Читать книгу Schuster und nichts als die Wahrheit - Susanne Lieder - Страница 6
Kapitel 2
ОглавлениеKlinikum Mitte
Der Arzt war jung, sehr jung. Und er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einem deutschen Schauspieler, dessen Name Schuster beim besten Willen nicht einfallen wollte. „Wie schwer sind ihre Verletzungen?“, wollte er von ihm wissen.
„Durch den Schlag kam es zu einer Quetschung des Gehirns. Wir haben sie in ein künstliches Koma versetzt.“
„Ach, dann ist sie gar nicht von selbst ins Koma gefallen? Entschuldigung, falls ich blöd frage …“
Der Arzt winkte ab. „Kein Problem, ich bin der Mediziner und Sie der Kriminalist. Wir haben sie ins Koma versetzt und überwachen ihren Hirndruck. Ein komatöses Gehirn hat einen deutlich niedrigeren Stoffwechsel als ein waches. Dadurch können die Schäden nach einem Schädeltrauma reduziert werden.“
„Was ist mit dem jungen Mann, der ebenfalls dort gefunden wurde?“
„Er hat sich beim Sturz das linke Handgelenk verletzt. An der Stirn hat er eine kleine Platzwunde, nichts Ernstes. Mehr Sorgen macht mir der enorme Alkoholpegel. Wir behalten ihn vorsorglich ein, zwei Tage hier.“
„Dann kann ich vermutlich noch nicht mit ihm sprechen?“
Der Arzt schüttelte den Kopf. „Er ist nicht ansprechbar.“
„Wie viel Promille hatte er?“
„2,8.“
„Donnerwetter. Damit würde ich nicht mal mehr zwei Füße voreinander kriegen.“
„Das gelang ihm auch nicht mehr. Er musste getragen werden.“
„Danke.“ Wie konnte man sich so volllaufen lassen? Schuster griff in seine Jackentasche und zog seine Visitenkarte heraus. „Würden Sie mich bitte sofort anrufen, wenn er vernommen werden kann?“
„Sicher.“ Der Arzt steckte die Karte in seine Kitteltasche und verschwand um die Ecke.
Auf einem der Plastikstühle auf dem Flur saß eine Frau und blickte Schuster mit einer Mischung aus Besorgnis und Angst an, während er auf sie zuging. „Frau Schmidt?“
Sie nickte.
Er stellte fest, dass sie Sportschuhe trug, was zum Rest ihrer ansonsten eher eleganten Kleidung nicht recht passen wollte. Neben ihrem Stuhl stand ein Kinderwagen, besser gesagt eine Art Buggy, einer dieser modernen Dinger, die nur drei Räder hatten. Schuster hatte bereits darüber nachgedacht, ob er so einen für die Zwillinge anschaffen sollte.
Im Buggy saß ein kleines Kind, ein Junge, wie er auf den ersten Blick sah. Der Kleine drosch mit seiner Faust auf eine Spielzeugkette aus Holz, die über den Buggy gespannt war, und quietschte fröhlich, als es leise klingelte und schepperte.
Schuster nahm die kleine Kinderhand. „Na, wer bist du denn?“
„Das ist Kiran, mein Enkel. Miriams Sohn.“ Die Frau strich dem kleinen Jungen übers Haar.
„Ihr Sohn?“ Schuster schluckte. Sofort schoss ihm durch den Kopf, was für ein Segen es war, dass der Junge nicht gemeinsam mit seiner Mutter an der Weser spazieren gegangen war. „Frau Schmidt, wann haben Sie das letzte Mal mit Ihrer Tochter gesprochen?“
„Gestern Abend. Wir haben miteinander telefoniert.“
„War sie irgendwie anders? Nervös? Besorgt?“
„Nein, sie war wie immer.“
„Ist sie häufig morgens spazieren gegangen?“
Sie nickte. „Sie geht meistens so gegen 6 Uhr los. Meine Tochter ist eine Frühaufsteherin, genau wie ihr Sohn.“ Sie schniefte. „Miriam liebt Spaziergänge am frühen Morgen. Sie sagt, es sei besonders schön am See, wenn die Sonne aufgeht.“ Sie schloss für einen Moment die Augen. „Kiran hat bei mir übernachtet. Gestern war unser „Oma-Tag“, so nennen wir es.“
Vermutlich dachten beide gerade genau dasselbe. Wäre der Kleine bei seiner Mutter gewesen, säße er vielleicht nicht neben seiner Großmutter im Buggy.
Schuster ließ die Hand des kleinen Jungen los und setzte sich neben Frau Schmidt. „Kiran. Ein hübscher Name. Ungewöhnlich.“
„Er ist indianisch und bedeutet ‚Sonnenstrahl‘.“ Sie holte eine Packung Taschentücher aus ihrer Handtasche, zog eins heraus und wischte dem Kleinen damit über den Mund. „Er bekommt Zähne.“ Sie sprach sehr leise.
„Wer ist der Vater des Kleinen?“
„Jonas Faber. Miriams Ex-Freund. Sie hat sich vor ein paar Monaten von ihm getrennt.“
Bei dem Namen „Jonas Faber“ horchte Schuster auf. „Jonas Faber, sagten Sie? Das ist der Mann, der in der Nähe Ihrer Tochter gefunden wurde.“
Sie sah ihn fassungslos an. „Wie bitte?“
„Er war vollkommen betrunken, ist noch nicht ansprechbar. Es tut mir leid, Frau Schmidt, aber in seiner Hand wurde eine leere Schnapsflasche gefunden. Sehr wahrscheinlich wurde Ihre Tochter mit dieser Flasche …“
Sie unterbrach ihn. „Jonas hat nichts damit zu tun. Niemals.“
„Wie gut kennen Sie ihn?“
„Wie gut? Er war wie ein Schwiegersohn für mich. Ich dachte, dass die beiden irgendwann heiraten würden. Sie waren ein bildschönes Paar.“ Kurzfristig versank sie offenbar in eine Art Melancholie, dann holte sie tief Luft. „Ich begreife bis heute nicht, warum Miriam sich getrennt hat. Jonas hat sie auf Händen getragen.“
„Und Sie trauen ihm so etwas nicht zu?“ Er streckte wieder die Hand nach dem kleinen Jungen aus, der sofort seine kleine Faust um den Daumen schloss.
„Was zutrauen? Dass er hinter meiner Tochter herläuft und ihr eine Flasche auf den Kopf haut? Nein, das traue ich ihm weiß Gott nicht zu.“ Sie verschränkte die Hände ineinander.
Ihr kleiner Enkel nieste zweimal hintereinander, und sie nahm das Taschentuch und putzte ihm die Nase. Er sträubte sich heftig. „Wer macht so was? Wer tut meiner Tochter so etwas an?“ Dann seufzte sie. „Heute ist ihr Geburtstag.“
Schuster legte kurz die Hand auf ihren Arm und nickte mitfühlend. „Wissen Sie, ob Ihre Tochter Streit oder Ärger mit jemandem hatte?“
„Nein, Miriam hatte keinen Ärger. Sie ist ein liebes Mädchen, alle kommen gut mit ihr aus.“
„Was macht sie beruflich?“
Sie tupfte sich mit dem Taschentuch den Hals ab. „Sie ist Sozialarbeiterin in einem Heim für junge Mütter. Sie wollte unbedingt etwas mit Kindern oder Jugendlichen machen, denen es nicht so gut geht, die Probleme haben.“
„Dann war sie noch in Elternzeit?“
Sie nickte. „Sie wollte in drei Monaten wieder anfangen. Die Arbeit hat ihr gefehlt. Sie hat sogar darüber nachgedacht, mit Kiran selbst dort zu wohnen. Ich habe versucht, es ihr auszureden.“
„Warum?“
Sie sah ihn verwundert an. „Warum? Sie hat ihre Arbeit sowieso schon mit nach Hause gebracht. Wenn sie und Kiran in diesem Heim wohnen, wird sie gar nicht mehr zur Ruhe kommen. Nein, ich hoffe, dass sie sich das noch mal gründlich überlegt.“ Sie wurde blass. „Ich meine, ich hoffe, dass sie wieder aufwacht und dann …“
„Hatte sie …“ Schuster verbesserte sich hastig. „Hat sie ein gutes Verhältnis zu ihren Arbeitskollegen?“
„Ein sehr gutes, soweit ich weiß. Miriam ist beliebt.“
„Und Freundinnen?“
„Sonja. Sonja Roth.“
„Würden Sie mir Namen und Adresse aufschreiben?“
„Sicher.“
Ihr Enkel lachte und zeigte an die Decke. Beide hoben den Kopf.
„Hat Ihre Tochter ein Handy? Wir haben keins bei ihr gefunden.“
„Natürlich. Sie hat eins von diesen neumodischen Dingern, ich kann mir einfach nicht merken, wie sie heißen.“
„Ein Smartphone?“
Sie nickte. „Genau. Mein Mann sagt immer, irgendwann kann man sich mit diesen Dingern die Beine rasieren.“
Ja, da war was dran. „Haben Sie Ihr Handy bei sich?“
„Miriams?“, fragte sie verwirrt.
„Nein, Ihr eigenes.“
„Ach so.“ Sie wühlte in ihrer Handtasche. „Ich glaube schon.“
„Würden Sie Ihre Tochter bitte auf dem Handy anrufen?“
Mit zitternden Fingern tippte sie und wartete einen Moment. „Es ist ausgeschaltet.“
Schuster nickte. „Ihr Mann lebt in Hamburg?“ Er klappte sein Notizbuch zu.
„Nein, wir wohnen hier in Bremen.“ Sie schien irritiert zu sein. „Ach, jetzt weiß ich, was Sie meinen. Miriams Vater und ich, wir sind geschieden, seit über zwanzig Jahren. Ich lebe mit meinem zweiten Mann zusammen.“
„Wie ist das Verhältnis zwischen ihm und Ihrer Tochter?“
Ihr Blick war misstrauisch. „Wunderbar. Warum fragen Sie?“
„Routine.“
Jetzt schien sie wütend zu sein. „Mein Mann und ich waren heute früh zu Hause. Er hat mit Kiran gespielt, und ich habe mich um das Frühstück gekümmert. Wir sind nicht an der Weser spazieren gegangen und haben Miriam irgendetwas auf den Kopf geschlagen, Herr Kommissar.“
„Entschuldigen Sie, aber ich muss das fragen.“ Er klappte sein Notizbuch wieder auf. „Ach, fast hätte ich’s vergessen: Hat Ihre Tochter ein Auto?“
„Sie hat gar keinen Führerschein. Ich habe dauernd zu ihr gesagt: Mach den Führerschein, Kind, aber sie wollte nicht. Wozu brauch ich den hier, mitten in der Stadt, Mama?, hat sie immer gemeint. Sie ist meistens mit dem Fahrrad gefahren.“
Es tat ihm leid, dass er sie mit seinen Fragen belästigen musste. „Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich an, ja? Auch wenn Sie der Meinung sind, es sei nicht wichtig.“
„Kann ich jetzt zu meiner Tochter?“
„Das kann ich nicht entscheiden.“ Schuster blickte sich nach dem jungen Arzt um, der aber nirgends zu sehen war, und stand auf. „Vielen Dank, Frau Schmidt.“ Er nickte ihr zu und ging in Richtung Treppenhaus.
Er wollte gerade vom Parkplatz fahren, da kam sie aus dem Klinikgebäude gelaufen. Ohne ihren Enkel.
Er kurbelte das Fenster herunter.
„Was ist mit Jack?“ Sie war ganz außer Atem.
„Wer ist Jack?“
„Ihr Hund. Miriams Hund.“
Er kratzte sich am Kinn. „Wir haben keinen Hund gefunden.“
„Was? Oh Gott, der Arme. Wo steckt er denn bloß?“ Sie sah sich auf dem Parkplatz um, als würde der Hund hier irgendwo sein.
„Was ist das für ein Hund?“ Schuster kramte nach seinem Notizbuch.
„Ein Terrier.“
Er mochte Hunde nicht besonders. Er hatte einfach zu oft schlechte Erfahrungen mit ihnen gemacht.
Frau Schmidt drehte den Kopf und murmelte: „Ach, sieh mal an, er bequemt sich auch“.
Ein Mann in elegantem Anzug und mit farblich abgestimmter Krawatte stellte sich neben sie. „Ingrid.“ Mehr sagte er nicht.
„Schön, dass du auch mal kommst“, gab sie giftig zurück.
„Meine Güte, ich hab gesehen, dass ich so schnell wie
möglich … Du weißt doch, wie das auf der A1 ist. Ich war unterwegs zu einem Kundentermin, als du angerufen hast.“
Schuster öffnete die Autotür und stieg aus. „Herr Schmidt?“
„Trotz.“ Der Mann schüttelte seine Hand.
Was meinte er damit? Dass seine Frau, seine geschiedene Frau, trotzig war?
„Mein Name ist Trotz, Werner Trotz“, klärte der Mann ihn auf.
„Mein zweiter Mann hat Miriam adoptiert“, sagte Frau Schmidt.
„Verstehe.“
„Interessiert es dich vielleicht, wie es unserer Tochter geht?“, schnauzte sie ihren Ex-Mann an. Sofort seufzte sie zerknirscht und legte die Hand auf seinen Arm. „Entschuldige, ich bin ganz durcheinander.“
„Das verstehe ich doch, Ingrid.“ Für einen kurzen Moment sahen sie sich an wie ein Paar, das sich lange Zeit kennt und so viel voneinander weiß, dass es nur wenige Worte braucht. „Lass uns reingehen“, schlug er schließlich versöhnlich vor. „Ich brauche dringend einen Kaffee. Dann kannst du mir alles erzählen.“
Die beiden waren bereits ein paar Meter gegangen, als Schuster wieder aus dem Wagen sprang, weil ihm noch etwas eingefallen war. „Herr Trotz? Ihre Ex-Frau sagte, Ihre Tochter habe immer ihren Hund bei sich.“
Miriams Vater drehte sich zu ihm um. Er nickte. „Jack. Sie hat ihn so genannt wegen der Rasse.“ Er schien nachzudenken. „Ein Terrier. Ach, Himmel noch eins, mir fällt gerade nicht ein, was für ein Terrier. Entschuldigung, ich bin etwas …“
„Schon gut.“
Dann huschte ein erhellendes Lächeln über das glatt rasierte Gesicht des Mannes. „Jetzt hab ich’s. Jack Daniels. Ach, Blödsinn. Jack Russel, meine ich.“
„Wir haben den Hund nicht gefunden.“
„Er war nicht bei ihr?“
„Nein.“ Schuster steckte sein Notizbuch in die Jackentasche. „Ich würde mich gern ein bisschen in der Wohnung Ihrer Tochter umsehen, wäre das möglich?“
Frau Schmidt griff in ihre Manteltasche und reichte ihm einen Schlüsselbund. „Ich habe einen Zweitschlüssel.“
Im Bremer Stadtteil Neustadt
Zusammen mit seinem Kollegen Lahm sah er sich die Wohnung an. Sie war unaufgeräumt, überall lag Spielzeug ihres Sohnes herum, sogar im Flur. Lahm stolperte über ein kleines Feuerwehrauto, dessen Alarm sofort losging. Er brauchte eine Weile, um ihn auszustellen.
Schuster würde es vor seinem Kollegen nicht zugeben, aber er freute sich schon darauf, dass es in seinem Haus auch bald so aussehen und man über Spielzeug stolpern oder auf Holzbauklötze treten würde.
Lahm warf ihm einen amüsierten Blick zu. „Man kann dir förmlich ansehen, dass du schon ganz wild darauf bist, dir die Haxen zu brechen, wenn du über die Spielzeugautos deines Sohnes fällst.“
Schuster öffnete eine Schublade einer kleinen Kommode, die im Wohnzimmer stand. „Woher willst du wissen, dass ich einen Sohn bekomme?“
Lahm zog ein paar Bücher aus dem Regal und schlug sie auf. „Na, die Chancen stehen immerhin fifty-fifty.“
„Haben wir am Werdersee schon was gefunden? Ihr Handy vielleicht?“
Lahm ging auf die Knie und lugte unter eine schmale Kommode, auf der ein paar Bilderrahmen standen. „Nein, bisher nicht. Die Stelle im See wird gerade von zwei Tauchern abgesucht.“ Er ächzte, als er wieder auf die Füße kam. „Ich persönlich glaube ja nicht, dass ihr Handy in den See geworfen wurde. Warum sollte er das getan haben?“
„Er?“
„Na, der Bursche, der dort gefunden wurde.“
„Wobei wir noch nicht davon ausgehen können, dass er der Täter ist.“
„Ach nein? Heiner, er lag nur ein paar Meter weiter, stockbesoffen, in der Hand eine Flasche. Sehr wahrscheinlich genau die Flasche, die sie über den Kopf bekommen hat.“
Schuster betrachtete die Fotos, die auf der Kommode standen. „Ich bin nicht so schnell im Verurteilen wie du.“
Sein Kollege stellte sich neben ihn. „Okay, okay, im Zweifel für den Angeklagten, aber hier ist alles so eindeutig wie …“
Schuster sah ihn erwartungsvoll an. „Ja? Wie was? Lass uns doch erst mal mit dem Mann sprechen, Flo.“ Er zeigte auf eins der Fotos. Auf dem Bild war der kleine Kiran zusammen mit einer jungen Frau, wahrscheinlich seiner Mutter, und einem jungen Mann zu sehen. Das Foto war ziemlich unscharf und irgendwo im Freien aufgenommen worden. „Das wird sie sein.“ Er tippte mit dem Finger auf den jungen Mann. „Und das scheint der Papa zu sein.“
„Der Bursche, der breit wie eine Strandhaubitze im Krankenhaus liegt.“ Lahm nickte.
„Miriams Mutter glaubt nicht, dass er zu so was imstande wäre. Er habe Miriam auf Händen getragen, sagt sie.“
„Was nicht heißt, dass er nicht irgendwann so sauer auf sie sein kann, dass er ihr den Schädel einschlagen will. Wie sagt Kuhn immer so schön: Niemand kann in den Kopf eines anderen gucken, selbst dann nicht, wenn er meint, ihn in- und auswendig zu kennen.“
Schuster erwiderte nichts. Kuhn war der Meinung, dass jeder Mensch eine dunkle Seite hatte. Und wenn die Zeit reif war, würde er die ausleben.
Er selbst sah das anders. Gut, eine dunkle Seite hatte er auch. Im Straßenverkehr zum Beispiel brüllte er andere Autofahrer hemmungslos an, wünschte ihnen die Ruhr und stellte sich gelegentlich vor, wie er sie rücksichtslos in den Graben drängte. Hinterm Steuer konnte er zum Tier werden. Aber nur dann. Sobald er die Tür zuschlug und den Wagen abschloss, war er wieder lammfromm. Natürlich hatte ihn die Berufserfahrung gelehrt, dass es Menschen gab, die ebenfalls lammfromm waren und dann doch so ausrasten konnten, dass sie andere umbrachten. Und dennoch glaubte er nicht daran, dass in jedem etwas Böses, Unberechenbares schlummerte.
Lahm verschwand in der Küche. Schuster hörte ihn Schubladen und Schränke öffnen, dann fiel irgendetwas herunter und schepperte laut. „Was machst du da?“
„Aufräumen“, gab sein Kollege trocken zurück.
„So hört es sich an.“ Schuster sah sich in Miriams Schlafzimmer um. Es war ein eigenartiges Gefühl, in der Wohnung eines Menschen zu sein, der nicht tot war und trotzdem momentan so gut wie keine Privatsphäre hatte. Leicht fiel ihm so etwas nicht. Aber es war immerhin möglich, dass sie irgendwas finden würden, das sie weiterbringen könnte.
Eine halbe Stunde später standen sie im Treppenhaus.
„Du oben, ich unten?“, fragte Lahm.
Miriam Schmidt wohnte in einem 6-Familienhaus im ersten Stock. Gleich gegenüber lag die Wohnung einer Hanna Stahl, bei der er nun klingelte. Sie öffnete bereits nach zwei Sekunden, und er wettete, dass sie vor der Tür gestanden und durch den Spion gelugt hatte.
„Frau Stahl?“
Sie nickte misstrauisch.
Er zeigte ihr seinen Ausweis. „Schuster, Kripo Bremen. Es geht um Ihre Nachbarin Miriam Schmidt.“
Die Frau wurde erschreckend blass. „Ist ihr was passiert?“
„Sie wurde heute früh am Werdersee gefunden.“
Bevor er noch irgendetwas sagen konnte, hatte sie einen spitzen Schrei ausgestoßen. „Ist sie tot?“
„Nein, nein. Sie ist schwer verletzt. Sie wurde niedergeschlagen und liegt jetzt im Koma.“
Sie taumelte und schlug die Hand vor den Mund. „Was ist mit dem Kleinen? Was ist mit ihrem Sohn?“
„Dem geht’s gut, Frau Stahl. Er ist bei seiner Großmutter.“
Die Frau sank gegen den Türrahmen und schloss erleichtert die Augen. „Gott sei Dank.“
„Wie gut kannten … kennen Sie Frau Schmidt?“
„Wir sind Nachbarn, wie man sich da eben so kennt. Ich passe manchmal auf ihren Hund auf. Oder ich gieße ihre Blumen, wenn sie länger weg ist. Weg war. Seitdem sie den Jungen hat, ist sie fast nur noch zu Hause.“
„Hatte sie oft Männerbesuch? Ist Ihnen mal irgendetwas aufgefallen? Streit, Krach aus der Wohnung, irgendwas?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ihr Freund, ich meine ihr Ex-Freund, Jan, Jens … Ich habe letzte Woche zufällig … rein zufällig, ich sehe natürlich nicht die ganze Zeit durch den Spion … Er stand vor der Wohnungstür und hat geklopft. Lass mich doch rein, Miri, hat er gesagt. Bitte, ich will doch nur meinen Sohn sehen.“
„Dann gab’s Streit wegen des Kindes?“
„Das weiß ich nicht. Ich habe nur gehört, was er gesagt hat. Leid getan hat er mir. Sie verstanden sich wohl nicht gerade gut im Moment.“
„Er hat aber nie hier gewohnt?“
„Nein, er hatte seine eigene Wohnung. Miriam hat mal gesagt, dass sie sich nicht vorstellen kann, mit einem Mann zusammenzuwohnen.“
„Wann haben Sie Miriam das letzte Mal gesehen?“
Sie schluckte. „Heute früh. Ich habe das Wohnzimmerfenster geöffnet und gesehen, wie sie aus dem Haus gegangen ist.“
„Mit ihrem Hund?“
Sie nickte. „Den hatte sie immer dabei. Seinetwegen ist sie ja meistens so früh los.“
„Wissen Sie, wie spät es war?“
Sie musste kurz überlegen. „Es muss so gegen kurz nach sechs gewesen sein. Ich habe im Bett die Nachrichten im Radio gehört, und kurz darauf bin ich aufgestanden.“
„Vielen Dank. Das hilft uns weiter.“
„Gern geschehen.“
Er drehte sich um, dann fiel ihm noch etwas ein. „Können Sie sich vorstellen, dass der Hund jemanden anfällt, der Miriam zu nahe kommt?“
„Anfallen? Nein. Miriam hat immer gesagt, der würde jedem Einbrecher die Hand abschlecken, so gutmütig wäre er.“
Schuster nickte nachdenklich. „Verstehe. Danke, Frau Stahl.“ Wo steckte dieser Hund? War er in Panik abgehauen? Und wenn ja, wohin?
Sie fuhren zurück ins Präsidium, wo Kuhn an Schusters Schreibtisch saß und im Internet surfte. Er zuckte schuldbewusst zusammen, als Schuster hereinkam und sich lautstark räusperte, sprang auf und wischte über den Schreibtischstuhl.
„Na, nun übertreib mal nicht“, meinte Schuster und grinste.
„Gibt’s schon irgendwas Neues von der Frau?“
„Leider nein. Haben wir was gefunden? Ihr Handy?“ Schuster setzte sich an seinen Schreibtisch und gab „Jonas Faber“ in der Datenbank ein. Der junge Mann war ganz offenbar ein unbeschriebenes Blatt.
Kuhn schüttelte den Kopf. „Nein, bisher wurde nichts gefunden.“ Er zog die Tür seines Kabuffs hinter sich zu.
Lahm schob Schuster einen Becher Kaffee hin. „Haben wir eigentlich noch irgendwo Kekse?“
Schuster zeigte auf den Schrank. „Links. Da müssten noch welche sein.“
Lahm fand eine angebrochene Packung amerikanische Schoko-Cookies und stieß ein begeistertes „Yeah!“ aus.
„Ich horche mich nachher ein bisschen in diesem Mutter-Kind-Heim um.“ Schuster verzog das Gesicht, nachdem er am Kaffee genippt hatte. „Meine Güte, wer hat den denn gekocht?“
„Kuhn.“
„Du meinst Moritz.“
„Genau den.“
„Warum sagst du’s dann nicht?“
Lahm setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. „Hab ich doch.“
„Was ist, kommst du mit zu den jungen Müttern?“
Sein Kollege schob ihm die Kekspackung über den Tisch zu. „Klar. Probier mal, sind lecker.“
„Hattest du eigentlich nie eine Phase, wo du darüber nachgedacht hast, etwas Soziales, irgendwas fürchterlich Sinnvolles zu tun?“
Lahm überlegte einen Moment. „Doch, ich wollte mal Streetworker werden.“
„Du?“ Schuster hustete, weil er sich verschluckt hatte. „Entschuldige, ich wollte damit nicht sagen, dass ich dich für komplett ungeeignet halte. Aber so richtig vorstellen kann ich mir das nicht.“
Lahm trank seinen Kaffee aus. „Ich auch nicht. Darum bin ich ja auch Bulle geworden.“