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Gefühl

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Ich schlage ein Bein über das andere, streiche dabei den hellgrauen Baumwollstoff über dem Schoß glatt und warte. Die Aura einer gut gespielten Eleganz umgibt mich und vorsichtig nippe ich an einem Coffee to go. Es könnte auch der Eindruck entstehen, der Pappbecher wäre ein Glas Champagner.

Heute Morgen habe ich es mir angezogen, habe mich richtig aufgedonnert, mit dem guten Gefühl. Habe eine ganze Zeit vor dem Spiegel verbracht, mich gedreht und gewendet, bis ich zu dem Entschluss gekommen bin, dass es passt.

Es passt sogar richtig gut. Nichts rutscht oder kneift, es sitzt, als wäre es echt, als gehörte es immer zu mir.

Das gute Gefühl.

Charlotte, meine fast achtjährige Tochter, hat sich zum Mittagessen einen Möhreneintopf mit viiiel Butter gewünscht.

Ich habe noch genau dreieinhalb Stunden Zeit, dem Spiel seinen Lauf zu lassen, bevor sie aus der Schule kommt und ich das Essen fertig haben muss.

Dem Alltag will ich heute ein kleines Schnippchen schlagen.

Ich schüttle einen imaginären Lederbecher und lasse im Geiste die Würfel fallen, heute will ich einmal gewinnen, will eine taffe Frau sein. Eine, die sich nicht ständig fragt, warum gerade bei ihr die kostbaren Zeiten so schnell zu Ende gewesen waren. Die die unendlichen Konsequenzen nicht begreifen muss, und immer wieder versucht, ihnen an den Kragen zu gehen.

Die Atmosphäre des Flughafens hat mich sofort im Griff, sie drückt mich fest auf einen der Stühle in der Wartehalle. Hinter der großen Scheibe in meinem Rücken rangieren die Flugzeuge, heben ab und kommen wieder auf den Boden zurück. Die dröhnenden Motoren zaubern das Flair der Freiheit in die Luft. Ich möchte ein wenig abheben, denn auf den Boden der Tatsachen komme ich eh wieder zurück.

Die perfekte Location für das Spiel.

Ich blicke mich um und beobachte die wartenden Passagiere, die meine Mitspieler werden könnten. Sie sind noch nicht ganz in der Luft, aber bestimmt nicht mehr mit beiden Beinen auf dem Boden.

Mit meinem hellgrauen Kostüm habe ich vorhin das Vakuum des Alltags schon mal durchstoßen, ein paar Blicke, die mir der ein oder andere heimlich zugeworfen hat, konnte ich mir bereits im Geiste notieren. Normalerweise trage ich Jeans und

T-Shirt mit buntem Druck, damit falle ich nicht besonders auf. Ich hole mir einen zweiten Kaffee und bleibe kurz am Last-Minute-Schalter stehen, studiere die Angebote.

Ein Wochenende für zwei in Paris, das wäre doch mal was. Romantik gibt’s sogar gratis.

Das, was ich suche, ist aber nicht dabei.

Ich drehe meine schlanke Silhouette in den Spiegel. Eine fleischfarbene Miederhose, die ich unterm Rock trage, kaschiert meinen untrainierten, etwas schwabbeligen Bauch.

Habe ich schon einmal im Mondschein getanzt?

Ich halte meine Handtasche, in der ich ein Handy, ein Filofax aus Leder, ein Schminktäschchen, einen MP3-Stick und stilles Evian habe, elegant fest.

Dann schwebe ich, wie auf Wolken, zurück zu einem freien Stuhl, lasse mich dort nieder und blicke in meinen Spiegel, um das Make-up zu überprüfen.

„Entschuldigung“, ruft plötzlich jemand neben mir.

Herablassend schaue ich auf einen braun gelockten Hinterkopf, der genau neben meinem linken Schuh liegt.

„Ach Jooonas, pass doch auf.“

Eine junge Frau versucht gerade, den kleinen Jungen wieder vom Boden hochzuziehen, er war wohl über meine Schuhspitze gestolpert.

Ich lächle affektiert, klappe den Spiegel zu, das Gefühl sitzt an der richtigen Stelle, und eröffne das Spiel.

„Das macht doch nichts, meinem Schuh ist ja nichts passiert“, füge ich süffisant hinzu.

Jonas hat sich längst aufgerappelt, nicht einen Klecks seines Cornetto Erdbeer dabei verloren, fasziniert starrt er durch die große Scheibe, den Flugzeugen hinterher.

Die missbilligenden Blicke einiger Passagiere treffen die beiden wie lange, spitze Speere.

Die Würfel sind in meine Richtung gefallen.

„Die meisten Menschen haben kein Verständnis für ihn“, sagt sie, blickt sich peinlich berührt um und lächelt mich an.

„Ich bin froh, einmal Kinder in meiner Nähe zu haben, sonst habe ich es nur mit Erwachsenen zu tun, das ist auch ziemlich anstrengend, glauben Sie mir.“

Ich hole, wie selbstverständlich, meinen Filofax aus der Handtasche, kritzle Termine hinein, wichtig und unaufschiebbar.

„Das stimmt. Darf ich fragen, ob Sie geschäftlich oder privat auf Reisen sind?“

Mir ist ihr bewundernder Blick nicht eine Sekunde lang entgangen, das Gefühl breitet sich bis in den großen Zeh aus. Bingo.

„Aber natürlich.“ Heimlich schiele ich auf die Anzeigentafel des nächsten Fluges.

Dortmund-London, elf Uhr dreißig.

„Ich treffe heute Abend meine Angestellte in London. Wir richten Häuser und Wohnungen in ganz Europa ein.“

Die junge Frau schaut schnell zu ihrem Sohn, dann setzt sie sich mir gegenüber. Neugier steht nun quer in ihrem Gesicht.

„Ich möchte schon mein ganzes Leben einmal nach England, die Landschaft muss einfach herrlich sein, nur einmal aus dem Alltag ausbrechen, hmm, ich beneide Sie.“

Eingebildet lächle ich, die Sechsen gehören mir.

„Ich komme sehr viel in der Welt herum, für mich ist das nichts Besonderes mehr. Aber für eine Familie bleibt da keine Zeit. Ich bin sowieso kein Familienmensch, ich könnte so ein langweiliges Leben nie führen. Ich muss mir stets den Wind um die Nase wehen lassen, daran habe ich schon als junges Mädchen gearbeitet, ich wusste schon immer, was ich aus meinem Leben machen wollte“, sage ich bestimmt und blicke ihr überlegen in die Augen, schlage selbstbewusst das andere Bein über, nippe an meinem Kaffee.

„Bevor Jonas geboren wurde, habe ich Schuhe verkauft. Mein Mann drängt mich förmlich dazu, wieder arbeiten zu gehen, Jonas in eine Kita zu bringen, aber ich möchte noch warten, bis er in den Kindergarten kommt.“

Sie blickt zu ihm hinüber, streift automatisch meine neuen Pumps, die sie sicher als den neuesten Trend erkennen wird. Dass diese mich wie verrückt an den großen Zehen drücken, sieht man ja nicht.

„Jonas hält mich ganz schön auf Trab, ich habe im Moment wirklich nur seine ganzen Termine im Kopf. Mein Mann hat gut reden, er ist SAP-Berater und fliegt ständig in der Welt herum. Ich habe das Kind, er die Karriere. Wir überraschen ihn heute, er müsste in der nächsten halben Stunde aus Berlin landen.“

Sie lächelt leise, der schöne Anblick trifft mich wie eine Keule mitten ins Gesicht, sie versucht ihren zerzausten Zopf zu richten, der Anblick wird katastrophal wunderbar, sie zupft an ihrem T-Shirt, ihr Gesicht schimmert perlmuttfarben, war das vorhin auch schon so?

Ich erstarre, weil ich das Glück erkenne, ich weiß sofort wieder, wie es aussieht. In echt aussieht.

Ich versuche es nicht so sehr anzustarren, mein gutes Gefühl lässt mich langsam im Stich, es wird unangenehm, drückt mir die Luft ab. Ich will noch schnell einen Joker würfeln und auch mal eine böse Miene zum guten Spiel machen.

„Tja, als Hausfrau und Mutter steht man eben am Rande der Gesellschaft. Pädagogisch wichtiges Spielzeug, das vitaminreichste Mittagessen, der beste Kindergarten und Secondhandshop. Dabei könnten Sie mir sicher Tipps geben.“

Ich sehe, wie ihr das Lächeln im Gesicht langsam einfriert und eine leichte Röte das Perlmutt verdrängt.

Der Joker grinst, die Würfel reihen sich wie ebenmäßige Zähne perfekt aneinander, bilden eine glänzende Gewinnerstraße. Wie eine Spritze, voll mit flüssigem Honig, kommt das Gefühl zurück, sie kann eben nicht mit mir mithalten.

„Jonas, Papa ist gerade gelandet, komm. Einen guten Flug wünsche ich Ihnen“, sagt sie trotzdem freundlich und zieht ihren, jetzt brüllenden Sohn, einfach hinter sich her.

Das Glück verschwindet, verzweifelt versuche ich mich an dem guten Gefühl von vorhin festzuhalten – vergeblich.

Heimliche Blicke streifen mich wieder, ich nippe an dem Rest Kaffee und fühle mich, als ob ich eine wichtige Rede halten müsste und vergessen hätte, mich zu schminken. Die Nähte der Verkleidung lösen sich unaufhaltsam auf, zerschleißen, fallen in kleinen Stücken an mir herab, ich friere, der Kaffee ist auch kalt geworden.

Das Spiel ist vorbei, ich habe keine Lust auf ein neues, dem Glück einer anderen möchte ich heute nicht noch einmal begegnen. Ich wende mich Richtung Ausgang, die Blicke perlen jetzt wie kühle Regentropfen von meiner Rüstung ab, denn mehr ist es ja nicht, nur eine Rüstung, um mich darunter zu verbergen.

Die Zeit wird knapp, trotzdem werde ich noch einen kleinen Umweg machen, bevor ich nach Hause fahre.

Die dunkelgrüne Vase steht, wie immer, an der gleichen Stelle.

Ich nehme die noch nicht verblühten Rosen heraus und bestücke sie mit vierzehn neuen.

Es sind immer die gleichen.

Vierzehn Rosen, für vierzehn Jahre Glück.

Eine lange Zeit starre ich auf das quadratische Fleckchen Erde, zupfe hier ein Büschel Unkraut heraus, streiche dort über den herzförmigen Stein.

„Charlotte lädt zehn Mädchen zu ihrem Geburtstag ein, obwohl ich nur mit acht einverstanden gewesen bin. Sie sagt, dass sie niemanden übergehen wolle, dass sie eben so viele Freundinnen habe. Kannst du dir das vorstellen, zehn Freundinnen ... unsere Kleine hat sich wirklich gemacht, sie verkriecht sich nicht mehr. Sie braucht keine Verkleidung, um einmal in ein anderes Gefühl zu schlüpfen, sie schafft das auch so, war immer die Stärkere von uns. Sieh doch mal, wie bescheuert ich aussehe.“

Eine Träne kitzelt meinen Mundwinkel, während ich mich einmal um die eigene Achse drehe.

„Dieses Mal war ich eine Innenarchitektin, die sich gerade auf den Weg nach England macht. Schatz, ich habe noch mal nachgesehen, ob es einen Last-minute-Flug zurück in unser gemeinsames Leben gibt ... wieder keiner dabei“, sage ich leise.

Ich küsse in Richtung des Grabsteines und gehe in mein altes Leben zurück.

Unterwegs ziehe ich die Pumps aus und laufe barfuß weiter.

Scheißspiel.

Tödliche Flaschenpost & Tausend Träume

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