenk, Frau Tann! Verzeihen Sie den blumigen Ausdruck. Die Atmosphäre ist wahrhaftig einzigartig. Die Gebäude aus der Zeit Lindpaintners sind alle noch da.«

»Also können Sie ohne große Umstände loslegen?«

Er lachte lauthals, was wie das Meckern einer Ziege klang. »So simpel ist es leider nicht. Wir müssen mit Kulissen nachhelfen. Zwar stehen die Gebäude noch, aber von dem mobilen Inventar ist nichts übrig geblieben. Wie Sie selbst sagen: Das Thema ›Irrenanstalt‹ weckt allenthalben deprimierende Fantasien. Deshalb hat man im 19. Jahrhundert alles entfernt, was an die ›Irren‹ erinnerte. Sogar die alten Mönchszellen im Dormitorium! Darin hatten die Patienten gehaust. Bis auf die nackten Wände wurde alles herausgerissen und fortgeschafft. Danach verfiel das Kloster in einen Dornröschenschlaf und wurde nur noch als Weingut genutzt.«

»Was geschah mit den Patienten?«

»Eberbach war zu klein geworden, zu unmodern. 1849 wurden neue Gebäude bezogen, quasi in Sichtweite, dort drüben auf dem Eichberg. Die heutigen Kliniken haben ihren Ursprung hier in Eberbach. Kommen Sie, wir sind am Ziel.«

Hinter einem von hohem Buchs gesäumten Tor, das ein Stück Bruchsteinmauer durchbrach, wurde das Heck eines Wohnmobils sichtbar. Gestutzte Buchenhecken begrenzten die Fußwege zu den Stellplätzen. Winterstein öffnete die Tür seiner fahrbaren Unterkunft und bat Norma hinein. Solange er mit einem Espressokocher hantierte, schaute sie sich unauffällig um. Neben der Psychiatriegeschichte hatte sich mit dem Wohnmobil eine weitere Wissenslücke aufgetan. So ein Gefährt hatte sie nie zuvor betreten, und es erschien ihr überraschend geräumig. Der Tisch diente Winterstein offensichtlich als Büro. Darauf verteilten sich ein Laptop und mehrere prall gefüllte Ordner. An den Wänden und Fensterscheiben klebten Bleistiftskizzen von Frauen unter breitkrempigen Hüten und Männern mit Zylindern und langen Bärten. Angedeutete Szenen mit Bonheur und weiteren Schauspielern, wie Norma vermutete.

»Sie sind ein talentierter Zeichner«, sagte sie anerkennend und dachte an ihren stümperhaften Versuch, noch in der Nacht die Kohlezeichnung aus der Klostergasse zu kopieren. Selbst wenn sie sich genauer an die Details erinnert hätte, wäre es ihr wohl kaum besser gelungen. Winterstein war eindeutig geübter.

»Was das betrifft, bin ich vom alten Schlag«, bekannte er. »Heutzutage gehören digitale Techniken selbstverständlich dazu, auch für mich. Aber für die Entwicklung einer Szene sind mir Papier und Bleistift immer noch das Liebste. Bitte, nehmen Sie Platz. Zucker?« Ohne die Antwort abzuwarten, stellte er ein Päckchen Würfelzucker und zwei Espressotassen auf den Tisch.

Norma rutschte auf die Bank. Leder. Anthrazitfarben. Ganz schön nobel, das Domizil des Regisseurs. »Ist Ihnen gestern in der Klostergasse die Kohlezeichnung aufgefallen?«

Er hatte den Espressokocher auf die Herdplatte in der winzigen Küchenzeile gesetzt und wandte sich um. »Wovon sprechen Sie?«

»Von einer Kohlezeichnung! Sie hing an einem Pfosten in der Klostergasse. Ich hatte den Eindruck, das Blatt wäre auch Ihnen nicht entgangen.«

Würziges Kaffeearoma stieg ihr in die Nase. Winterstein trug die Kanne an den Tisch und füllte mit elegantem Schwung die Tässchen, ohne etwas zu verschütten. Dann brachte er die Kanne zurück und setzte sich in den einzigen Sessel. Mit Daumen und Zeigefinger schnappte er sich ein Zuckerstück aus der Packung und ließ es in den Kaffee fallen.

Erst jetzt reagierte er auf ihre Bemerkung. »Mir ist gar nichts aufgefallen. Wie kommen Sie darauf?«

»Weil Sie so angestrengt hinübergeschaut haben.«

»Unsinn«, wehrte er ab. »Vergessen Sie Ihren Kaffee nicht.«

Sie schnupperte an der Tasse, aus der es verführerisch duftete. Sie nippte. Espresso kochen konnte er. »Kannten Sie Axel Teubener?«

»Den Ermordeten?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Er war ein Winzer aus der Gegend, wie ich gehört habe. Meinen Wein kaufe ich mal in Rheinhessen, mal im Rheingau und auf unterschiedlichen Weingütern. Einem Axel Teubener bin ich meines Wissens nie begegnet.«

»Auch gestern Abend nicht?«

Er lachte sein Ziegenmeckern. »Ist das die Frage nach meinem Alibi? Ich habe bis zum Ende des Films zwischen Nelly und Marielle gesessen und war auch während der Pause mit den Damen zusammen. Zufrieden?« Falls er verärgert war, überspielte er dies geschickt.

»Bitte verzeihen Sie die Neugier einer ehemaligen Mordermittlerin. Ist eine Berufskrankheit.« Sie stellte die Tasse ab. »Kommen wir zur Sache. Also, warum wollten Sie mich treffen?«

»Mein Sicherheitsmann hat mich im Stich gelassen«, erklärte er in sachlichem Ton. »Nicht mit Absicht, er musste kurzfristig zu seiner Familie ins Ausland. Nun brauche ich jemanden, der ein Auge auf das Geschehen am Set hat. Absperrungen aufstellen, Schaulustige auf Abstand halten, so was in der Art.«

»Aha! Und zum Spannen der Flatterbänder brauchen Sie eine Privatdetektivin?«, gab sie zweifelnd zurück.

Auffordernd beugte er sich vor. »Hören Sie, ich habe bedeutende Geldsummen in dieses Filmprojekt gesteckt. Ich bin Regisseur und Produzent in Personalunion und muss Verträge erfüllen, mit dem Sender, mit meinen Mitarbeitern. Ängste und Verunsicherung meiner Leute kann ich mir nicht leisten, nicht einmal, wenn quasi vor den Augen der Mannschaft ein Mord geschah. Das verstehen Sie doch?«

Die berechnende Bemerkung über sein Team hatte ihn Sympathiepunkte gekostet. Andererseits musste der Druck, den ihm das Filmvorhaben bereitete, erheblich sein. Was zudem den Tobsuchtsanfall erklärte, zu dem ihn der Verlust seines Hauptdarstellers getrieben hatte.

»Verzeihen Sie, ich habe Erkundigungen über Sie eingezogen, Frau Tann«, fuhr er fort, als Norma schwieg. »Sie waren eine hoch geschätzte Hauptkommissarin und sind aus freien Stücken aus dem Dienst geschieden. Die Mordkommission habe nur ungern auf Ihre Fähigkeiten verzichtet, hat man mir versichert. Auch Ihre Reputation als Privatdetektivin kann sich sehen lassen.«

Bei wem mochte er nachgefragt haben? Bei seinem Verleger? Vermutlich. Lutz würde ein unverbindliches Lob geäußert haben, ohne sich in Einzelheiten zu verlieren. Diskretion war einer seiner wesentlichen Charakterzüge. Solange Norma mit seinem Sohn Arthur, einem renommierten Wiesbadener Kunsthändler, verheiratet gewesen war, hatte sie ein wohlwollendes, aber distanziertes Verhältnis zu ihrem Schwiegervater. Nähergekommen waren sie sich durch die Trauer um Arthur und die aufwühlenden Erlebnisse, die seinen Tod begleitet hatten. Nach und nach hatte sich ihre Beziehung zu einer tiefen und vertrauensvollen Freundschaft entwickelt. Auch Milano und Wolfert waren ihre Freunde. Wenn es darauf ankam, konnte sie sich auf beide gleichermaßen verlassen. Einem Fremden gegenüber würden sie nichts über ihre Vergangenheit im Polizeipräsidium ausplaudern. Für andere Ex-Kollegen wollte sie nicht die Hand ins Feuer legen. Bis zu ihrer Kündigung hatten Klatsch und unverhohlene Häme die Runde gemacht. Eine Kommissarin, die sich wie eine naive Touristin von südamerikanischen Rebellen entführen lässt! Als ob sie diese Vorwürfe nicht selbst bis aufs Blut gequält hätten. Wo waren ihre Instinkte geblieben, als Arthur sich von einem Künstler zu einer Fahrt in die kolumbianischen Berge hatte überreden lassen? Arthur vertraute dem Maler, dessen Werke er in seiner Wiesbadener Galerie ausstellte. Was für ein Irrtum! Lange Tage saßen Arthur und Norma im Dschungel fest, bedroht und bewacht von einer Horde schwerbewaffneter Männer, die sich als Guerillakämpfer ausgaben und nichts anderes waren als Koka kauende Ganoven. Die Entführung durch angebliche FARC-Terroristen zog weite Kreise durch das Außenministerium, das BKA, das hessische LKA, bis hinein ins Wiesbadener Kollegium. Nach ihrer Befreiung hatte Norma allen Halt verloren und sich unfähig gefühlt, ihre Arbeit zu tun. Wenn also jemand aus dem früheren Umkreis so freundlich Auskunft über sie gegeben hatte, musste er ihr wohlgesonnen sein.

Winterstein hatte sich zurückgelehnt. Mit verschränkten Fingern erwartete er ihre Antwort.

Bedächtig stellte sie das leere Tässchen zurück, bevor sie sagte: »Sie sprechen von Ängsten und Unsicherheit in Ihrem Team, was verständlich ist. Allerdings liegt die Mordermittlung in den Händen der Polizei.«

»Keine Frage«, pflichtete er ihr bei. »Meine Bitte ist: Sie, Frau Tann, halten sich am Set auf und vermitteln dem Team Ruhe und Sicherheit.«

»Also vermitteln, nicht ermitteln?«, entgegnete Norma schmunzelnd. Eindringlich fragte sie: »Fühlen Sie sich persönlich bedroht?«

Er hob abwehrend die Hände. »Gott bewahre! Ich habe Neider und bin so manchem auf die Füße getreten. Aber warum sollte mir jemand nach dem Leben trachten?«

»Sie wollen mich demnach als Sicherheitsbeauftragte engagieren, verstehe ich das richtig?«

»Unterstützt von einer erfahrenen Polizistin wie Ihnen«, sagte er mit breitem Lächeln, »werden wir mit der erforderlichen Gelassenheit und Konzentration arbeiten können.«

»Ex-Polizistin«, stellte sie klar.

Nach kurzer Diskussion stimmte er ihren Honorarforderungen zu. »Meinetwegen, aber unter einer Bedingung: Sie wohnen hier auf dem Gelände. Ich habe vorsorglich ein Zimmer im Hotel Kloster Eberbach gebucht. Sie können heute Mittag einziehen.«

Über den Befehlston ließ sich Norma vom ausgehandelten Verdienst hinwegtrösten. Sämtliche Übereinkünfte tippte Winterstein akribisch in seinen Laptop. Offenkundig verließ sich ihr Auftraggeber nicht auf mündliche Vereinbarungen.

Nachdem sie den Vertrag in zwei Ausführungen unterzeichnet hatten, streckte Winterstein ihr die Hand hin. »Ab jetzt bin ich ›Ecki‹ für dich. Willkommen im Drehteam, Norma!«

So vernuschelt, wie er das Wort aussprach, klang es in ihren Ohren wie »Dreamteam«.

Mord im Kloster Eberbach

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