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Stimmen im Wind

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Sie saß auf ihrer Fensterbank, denn von dort hatte sie einen schönen Blick in den Garten. Ihre Mutter hatte ihn mit englischen Rosen und zu Kugeln geschnittenem Buchsbaum verziert. Alles blühte noch in voller Pracht, der September war fast vorüber.

Julia hatte den Knopf ihrer Jeans offen gelassen und zuckte leicht zusammen. Der kleine Silberring in ihrem Bauchnabel brannte noch ein wenig, wenn sie mit den Fingern daran drehte. Endlich hatte sie die Erlaubnis ihrer Mutter bekommen und sich ein Piercing machen lassen, so wie ihre Freundinnen Anna und Lisa eines besaßen. Sie teilte alles mit ihren Freundinnen, in guten wie in schlechten Zeiten, sagten sie sich immer.

Auf ihrem Glastisch summte schon wieder ihr Handy, jemand versuchte den ganzen Nachmittag, sie zu erreichen. Vielleicht war es Florian, der Neue in ihrer Klasse?

Julia musste schmunzeln, wenn sie an ihn dachte und in ihrem Bauch flatterten tausend kleine Schmetterlinge. Sie hatte sich für heute Abend mit ihren Freundinnen in der Disco verabredet, ob er auch da sein würde?

Sie traute sich nicht, einen Blick auf das Display ihres Handys zu werfen, weil sie insgeheim hoffte, dass er es sein würde. Aber sie war seit einem Jahr mit Benedikt zusammen. Eigentlich war sie glücklich, er war nett und erfüllte ihr jeden Wunsch. Er wolle ewig mit ihr zusammenbleiben, das sagte er ihr immer wieder. Es war schön mit ihm, aber langweilig.

Er war für drei Wochen auf einem Lehrgang in München. Er war weit weg, warum also sollte sie zu Hause bleiben?

Sie rutschte von der Fensterbank und suchte sich ein bauchfreies Oberteil aus ihrem Kleiderschrank. Heute morgen hatte sie sich eine Hüfthose gekauft, die ihr Piercing richtig zur Geltung bringen würde. Mit ihrer Zahnbürste im Mund schaute sie wieder aus dem Fenster und streifte den Garten ihrer Nachbarin. Die arme alte Frau Boisenberg hatte vor einem halben Jahr ihren geliebten Mann verloren. Julia hatte ihn auch sehr gemocht. Als sie noch klein gewesen war, durfte sie immer auf den Birnbaum klettern und wenn die Birnen reif gewesen waren, pflückten sie sie gemeinsam und kochten daraus leckeres Birnenmus. Sie wunderte sich kurz über die beiden Plastikstühle, Frau Boisenberg musste sie gestern herausgestellt haben. Sie brauchte doch nur noch einen!

In diesem Moment beobachtete sie, wie die alte Frau sich in ihren Stuhl setzte. Ihr schlohweißes Haar, das wie Watte leicht vom Wind zerzaust wurde, störte sie anscheinend nicht. Früher war sie immer adrett gekleidet gewesen und sie ging nie ohne einen Hauch Make-up aus dem Haus. Sie hatte auch immer einen Dutt in ihrem Haar gehabt. Wenn Julia sich nicht täuschte, bewegte sie die ganze Zeit ihre Lippen, so als spräche sie mit jemandem. Julia öffnete das Fenster und reckte ihren Hals weiter hinaus, aber niemand war zu sehen.

Schon wieder summte das Handy und ihr Bauch machte eine Rolle rückwärts, sie rannte zum Handy und drückte auf das Display.

Zehn Nachrichten von ihm!

Sie hielt es nun nicht mehr in ihrem Zimmer aus und tanzte die Stufen hinunter. Es war mittlerweile achtzehn Uhr an diesem herrlichen Samstag. Sie musste sofort zu Lisa fahren, um ihr die Nachrichten zu zeigen, sonst würde sie platzen. Sie wollte nur kurz ihrer Mutter Bescheid sagen, die gerade etwas Unkraut aus den Beeten zupfte.

„Neue Hose?“, fragte ihre Mutter sie und wischte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn.

„Cool, oder?“, Julia drehte sich einmal um die eigene Achse.

„Frau Boisenberg spricht mit sich selbst“, flüsterte sie ihrer Mutter zu.

„Es ist schwer für sie. Anna oder Lisa?“, ihre Mutter widmete sich wieder ihrem Beet zu.

„Ich fahr schon mal zu Lisa und penne bei ihr, okay?“ Sie wippte ungeduldig mit den Füßen.

„Okay, macht nicht zu lange“, lächelte ihre Mutter sie an.

Julia schwebte über den Rasen und dachte nur noch an Florian. Ein echt cooler Typ war er. Anna hatte ihr gesagt, dass er ein Wikingerschiff auf dem Rücken tätowiert hätte. Das musste man sich mal vorstellen!

Sie würde sich auch tätowieren lassen, sobald sie volljährig war.

„Julia, mein Kind“, sie zuckte zusammen, als sie von ihrer Nachbarin angesprochen wurde. Das passte ihr im Moment überhaupt nicht, sie wollte so schnell wie möglich zu Lisa.

„Setz dich doch einen Moment zu mir“, sagte sie und lächelte sie an.

„Hallo“, sagte Julia und wollte sich schon auf den freien Stuhl setzten. Aber Frau Boisenberg blickte sie erschrocken an.

„Fast hätte sie sich auf deinen Platz gesetzt, Fritz“, flüsterte sie unheimlich.

Julia setzte sich neben sie ins Gras und zupfte an einem Halm.

„Du bist erwachsen geworden, wie doch die Zeit vergeht“, Frau Boisenberg reichte ihr eine Tasse, die auf einem kleinen Tisch stand und hielt sie Julia vor die Nase. Sie wollte nicht unhöflich sein und griff zu. Die Tasse im Zwiebelmuster hatte einen feinen Sprung im Boden, den man deutlich erkennen konnte, da der Kaffee so dünn war. Sie nippte an der Tasse und versuchte den bereits erkalteten Kaffee hinunter zu schlucken, ohne sich etwas anmerken zu lassen.

„Ich habe auch Plätzchen gebacken“, Frau Boisenberg schenkte noch eine dritte Tasse Kaffee ein und stellte sie auf den freien Platz vor dem leeren Stuhl. Dann drückte sie kurz ihre Kaffeekanne, die mit einer gehäkelten Wärmehaube und einem Schaumstoff-Tropfenfänger verziert war, an ihre Brust.

„Fritz mag den Kaffee lieber etwas kühler.“ Erst jetzt bemerkte Julia die zahlreichen Flecken auf dem viel zu weit gewordenen Kittel ihrer Nachbarin. Sie musste das Plätzchen in den kalten Kaffee tunken, um überhaupt hineinbeißen zu können. Es musste noch vom vorletzten Jahr sein, dachte sie und blickte zu dem knorrigen alten Birnbaum hinüber. Die Birnen hatten immer fantastisch geschmeckt und sie sah im Geiste, wie Fritz Boisenberg die Leiter festhielt, während sie die Birnen pflückte. Lass die Luise ja nicht fallen, sonst bekommt sie sofort Druckstellen, die Gute, hatte er zu ihr hinaufgerufen. Und sie hatte überlegt, wer das wohl sein mochte. Die gute Luise. Heute wusste sie, dass das der Name der Birne gewesen ist.

Wehmütig dachte sie an diese Zeit ihrer Kindheit zurück. Die beiden waren wie Großeltern zu ihr gewesen. Sie hatten keine eigenen Enkelkinder und ließen Julia so oft wie möglich bei ihnen spielen. Julia kaute auf dem Plätzchen und überlegte, wie sie der Situation nun entfliehen konnte, ohne Frau Boisenberg zu kränken.

Diese sagte plötzlich in Richtung Birnbaum gewandt: „Fritz wohnte damals über mir und meiner Mutter. Er zauberte Kartoffeln oder ein Stück Schokolade aus seiner Hosentasche. Es war Krieg und es gab fast nichts zu essen. Wir hatten oft überhaupt keinen Strom, deshalb saßen wir abends mit Kerzenstummeln, die wir gesammelt hatten, auf unserem kalten Dachboden. Wir erzählten uns schöne und schaurige Geschichten. Fritz konnte wunderbare Lügenmärchen erzählen. Wir wärmten unsere klammen Finger an der Kerzenflamme und sein schönes Gesicht flackerte in ihrem Schein. Eines Morgens in der Schule fand ich eine dicke Birne unter meiner Holzlade am Tisch und ich wusste sofort, wer sie dort hineingelegt hatte. Seit diesem Tag habe ich Fritz geliebt und ihm erging es genauso.“

Sie wischte sich eine Träne von der Wange, stand auf und ging zu dem Baum. Dort bückte sie sich und hob eine heruntergefallene Birne auf. Dann setzte sie sich wieder in ihren Stuhl und biss herzhaft in die schmale rot-grüne Birne hinein.

„Wir radelten auf seinem verrosteten Fahrrad zu den Verwandten und gaben 1948 unsere Hochzeit bekannt. Meinen Schleier habe ich aus den Resten mehrerer Spitzen selbst genäht und seine Hose ist viel zu kurz gewesen.“

Julia hatte ihre Nachbarin noch nie so viel über ihre Vergangenheit reden hören und verlor sich in deren Erzählungen. Sie vergaß die Zeit und hörte ihr einfach nur zu.

„Ich nähte rote Herzchen aus Filz an den Baum und schenkte ihn meinem Fritz. Filz war damals nicht so einfach zu bekommen. Wir pflanzten ihn noch in unserer Hochzeitsnacht ein. Du weißt ja, was aus ihm geworden ist“, sie schaute voller Liebe wieder zu dem Birnbaum hinüber.

„Er ist genauso groß und fest, wie unsere Liebe es gewesen ist. Wir haben immer zusammengehalten und uns niemals unterkriegen lassen. Wir haben den Krieg mit all seinen Scheußlichkeiten überstanden und uns hier unser eigenes Paradies geschaffen.

Triffst du wieder den netten Jungen von neulich, wie war noch sein Name?“ Die plötzlich gestellte Frage brachte Julia in die Wirklichkeit zurück und sie starrte Frau Boisenberg erschrocken an.

„Lisa“, flüsterte sie nur und schaute auf ihre Uhr. Es war mittlerweile fast neunzehn Uhr, sie musste sofort los und stand auf.

„Benedikt, er ist im Moment auf einem Lehrgang“, Julia war plötzlich total durcheinander.

„Ein netter Junge, er hat mich vom ersten Moment an an meinen Fritz erinnert. Er hatte auch diese ehrlichen, aber stolzen Augen. Es ist ein Geschenk, wenn man im Leben einen solchen Menschen trifft. Und wenn man sich in diesen Menschen verliebt hat und diese Liebe auch noch erwidert wird, dann kann dich nichts und niemand mehr verletzen. Du hast ein Schutzschild an deiner Seite, solange dieser Jemand am Leben ist.

Julia konnte den Blick nicht von dem traurigen Gesichtsausdruck ihrer Nachbarin wenden und eine Träne kitzelte sie im linken Mundwinkel. Der leere Stuhl gehörte Fritz, ihrem geliebten verstorbenen Mann.

„Ich muss gehen, danke für den Kaffee und die Plätzchen“, sagte Julia zu ihr und reichte ihr die Hand.

„Viel Spaß heute Abend, wir beide bleiben noch einen Augenblick hier draußen sitzen und genießen diesen schönen Spätsommerabend“, zwinkerte Frau Boisenberg ihr zu. Julia lächelte und ging unter dem Birnbaum vorbei in ihren Garten, der Wind fuhr ihr dabei durch die schulterlangen Haare. Sie blickte in die ausladende Krone hinauf und die Blätter rauschten leise im Wind. Und mit einem Mal hatte sie das Gefühl, als flüsterten die Blätter ihr etwas zu. Sie rannte los, stieg auf ihr Fahrrad und radelte die Straße hinunter.

Sie ließ sich doch von einem blöden Baum und Frau Boisenberg nicht beeindrucken.

Nein, sie würde nachher mit Florian flirten, was das Zeug hielt. Sie trat wie verrückt in die Pedale, aber sie konnte ihren Gedanken nicht davonfahren.

Dem Gedanken, was Benedikt wohl in diesem Augenblick machte.

Tödliche Flaschenpost & Tausend Träume

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