Читать книгу Nataschas Winter - Susanne Scholl - Страница 5
Der Abschied
ОглавлениеMoskau, die Wankelmütige, zeigt sich von ihrer strahlendsten Seite. Es ist sechs Uhr früh. Lenin – der immer noch vor unserem Haus majestätisch über den Gartenring in Richtung Außenministerium blickt – hat rund um seine prominente Glatze einen feinen, leichten Nebelkranz. Während wir über die Brücke entlang dem Gorki-Park fahren, blenden uns die Goldkuppeln der alt-neuen Christ-Erlöserkathedrale im Sonnenlicht und lassen Peter den Großen auf seinem Schiff im Schatten verschwinden.
»Gut so«, sagt Adlerauge und schließt seine Augen wieder.
Wir verlassen die Stadt, die uns abwechselnd abgrundtief hässlich und über alle Maßen schön war, nach unglaublich lange erscheinenden sechs Jahren, aber die beiden wollen nicht Abschied nehmen. Wir haben sie geliebt, wenn im Sommer die Abende bis in die Nacht hinein hell blieben, oder wenn sie im Winter weiß vom Schnee glänzte. Wir haben sie geliebt dort, wo sie noch ihr altes, ein wenig schnörkeliges Gesicht zeigte, und gehasst, wenn wir an unendlichen Hochhäusern und dicken Heizungsrohren vorbeikamen, die direkt auf der Straße nur knapp über den Köpfen der Menschen verlaufen. Wir haben sie auch gehasst, wenn sie wieder einmal dunkelgrau und schmutzstarrend jede Lebensfreude schon im Keim erstickte und wir in Schlamm und Schmutz zu versinken drohten. Und wir haben sie geliebt, wenn wir an frostklaren Tagen den zartblauen, unendlichen Himmel über ihren übermäßig breiten Boulevards betrachteten, die doch nie ausreichten, um alle Autos aufzunehmen, die sich in diesen sechs Jahren hier eingefunden haben.
Jetzt aber wollen Adlerauge und die Kartenleserin einfach nicht auf die Stadt schauen, als würden sie sie zum letzten Mal sehen. Nur die Tatsache, dass so wenige Autos zu dieser Stunde unterwegs sind, kann sie für kurze Zeit aus ihrer durch die Müdigkeit und den Trennungsschmerz bedingten Lethargie und auch aus ihrem Schweigen herauslösen, und wir sind uns einig, dass es wohl nur Datschenbesitzer sein können, die sich um diese Zeit freiwillig auf den Weg machen.
Als wir über die steinerne Brücke neben dem Kreml fahren, über dem sich ein paar unfreundliche Wolken zu zeigen beginnen, und ich Adlerauge und der Kartenleserin ans Herz lege, sich den Anblick noch einmal einzuprägen, stoße ich auf Ablehnung. Ob ich denn wolle, dass sie bis Petersburg weine, fragt die Kartenleserin, bevor sie sich mit einem herzerweichenden Seufzer auf den Rücksitz unseres kleinen Autos zurückfallen lässt – woraufhin ihr beinahe unsere drei Rucksäcke auf den Kopf fallen, die wir – wegen akuten Platzmangels – unter dem Rückfenster verstaut haben.
Nein, Adlerauge und die Kartenleserin wollen nicht Abschied nehmen, und so rast Moskau dank der frühen Stunde in voller Schönheit zwar, aber fast unbeachtet an uns vorbei.
Adlerauge und die Kartenleserin haben Moskau erst im letzten ihrer sechs Jahre wirklich zu entdecken begonnen.
Natürlich haben sie den Gorki-Park als Eislaufplatz und den alten Zirkus mit seiner ganz besonderen Atmosphäre von Anfang an genau so kennen gelernt wie das Bolschoi-Theater mit seinen Stuckaturen und den ältlichen Billeteusen, den neuen alten Arbat – Moskaus lange Fußgängerzone mit ihren Schnellzeichnern, die Leninberge – die jetzt wieder Sperlingsberge heißen –, in denen sie in unserem ersten Jahr sogar gerodelt sind, oder Sagorsk, vor den Toren Moskaus – das heute wieder Sergiew Possad heißt – und eine Ansammlung buntester, wunderhübscher Kirchen zur Schau stellt. Mit mir.
Kurz bevor wir unsere Zelte abgebrochen haben, haben sie aber begonnen, die Stadt allein – also in Gesellschaft gleichaltriger Freunde – zu entdecken. Denn was sind schon Erlebnisse, die man mit der Mutter teilt, gegen eine Metrofahrt zu einem Schnellimbiss in einem anderen Stadtteil, auf der man zu zehnt ist und sich lauthals in einer Sprache unterhält, die die Menschen ringsum nicht verstehen? Aber wahrscheinlich sind es eben diese Freunde, die zurückbleiben und damit den Abschied so unerträglich machen. Freunde, die Moskau wohl auch bald verlassen werden, weil auch ihre Eltern Arbeiten nachgehen, die sie von einer Stadt zur anderen ziehen lassen. Freunde, die man in der Schule gefunden hat, in die sich kaum Kinder aus Moskau verirrten, weil sie eben nur für solche wie Adlerauge und die Kartenleserin gemacht war.
Jetzt weigern sie sich jedenfalls, mir, die ich die Trennung durchaus ebenso schmerzlich wahrnehme, Zuspruch zu gewähren. Die beiden lehnen – jeder für sich allein mit seiner Trauer – versunken in den Autositzen. Und ich kann sie nicht dazu bewegen, mit mir zu sprechen.
Adlerauge hat einige russische Geldscheine bei sich, die er als Andenken behalten will. Die Kartenleserin hat wohl auch ein paar der neuen Rubelnoten in ihrer Geldbörse, aber so genau kann man das nicht wissen, denn sie ist sehr diskret, wenn es um ihr Eigentum geht.
In den Kisten und Koffern aber, die ebenfalls auf dem Weg sind, befindet sich vielleicht sogar allzu vieles, was uns Moskau immer nahe sein lassen wird. Erinnerungen, die wir in diesen Jahren zusammengetragen haben. Bilder und Holzfiguren. Zinnsoldaten, die Adlerauge erst hier zu sammeln begonnen hat. Tonpfeifchen unterschiedlichster Machart, die ein Freund einmal in großer Menge angeschleppt und Adlerauge und der Kartenleserin verehrt hat. Winzige Porzellanfigürchen, die die Kartenleserin von ihren Freundinnen zu Geburtstagen und anderen Anlässen geschenkt bekommen hat und die später dann Zuwachs erhielten durch ebenso winzige Glastierchen, die die Kartenleserin sich bei jedem Besuch auf Moskaus größtem Kitschmarkt auszusuchen verstand.
Aber jetzt, um sechs Uhr früh, in dem Auto, das uns wegbringt, hilft das Wissen um dieses angesammelte Moskau, das mit uns kommt, gar nichts. Denn nichts wird mehr so sein, wie bisher, wenn wir denn irgendwann einmal wieder zu Besuch kommen werden.
Wir fahren auf der alten Landstraße, an deren Rand jene wunderschönen, aber meist ziemlich verfallenen alten Holzhäuser stehen, die jeder sogleich mit Russland verbindet.
Aber auch sie sind Adlerauge und der Kartenleserin nur einen kurzen Blick wert. Erst als plötzlich – nur wenige Kilometer außerhalb der Stadt – ein gewaltiger sommerlicher Regenguss auf unser Auto niederprasselt, regt sich etwas auf dem Rücksitz. Vor uns auf der im Regen verschwimmenden Fahrbahn ist ein kleines, weißes Auto unterwegs. Auf dem Dach ein gut verschnürtes, hoch-getürmtes und mit Plastikplanen bedecktes Paket. Denn gelernte Moskauer trauen selbst dem saubersten blauen Himmel ebenso wenig, wie Adlerauge. Wenn wir ihm wieder einmal vorhalten, dass er das Leben zu sehr von der schlechten Seite sehe, ruft er uns immer jenen Tag in Erinnerung, an dem er bei herrlichstem Sonnenschein das Haus am Morgen in langen Hosen und festen Schuhen verließ und sich dann unbändig freute, als die Kartenleserin ein paar Stunden später mit ihren dünnen Sandälchen durch riesige, vom plötzlichen Guss verursachte Lachen tanzen musste.
»Datschenbesitzer«, sagen wir alle wie aus einem Mund.
»Der Regen kommt ihnen gerade recht.« Was natürlich hämisch klingt, uns dreien aber trotzdem an diesem Tag zum ersten Mal so etwas wie ein Lächeln entlockt.