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Das Ende eines russischen Reisetages

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Noch hundert Kilometer bis Petersburg.

Adlerauge und die Kartenleserin rumoren im Auto herum. Die aus Moskau mitgebrachten Kirschen sind längst aufgegessen, die Dosen mit den süßen Getränken leer.

»Nicht wegschmeißen«, sagt Adlerauge. Schließlich stünden die weltweit bekannten Namen auf diesen speziellen, in Moskau gekauften Dosen in zyrillischen Buchstaben. Eine Erinnerung, die man nicht wegwerfen dürfe.

Aber etwas von ihrer Trauer darüber, dass die Arbeit ihrer Mutter sie zwingt, das Land zu verlassen, in dem sie sich sechs Jahre lang irgendwie zu Hause gefühlt haben, ist Adlerauge und der Kartenleserin inzwischen abhanden gekommen. Vielleicht, weil die Fahrt schon so lange dauert, vielleicht, weil sie jetzt doch so etwas wie Neugierde empfinden angesichts einer Stadt, in der ich einmal gelebt habe und die sie selbst zum ersten Mal sehen werden.

Sicherlich aber haben sie genug vom Auto und von der Landstraße, deren Umgebung sich seit Moskau nicht sehr verändert hat.

Und dann bemerke ich, dass unser Benzin knapp wird. Adlerauge muss also Ausschau halten. Die erste Tankstelle, der wir begegnen, sieht gut aus, ist aber geschlossen.

»Wie kann das sein?«, fragt die Kartenleserin, die mit dem Auto bisher nur in Gegenden unterwegs war, in denen man alle paar Kilometer Benzin kaufen konnte, so viel man nur wollte.

»Na ja«, sage ich noch ziemlich unaufgeregt, »wahrscheinlich hat man ihnen heute kein Benzin geliefert.«

Noch fährt das Auto, auch wenn es immer deutlicher zu verstehen gibt, dass es bald aufgefüllt werden sollte.

Adlerauge hält weiter Ausschau, und auch die Kartenleserin hält den Blick starr auf den Straßenrand gerichtet, um die nächste Möglichkeit nicht zu übersehen. Wieder entdecken wir ein Schild und biegen von der Straße ab.

Drei rostige Tanksäulen stehen vor einem kleinen Betonhäuschen, dessen Fenster, hinter dem sich tatsächlich jemand aufhält, dicht vergittert ist.

»Die ist offen«, sagt die Kartenleserin erfreut.

Ich steige aus und frage beim vergitterten Fensterchen, aber die junge, bleiche und leicht ungehaltene Person dahinter gibt mir kurzerhand zu verstehen, dass sie jenes Benzin, das mein Auto benötigt, nicht anzubieten hätte.

Etwas betreten kehre ich zum Auto zurück, und Adlerauge und die Kartenleserin sehen mich entsetzt an, als ich den Wagen wieder starte und davonfahre.

»Was war denn jetzt los?«, fragt die Kartenleserin.

»Nicht das richtige Benzin«, sage ich und versuche, Haltung zu bewahren. Obwohl ich bereits überlege, wie weit wir wohl noch kommen werden und woher wir Hilfe bekommen könnten, falls wir hier, mitten in Russland auf einer – wie ich jetzt plötzlich feststelle – doch einigermaßen einsamen Landstraße, stranden sollten.

Adlerauge und die Kartenleserin scheinen Ähnliches in ihren Köpfen herumzuwälzen, denn plötzlich fragen sie mich sehr genau nach unserem Auto aus, und wie viel Benzin es denn eigentlich verbrauche und ob wir vielleicht doch noch bis Petersburg kämen.

Ich weiß es nicht, und das Auto macht mir wenig Mut. Die Benzinanzeige leuchtet ununterbrochen hellgelb, aber noch bewegen wir uns weiter.

»Da – vorne!«, schreit Adlerauge, aber nach den bisherigen Erfahrungen wage ich es noch nicht, erleichtert aufzuatmen.

Wieder drei rostige Tanksäulen, wieder ein fest vergittertes Fensterchen, und dahinter eine etwas ältere, darum aber nicht freundlichere Person.

Ja, sie hätte jenes Benzin, das ich benötige, sagt sie mürrisch – und ich atme erleichtert auf.

Zwar bedarf es unserer vereinten Kräfte, den Tankdeckel abzuschrauben und das Auto aufzufüllen, aber wir fühlen uns, als ob man uns gerade aus einem Hochwasser führenden Strom gefischt hätte, in dem wir hilflos dahintrieben.

Als wir endlich wieder auf dem Weg nach Petersburg sind, das nun wirklich in erreichbare Nähe zu rücken beginnt, ergehen sich Adlerauge und die Kartenleserin in stirnrunzelnden Überlegungen über dieses Land, von dem sie nur so schwer Abschied nehmen können. Wie die russischen Reisenden es denn ertragen könnten, so ganz und gar unsicher unterwegs zu sein, fragen sie sich. Oder wer sich denn da noch freiwillig auf Reisen begeben würde.

In Moskau kann einem so etwas nicht passieren, stellen sie dann fest und rechtfertigen so vor sich selbst die Tatsache, dass sie immer noch – und trotz derlei Erlebnissen – leiden an dem Abschied.

»Früher«, sage ich, »früher, als wir gerade angekommen waren, gab es doch viel weniger Autos hier.« Aber das genügt ihnen nicht als Erklärung. Straßen gebe es ja schließlich auch. Schlechte zwar, fügen sie hinzu, aber doch Straßen.

»Also ist man auch früher gereist!«

»Ja«, sage ich, »aber jede Autofahrt war eben ein Abenteuer.«

Na ja, meinen sie, das habe sich ja nicht wirklich geändert.

Nataschas Winter

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