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Die Datscha
ОглавлениеKein Moskauer kann auf sie verzichten und alle Moskauer stöhnen über sie. Unzählige Holzhäuschen der verschiedensten Bauart zieren Moskaus nähere und weitere Umgebung. Da sind die kleinen, alten, einstöckigen, verschnörkelten, holzverandabestückten Datschen vom Ende des vorigen Jahrhunderts. Da stehen ganze Paläste mitten in eingezäunten, kleinen Wäldchen. Da findet man robuste Ziegelbauten mit eingebautem Kamin und Sauna, die den Namen Datscha nun wirklich zu Unrecht tragen, und daneben Zwei-Zimmer-Konstruktionen, wo Küche oder gar Badezimmer fast schon Fremdworte sind.
Meine Freundin Tanja besitzt, gemeinsam mit ihrer großen Familie, solch ein Häuschen, das wirklich uralt und von der Großmutter ererbt ist. Diese Datscha allerdings ist eher eine Last. Sie besteht aus ganzen vier Zimmern – wenn man die winzigen Räume, in denen sich ausrangierte Betten aus allen möglichen Moskauer Wohnungen den Platz streitig machen, denn als Zimmer bezeichnen will. Daneben gibt es auch noch eine wirklich riesige überdachte, aber nicht verglaste Veranda und eine Miniküche, in der sich nicht einmal ein Mensch alleine umdrehen kann, und einen Holzverschlag im Garten, der hochtrabend Toilette genannt wird.
An der Dusche – einem weiteren Holzverschlag im Garten – haben Tanjas und ihrer Schwester Lena Männer einige Sommer lang gebaut. Bis dahin wusch man sich an einer Vorrichtung, die es nur in Russland, pardon, eigentlich überhaupt nur in den Gärten russischer Datschen gibt: an einem, je nach Putzwut der Besitzer, mehr oder weniger verrosteten Metallbehälter, der an einem Baum gerade hoch genug angebracht ist, dass auch die Kinder noch hinaufreichen, und der am unteren Ende einen Metallpfropfen hat. Wenn man sich waschen will, muss man ebendiesen Metallpfropfen nach oben schieben, in den Kanister hinein. Durch die solcher Art entstehende schmale Öffnung tröpfelt es dann, und mit viel Geduld kann man sich in diesem Tröpferlbad russischer Machart zumindest Gesicht und Hände waschen. Mehr aber schon nicht.
Was allerdings niemanden stört, lebt man doch auf der Datscha nach dem Motto: der Natur so nahe wie möglich. Und da darf man – mit Verlaub zu sagen – durchaus etwas verdreckt sein und auch ein wenig vor sich hinmuffeln. Schließlich sind alle Nachbarn rundherum genauso verdreckt und muffeln genauso vor sich hin – sieht man einmal von den Neuen Russen und ihren Ziegelpalästen mit Sauna und Kamin ab.
Im Übrigen verbringt man den Tag sowieso im Garten. Vor allem bei dem Gemüsebeet, das eigentlich alle auf ihren kleinen Datschengrundstücken anlegen. Das hat die geplagten Moskauer schon über Bürgerkrieg, Naziinvasion, Stalin und Breschnjew hinweggebracht und hilft ihnen jetzt, mit den neuen astronomischen Preisen halbwegs zurechtzukommen. Dem Kartoffelanbauen und Radieschenbewachen entzieht sich in Russland ohnehin kaum ein Städter. Die Datscha ist das Ein und Alles der Moskauer, und über nichts können sie so lange und ausführlich und auch so zornig erzählen wie über ihr kleines eigenes Stückchen Natur.
Es fängt damit an, dass man – sobald der russische Winter auch nur kleinste Anstalten zum Rückzug macht – mit den Vorbereitungen zur Übersiedlung jener Familienmitglieder beginnt, die nicht unbedingt in der Stadt bleiben müssen. Am ersten Sonntag, an dem es nicht mehr gefriert, macht man sich also gemeinsam auf.
Wer das Glück hat, ein Auto zu besitzen, steht an diesem ersten Sonntag hin und zurück im kilometerlangen Stau. Wer den Vorortzug nimmt, ist schneller am Ziel, steht aber meist – im wahrsten Sinne des Wortes – den ganzen Weg hin und zurück und muss in der Regel auch noch einen ziemlichen Fußmarsch hinter sich bringen, bevor endlich der eigene Gartenzaun in der Ferne zu sehen ist. Ganz zu schweigen natürlich von jenen Situationen, in denen der Zug – unbegreiflich für alle seine Benutzer, die es sich aber schon lange abgewöhnt haben, sich über dergleichen zu wundern – plötzlich an einer Station in der Mitte seiner Strecke stehen bleibt und man den staunenden Reisenden erklärt, dass heute kein Zug mehr weiter fahren werde.
Hat man all dies glücklich überwunden, betritt man ein Gartengrundstück, das nach dem Winter natürlich etwas derangiert aussieht, und ein Häuschen, in das mit ziemlicher Sicherheit während der langen Abwesenheit seiner Besitzer eingebrochen worden ist.
Tanjas Mann Wolodja allerdings freute sich in einem Frühjahr unbändig über die ungebetenen winterlichen Gäste.
Die hatten nämlich, in offensichtlicher Verkennung der Situation und des Vermögensstandes jener, die sie bestehlen wollten, einen Fernsehapparat mitgenommen. Dieser Apparat aber war nicht einmal mehr auf der Datscha zu gebrauchen, er hatte im Sommer zuvor endgültig seinen Geist aufgegeben, und Wolodja hatte einfach vergessen, das alte Stück auf den Müll zu werfen.
Als er also den Diebstahl des Fernsehapparates entdeckte, erging er sich in Lobpreisungen über die unbekannten Eindringlinge, die ihm ein Stück Arbeit erspart hatten. Bis er entdeckte, dass sie aus Zorn über die magere Beute sämtliche Zahnpasta-, Senf- und Ketchup-Tuben, die man am Ende des Sommers zurückgelassen hatte, ausgedrückt und deren Inhalt fein säuberlich im ganzen Haus verteilt hatten.
Ärgerlich war Wolodja auch, weil die Herren Diebe – trotz einer nicht abgeschlossenen Eingangstür – diese mit einem Beil aufgeschlagen hatten, so dass Wolodja nun den dritten Sommer hintereinander eine neue Tür zimmern musste. Nicht einmal das große Schild, fein säuberlich an der Außenseite des Corpus Delicti angebracht, auf dem die Bitte stand, beim Einbrechen doch ein bisschen Menschenfreundlichkeit walten zu lassen, hatte die Diebe von diesem Akt blinden Vandalismus abhalten können.
Sobald also am ersten frostfreien Sonntag – mit wegen der immer noch herrschenden Kälte blauen Lippen und fröstelnd hochgezogenen Schultern – wieder ein bisschen Ordnung in das winterliche Datschen-Chaos gebracht worden ist, beginnt man zu Hause in Moskau mit der Sammlung all jener ausrangierten Einrichtungsgegenstände, die dieses Jahr mit hinaus aufs Land sollen.
Denn da die Einbrecher jeden Winter von neuem kommen, muss man auch jedes Frühjahr von neuem alte, angeschlagene Teller und Tassen und dergleichen mehr zusammensuchen.
Wenn dann, Ende Mai, die Schulen ihre Tore schließen und das Wetter halbwegs erträglich ist, wird übersiedelt. Großmütter und Kinder aller Altersstufen sowie sämtliche Haustiere – vom Kanarienvogel bis zur Bulldogge – werden mit Sack und Pack auf die Datscha gebracht. Die arbeitenden Familienmitglieder atmen dann meistens auf, wenn sie Sonntagabend den Rückweg in die Stadt antreten. Und beginnen am nächsten Tag schon darüber zu stöhnen, dass sie spätestens am darauf folgenden Freitag wieder in den Kampf aufs Land müssen.
Bei meiner Freundin Tanja ist das nicht anders.
Zu den drei Kindern ihrer Schwester, von denen das älteste in diesem Jahr auch noch ein winziges Enkelkind mit auf die Datscha brachte, gesellen sich noch die zwei Töchter Tanjas und ihr Hund, dessen Hauptbeschäftigung darin besteht, allen zu schmeicheln, wenn er nicht gerade erfolglos Jagd auf Katzen oder Vögel macht.
In diesem Sommer allerdings war das Leiden der Familie an ihrem ererbten Holzhäuschen mit den stilechten Blattranken und dem Gemüsebeet in der Tiefe des ziemlich wilden Gartens besonders groß.
An einem Wochenende kam es vollends zur Katastrophe.
An diesem Tag fiel wieder einmal Moskaus Sommer-Dauerregen. An eine Betreuung der Salatbeete und Erdbeerpflänzchen war nicht zu denken. Die Teller mit dem Mittagessen mussten auf den Knien gehalten werden, weil der einzige große Tisch auf der Veranda steht, in die es aber hineinregnete. Die Kinder langweilten sich gewaltig, jagten gemeinsam den Hund durch die vier Zimmer, sprangen mit nackten Füßen in den Schlammgarten, um dann ihre Spuren auf der Veranda zu vergleichen, und waren auch sonst eine große Freude für ihre Eltern.
Gerade, als das nachmittägliche Fernsehprogramm für die Kinder begann und die Erwachsenen insgeheim einen tiefen Seufzer der Erleichterung ausstoßen wollten, weil man zu dieser Zeit immer mit ein paar Minuten relativer Ruhe rechnen konnte, verwandelte sich der Moskauer Sommerregen in ein ordentliches Moskauer Sommergewitter. Der Unterschied wäre nicht weiter groß gewesen, wäre nicht daraufhin auch noch der Strom ausgefallen.
Die Kinder schrien lauthals ihre Enttäuschung heraus und begannen wieder, durch das Haus zu jagen. Das winzige Enkelkind brüllte, weil es Blähungen hatte. Dessen Mutter, der Schwester älteste Tochter, lag blässlichermattet auf dem durchhängenden alten Diwan und hatte nur eine müde Handbewegung für die jagenden Geschwister und Cousinen und das eigene vor Bauchweh brüllende winzige Kindchen übrig. Die frisch gebackene Großmutter trug das schreiende Baby herum und geriet darüber – was häufig vorkommt – in Streit mit ihrer Schwester, meiner Freundin Tanja.
Gerade, als die beiden Schwestern einander wieder einmal alles an den Kopf warfen, was sie sich von Geburt an gegenseitig angetan hatten, die Ehemänner sich eben mit einer Flasche Wodka und einer vollen Packung Zigaretten auf die nasse Veranda zurückzuziehen begannen, weil sie der Meinung waren, schreiende Babys, jagende Hunde und tobsüchtige Kinder verschiedener Altersstufen seien von ihren Ehefrauen eher zu bewältigen, nahm die Tragödie eine neue Wendung.
»Du machst das immer! Immer! Man kann mit dir nicht reden, immer bist du gleich …«, war meine Freundin Tanja gerade so richtig in Fahrt gekommen, als sie von leisem Gewimmer direkt neben sich abgelenkt wurde. Sie blickte zur Seite und sah dort ihre jüngere Tochter stehen. Ein wunderhübsches, zartes und unter normalen Umständen lebhaftes, lustiges Kind. Das war jetzt grün im Gesicht und berichtete der Mutter, es habe gerade erbrochen. Auf die Veranda. Es habe sie einfach so überkommen.
Während sie dies noch der Mutter erzählte, überkam es sie wieder. Und es überkam das arme Kind noch oft an diesem ganz gewöhnlichen Sonntag auf der Datscha. Man machte ihr kalte Kompressen, der Vater kochte ihr Kamillentee, der Onkel – ein Arzt – untersuchte ihren Bauch und befand, der Blinddarm könne es nicht sein.
Das Kind aber erbrach weiter und weiter, das Baby quengelte weiter vor sich hin, die neue Mutter hatte Kopfschmerzen, und die übrigen Familienmitglieder fühlten sich vernachlässigt.
Also beschloss meine Freundin Tanja, ihr erbrechendes Kind ins Auto zu packen und nach Moskau zurückzukehren. Zumal es immer noch regnete. Das Gewitter war zwar vorbei, der Strom aber nicht wiedergekommen, und der Regen – der dachte gar nicht ans Aufhören.
Die Heimreise nach Moskau war denkwürdig und bestand im Wesentlichen aus drei Dingen: strömendem Regen; Aufenthalten, die alle paar Kilometer notwendig wurden, da das Kind immer weiter erbrach; und einem langen Stau noch vor der Stadteinfahrt, da alle Moskauer immer gleichzeitig aus der Stadt hinaus zu ihren Datschen und von diesen zurück in die Stadt zu fahren scheinen.
Am nächsten Tag kam der Kinderarzt zum erbrechenden Kind, das da schon wieder durchaus guter Dinge war und meinte, es habe etwas Schlechtes gegessen, viel mehr fehle ihm nicht. Nach mehreren Telefonaten mit ihrer Schwester – mit der sich meine Freundin zwar furchtbar streiten, aber ebenso schnell wieder versöhnen kann, so dass kein Streit ihren regelmäßigen Telefongesprächen mehrmals am Tag Abbruch getan hätte – stellte Tanja erleichtert fest, dass wohl auch die junge Mutter das gleiche Schlechte gegessen haben müsse, worauf sie mit Kopfschmerzen, das winzige, auf die Muttermilch angewiesene Baby aber mit Blähungen und ihre, Tanjas, Tochter eben mit Erbrechen reagiert hätten.
Am Dienstag rief mich Tanja an und erzählte mir von ihrem Wochenende. Ich war natürlich voller Mitleid. Das mir verging, als sie mich am Ende unseres Gesprächs fröhlich aufforderte, sie doch am folgenden Samstag unbedingt auf die Datscha zu begleiten. Nicht nur sie und ihre Familie würden da sein, sondern auch die Schwester mit Kindern und Enkelkind. Zwei befreundete Familien, die zusammen ebenfalls sechs Kinder vorzuweisen hätten, hätten sich auch angesagt. Man werde sicherlich einen wunderbaren Tag verbringen.