Читать книгу Abends bei Clark's - Susanne Lieder - Страница 6
1. Kapitel
ОглавлениеMittwoch, 22. August
Katja
Zu Katjas Füßen lag ihr Mann. Kreidebleich, blutend, tot.
Mausetot.
So manches Mal hatte sie sich gewünscht, ihn tot am Boden liegen zu sehen, doch jetzt wurde ihr angst und bange. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was sie tun sollte.
Die Polizei anrufen und sagen: Mein Mann ist überfallen worden. Ich bin gerade erst nach Hause gekommen und habe ihn tot in der Wohnung gefunden?
Nein, das würde nur Probleme geben. Sie müsste einen Einbruch vortäuschen, und als leidenschaftliche Krimi-Liebhaberin wusste sie, dass das verdammt heikel wäre.
Nein, sie musste sich etwas anderes einfallen lassen.
Martina! Ihre älteste und beste Freundin wusste immer, was man in vertrackten Situationen tun musste.
Sie nahm ihr Handy vom Tisch. „Martina, ich bin’s.“
„Katja, wie schön! Ist das nicht ein herrlicher Tag heute? Ein Tag zum Forellenüberfahren, stimmt’s oder hab ich recht?“
Katja druckste ein wenig herum. „Mir ist da was ganz Blödes passiert. Kannst du herkommen?“
„Das passt mir gerade ganz schlecht.“
„Es geht um Leben und Tod. Na ja, mehr um Tod. Es ist wegen Ulf.“
„Was ist mit ihm?“
„Er ist tot.“
Martina schloss sie kurz darauf in die Arme und wiegte sie wie ein Kind. „Ach Mensch, Katja. Du Arme.“
Katja wollte ihr alles erklären, doch bevor sie ansetzen konnte, ging Martina energischen Schrittes an ihr vorbei und begutachtete den am Boden liegenden und am Kopf blutenden Ulf.
„Meine Güte. Wie ist das denn passiert?“
„Ich … ich hab ihn mit dem Kerzenständer dort erwischt.“ Katja wies hinter sich. Dort stand ein schmiedeeiserner Kerzenständer, die weiße, halb heruntergebrannte Kerze lag daneben. Am oberen Ende des Leuchters war etwas Blut zu sehen, aber nur wenn man nahe genug davorstand. „Wir haben furchtbar gestritten. Ich hab ihm gesagt, dass ich längst weiß, dass er mich betrügt. Wieder mal. Das hat doch überhaupt nichts zu bedeuten, Katja, hat er gefaselt. Ich war stinksauer. Und irgendwie hab ich den Kerzenständer in die Hände bekommen und dann … tja …“ Sie seufzte und zeigte auf Ulf.
Martina schwieg, sie sah sehr nachdenklich aus.
„Hab ich ihn erschlagen?“ Katja ahnte, dass es nicht gut für sie aussah.
Für Ulf auch nicht.
„Scheint so. Hätte ich dir nie zugetraut.“ Hatte Martina beeindruckt geklungen?
„Was soll ich denn jetzt bloß machen, Martina?“
Martina dachte offenbar noch immer nach. Dabei lief sie durchs Wohnzimmer bis zum Fenster und wieder zurück. Dann blieb sie abrupt stehen und sah Katja mit einem listigen Grinsen an. „Erst mal müssen wir ihn von hier wegschaffen.“ Sie tätschelte Katjas Arm. „Wir wickeln ihn in irgendwas ein. Und dann packen wir ihn in den Kofferraum.“
Wie stellte sie sich das vor? Ulf war ziemlich groß und nicht gerade ein Fliegengewicht.
Ihre Freundin krempelte die Ärmel hoch. „Wir machen es mit der klassischen Teppichmethode.“ Sie ging zu dem flauschigen, hellen Teppich, den Katja vor Jahren für verteufelt viel Geld erstanden hatte. „Wir werden ihn ruinieren. Das viele Blut …“, gab sie zu bedenken.
Aber Martina hatte ihn bereits aufgerollt. Dabei keuchte sie. „Komm, hilf mir mal.“
Gemeinsam versuchten sie Ulf hochzuheben, wobei Katja an seinem Kopf stand und Martina an seinen Beinen.
„Meine Güte, ist der schwer.“ Martina pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Sie ächzten und schnauften, als etwas Seltsames geschah: Ulfs Augenlider zuckten. Zunächst meinte Katja, sie habe sich das nur eingebildet, doch dann öffnete er erst das rechte Auge und schließlich das linke.
Gellend schrie sie auf: „Ulf!“
„Sagtest du nicht, dass er tot ist?“, zischte Martina.
Sie hörte sich erneut aufschreien.
Zwei Arme griffen nach ihr und hielten sie fest. Eine Stimme, die beruhigend auf sie einredete. „Schsch. Was ist denn los, Katja?“
Sie schlug nach der Hand. „Lass mich …“
Vorsichtig öffnete sie die Augen. Sie hatte geträumt. Ein Albtraum. Ulf saß neben ihr, die Bettdecke halb zurückgeschlagen, und starrte sie entgeistert an. „Du hast laut geschrien.“
„Ich hab schlecht geträumt.“
„War jemand hinter dir her?“
„So ungefähr.“ Sollte sie ihm sagen, dass sie ihn im Traum mit einem Kerzenständer erschlagen hatte?
Und es war nicht das erste Mal, dass sie ihn im Schlaf ermordet hatte. In einem dieser Träume hatte sie ihn mit einem dicken lilafarbenen Sofakissen erstickt. Das war schließlich explodiert und weiße Schaumstoffflöckchen waren durchs Zimmer geflattert.
Sie drehte sich auf die andere Seite und versuchte, wieder einzuschlafen. Ulf wälzte sich neben ihr hin und her.
„Ich kann nicht mehr schlafen“, brummte er und rutschte auf ihre Seite.
Sie gähnte demonstrativ.
„Katja? Schläfst du schon?“
„Ja.“
„Schade. Ich dachte, du hättest vielleicht Lust auf Sex.“
Sie reagierte nicht.
„Komm schon, nur ein bisschen.“
Ein bisschen, aha.
Sie grunzte und wickelte sich fest in die Bettdecke.
Er brummte noch irgendetwas und rutschte wieder auf seine Seite.
Donnerstag, 23. August
Anna
Anna saß mit ausgestreckten Beinen im Gras und blickte blinzelnd in den Himmel. Kein Wölkchen war zu sehen. Es war ein heißer Tag, vermutlich einer der letzten Sommertage. Der September stand vor der Tür, ein Monat, den sie seit ihrer Kindheit liebte.
Sie überlegte, ob sie schwimmen gehen sollte. Seit Jahren war sie nicht mehr geschwommen. Vielleicht hatte sie es inzwischen verlernt? Aber wie sagte ihre Mutter immer: Schwimmen verlernt man nicht.
Sie schüttelte ihre Locken, legte sich flach ins Gras und schloss die Augen. Eine kleine Hummel flog um ihren Kopf herum.
Als junges Mädchen hatte sie geglaubt, Hummeln seien kleine Elfen und würden ihr etwas ins Ohr flüstern, wenn man sie nahe genug heranließ.
Sie seufzte leise. In wenigen Monaten würde sie vierzig werden.
Wie das schon klang, vierzig! Sie fürchtete sich nicht davor, alt zu werden, nein, ihr wurde nur mehr und mehr bewusst, dass sie viel zu viele Jahre verplempert hatte.
Wann hatte sich Hans so verändert?
Ihre Mutter hatte von Anfang an Bedenken gehabt. Er macht dich nicht glücklich, Anna, hatte sie gesagt.
Sie sollte recht behalten. Bereits nach zwei Jahren war nämlich eine Veränderung mit ihm passiert, eine Wandlung, die damit begonnen hatte, dass er Anna argwöhnisch angesehen hatte, wenn sie auch nur zehn Minuten später nach Hause kam als erwartet. Wo warst du denn so lange? Was hast du denn noch gemacht?
Und wenn sie telefonierte, hatte er hinterher gefragt: Wer war das, Anna? Mit wem hast du so lange gesprochen?
Ständig hatte sie Rechenschaft ablegen müssen. Dabei war sie eine treusorgende Ehefrau gewesen.
Nur leider keine Mutter. Nachdem sie begriffen hatte, dass er keine Kinder wollte, um sie ganz für sich allein zu haben, war auch mit ihr eine Wandlung passiert. Sie zog sich von ihm zurück, jeden Tag ein wenig mehr. Bis sie es irgendwann nicht mehr ausgehalten und ein paar Sachen zusammengepackt hatte, um zu ihrer Schwester zu ziehen.
Am nächsten Morgen hatte er vor der Tür gestanden. Ich kann mich ändern, Anna.
Sie hatte nachgegeben und es wenig später schon wieder bereut.
Inzwischen wusste sie, dass sich Menschen nicht einfach so ändern. Und Menschen wie er schon gar nicht. Ein heiliges Versprechen nach dem nächsten hatte er ihr gegeben und kein einziges gehalten.
Bei ihrer Schwester konnte sie nicht bleiben, also hatte sie vor ein paar Tagen eine kleine Reisetasche gepackt und war in eine Pension gezogen. Hans wusste weder, wo sie war, noch, dass sie ein eigenes Konto hatte. Und das sollte auch so bleiben.
Sie hatte sich eine Perücke gekauft, die sie immer trug, sobald sie die Pension verließ.
Und heute hatte sie sich an den See getraut. Das Wetter war einfach zu herrlich, um im Zimmer zu hocken.
Der warme Wind wehte über ihre nackten Beine, als würde sie jemand mit sehr sanften Fingerspitzen berühren.
Sie stand auf und ließ ihr Kleid auf die Erde gleiten. Von Weitem sah sie jetzt wahrscheinlich wie eine Nymphe aus, die gerade aus dem Wasser gestiegen war. Eine Nymphe mit langen schwarzen Locken.
Waren Nymphen nicht eher blond?
Sie ging zum Seeufer und schirmte ihre Augen mit einer Hand ab. Sie tauchte einen Zeh ins Wasser und zuckte zusammen. War das kalt! Sie schlüpfte aus ihrer Unterwäsche, ließ sie einfach da liegen, wo sie gerade stand. Es war ganz still, nur das Surren einer dunkelblauen Libelle war zu hören, die wie ein kleiner Helikopter ihre Runden drehte.
Sie ließ sich bäuchlings ins Wasser fallen und schwamm ein paar Züge. Es war wirklich verflixt kalt. Sie machte kehrt und ließ sich auf dem Rücken in Richtung Ufer treiben.
Nackt und triefend nass stieg sie aus dem Wasser und ließ sich auf ihrer Decke nieder. Sie würde sich von der Sonne und dem warmen Wind trocknen lassen.
Selten hatte sie sich so lebendig gefühlt.
Sie ließ sich ins hohe Gras fallen, streckte sich aus und schloss die Augen. Schon als Kind hatte sie über eine lebhafte Fantasie verfügt.
Jetzt stellte sie sich vor, wie ein gut aussehender Mann vor ihr stand und sie ansah. Oh, verzeihen Sie vielmals, ich wollte nicht gaffen.
Er hatte einen braun gebrannten, straffen Körper und breite Schultern, und sie genoss seine bewundernden Blicke auf ihrem nackten Körper.
Sie fuhr hoch, als eine Hummel auf ihrer Nase landete. „Huh, hast du mich erschreckt!“
Die Hummel war blitzschnell weitergeflogen.
„Warst du vielleicht doch eine Fee?“, rief sie ihr nach.
Sie stand auf und schlüpfte in ihre Sandalen.
Vielleicht würde es heute noch ein Gewitter geben. Sie sollte sehen, dass sie in die Pension zurückkam.
Samstag, 25. August
Rita
So hatte Rita sich ihren fünfundvierzigsten Geburtstag nicht vorgestellt. Keiner ihrer Arbeitskollegen hatte Zeit für einen kleinen Umtrunk gehabt, und so war sie mutterseelenallein in eine Bar gegangen und hatte sich betrunken. Auf unsicheren Beinen war sie anschließend zum Taxistand getaumelt und hatte einen mürrischen Taxifahrer angetroffen, der sie anblaffte, dass er sie nicht fahren würde, sollte sie so betrunken sein, wie es den Anschein machte.
Sie hatte mit ihrem spitzen Absatz gegen die Fahrertür treten wollen, war ausgerutscht und der Länge nach auf den Gehweg gestürzt. Mühsam hatte sie sich aufgerappelt und den Taxifahrer angeschnauzt, als er ihr aufhelfen wollte.
Jetzt war sie auf dem Weg zur nächsten S-Bahn-Haltestelle.
Es war ein milder Abend, einige wenige Sterne funkelten über der Stadt. Sie summte ein Lied von Kim Carnes und schwang dabei ihre Handtasche.
Diese verdammten Schuhe würden sie noch umbringen.
Kurzerhand blieb sie stehen, hielt sich an einer Straßenlaterne fest und zog ihre Pumps aus. Ah, schon viel besser. Auf Strümpfen schwankte sie weiter.
Es ging eindeutig bergab mit ihr, niemandem war das klarer als ihr selbst. Seit gut zwei Jahren war sie ein nervliches Wrack.
Natürlich war sie das. Wie sollte es auch anders sein?
Bestimmt gab sie ein fürchterliches Bild ab. Jeder musste sie für eine Trinkerin halten. Dabei trank sie selten, auch wenn es verdammt viele Gründe gab, sich jeden Tag zu betrinken.
„Dieser Mistkerl, dieser elende Mistkerl …“ Die Handtasche erwischte einen Mülleimer.
Wo zum Teufel war diese dämliche Haltestelle? War sie in die falsche Richtung gelaufen? Nein. Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr schwindelig wurde.
Ihr Handy klingelte.
„Hier spricht Rita Flemming. Heute ist mein Geburtstag, und wer immer da auch dran ist, er soll mich am Arsch lecken.“
„Hallo, Rita.“
Sie betrachtete verblüfft das Handy. „Christian, bist du das?“
Christian war ihr Arbeitskollege und jemand, der sich liebevoll um sie kümmerte, obwohl er Frau und Kind hatte. Das rechnete sie ihm hoch an, besonders jetzt. Augenblicklich brach sie in Tränen aus.
„Um Gottes willen, was ist denn los?“
„Ich habe mich betrunken, und jetzt finde ich die Haltestelle nicht“, schluchzte sie.
„Soll ich kommen und dich abholen?“
Sie nickte heftig. „Ja. Nein. Lieber nicht. Deine Frau wird stinksauer auf mich sein.“
„Unsinn, sie mag dich. Sie wird das verstehen.“
Sie schniefte und kramte in ihrer Hosentasche. „Und ich hab nicht mal ein Taschentuch.“
„Soll ich kommen und dir eins bringen?“ Er lachte.
Sie lief weiter, das Handy am Ohr, in der anderen Hand ihre Schuhe. Dann entdeckte sie die Haltestelle. „Da ist sie! Ich hab sie gefunden.“
„Was? Eine Packung Taschentücher?“
„Nein, die Haltestelle.“
„Du, hör mal, tut mir echt leid, dass du ganz allein deinen Geburtstag feiern musstest. Was hältst du davon, wenn wir nächste Woche essen gehen?“
„Das machen wir.“ Sie hatte die Haltestelle erreicht. „Nacht, Christian.“
Sie blinzelte, weil sie meinte, noch jemanden im Wartehäuschen gesehen zu haben. Einen Mann. Ach verdammt, musste das sein?
Sie stöhnte auf und setzte sich auf das äußere Stück der Holzbank.
Der Mann saß am anderen Ende und blickte in ihre Richtung.
„Glotz bloß woanders hin“, murmelte sie. „Ich wurde genug angeglotzt in den letzten Jahren.“
Sie stellte ihre Schuhe neben sich auf die Bank und ihre Tasche auf die Knie. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass der Mann noch immer zu ihr herüberschaute. Unverschämter ging’s kaum. Sollte er nicht in der nächsten Minute woanders hinsehen, würde sie hingehen und ihm die Leviten lesen. Aber so was von!
Sie drehte den Kopf und stellte fest, dass er wie erstarrt dasaß und in ihre Richtung gaffte, den Mantelkragen hochgeschlagen.
Okay, nun reichte es.
Sie stand auf, wobei sie stark schwankte, und ging zu dem Mann. „Würde es Ihnen was ausmachen, woanders hinzustarren? Das macht mich nervös.“
Der Mann, er war deutlich älter, als sie vermutet hatte, grinste. „Starren. Das ist gut.“
Ihr blieb die Spucke weg. „Wenn Sie das witzig finden …“
Als er leise lachte, brannten bei ihr die Sicherungen durch. Sie hatte in den vergangenen Jahren zu viel mitgemacht und viel zu viel ertragen müssen.
Ihre Hand schoss vor und packte den Mann am Kragen. Sie schüttelte ihn und wunderte sich, dass er so leicht war. „Sie sollen gefälligst woanders hinsehen!“
Als sich sein Mund öffnete, schlug sie zu. Rechts und links klatschte sie ihm ihre flache Hand ins Gesicht.
Zwei Sekunden später hielt sie inne. Fassungslos betrachtete sie ihre Hand. Hatte sie den Mann wirklich geschlagen?
Er war in sich zusammengesunken, das Kinn auf der Brust.
Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Bitte verzeihen Sie, ich weiß nicht, was …“ Neben dem Mann an der Wand lehnte ein weißer, länglicher Stock. „O mein Gott! Sie sind blind?“
Sie ließ sich auf die Knie fallen und nahm seine Hände. „Es tut mir leid, es tut mir furchtbar leid. Ich hab die Beherrschung verloren. Warten Sie, ich rufe einen Arzt.“
Seine Hand suchte nach ihrer und drückte sie leicht. „Kein Arzt, ich brauche keinen Arzt.“
„Aber ich …“
„Wirklich nicht.“ Er hatte den Kopf gehoben, und sie konnte seine trüben Augen sehen.
Sie schämte sich so, dass sie anfing zu weinen.
„Es geht mir gut“, sagte er leise. „Aber Ihnen geht’s nicht gut.“
„Ich dachte, Sie starren mich an, und da …“
Er nickte. „Ich hab die Angst und die Wut in Ihrer Stimme gehört.“
„Es tut mir so leid, ich …“
„Sie sollten sich mal richtig aussprechen, junge Frau.“
Sie wischte sich mit dem Handrücken über die feuchten Augen. „Sie haben recht, das sollte ich …“