Читать книгу Nataschas Winter - Susanne Scholl - Страница 7
Das weite Land
ОглавлениеWir haben die breiten Boulevards, über denen der Himmel einerseits niedrig und andererseits so unendlich erscheint, längst hinter uns gelassen. An uns vorbei zieht die Weite. Russlands Hügel und Seen, hässliche neue Kleinstädte, Brücken und Dämme.
Adlerauge und die Kartenleserin haben sich in den Schlaf zurückgezogen, alle Versuche, ihnen die überwältigende Freiheit des Blicks über Berge und Wälder schmackhaft zu machen, sind fehlgeschlagen. Sie öffnen ihre Augen zum ersten Mal wieder, als wir von der Straße in einen kleinen Waldweg abbiegen und stehen bleiben.
Ein paar hundert Kilometer haben wir schon zwischen uns und Moskau gebracht. Ein paar hundert Kilometer, auf denen wir weder ein Rasthaus noch eine Gaststätte gefunden hätten, die zum Haltmachen einladen würden. Weil aber der menschliche Organismus bekanntermaßen auf derlei sowjetisch-russische Gegebenheiten keine Rücksicht nimmt, verhalten wir uns wie trainierte russische Reisende und missbrauchen den Wald für unsere tyrannischen körperlichen Bedürfnisse.
Es ist ein dichter Mischwald, in dem es immer noch duftet – obwohl, wie wir feststellen müssen, an dieser Stelle schon viele Reisende vor uns Halt gemacht haben. Adlerauge wagt sich als Erster hinter einen Baum, die Kartenleserin folgt ihm etwas zögernd nach. Schließlich begebe auch ich mich ins Dickicht – und bin von uns dreien schließlich die Einzige, die es zuwege bringt, in diesem duftenden Wald in einen unangenehm riechenden, klebrigen, angeblich Glück bringenden Haufen zu treten.
Trotz aller Zivilisationsschäden finden wir hier viele Pilze. Schließlich hat es in den vergangenen Wochen oft geregnet. Wären wir noch in Moskaus näherer Umgebung, hätten wir hier keinen einzigen Pilz mehr zu Gesicht bekommen. Doch die eiligen Reisenden können, so wie wir, nichts anfangen mit dem russischen Leibgericht in seiner natürlichen Umgebung. Nur ein Witzbold hat einen großen Pilz ausgerissen und mitten in die Sonne an den Rand des sandigen Waldwegs gestellt.
Eine große Möwe, die sich vom nahe gelegenen Flüsschen hierher verirrt hat, beäugt ihn. Da wir alle müde sind und nur wenig und leise sprechen, beachtet sie uns nicht. Langsam und hüpfend nähert sie sich dem für sie wohl verführerisch aussehenden merkwürdigen Gast am Wegrand. Ganz geheuer ist ihr die Sache aber offenbar nicht. Denn als sie den Pilz endlich erreicht hat, pickt sie kurz gegen dessen hübschen hellbraunen Hut und zieht sich dann ebenso hüpfend gleich wieder zurück.
Adlerauge und die Kartenleserin, die nicht nur unglaubliche Tierfreunde, sondern auch ihrem Alter entsprechend geradezu rabiate Tierschützer sind, beobachten die Möwe wie hypnotisiert. Später, wieder im Auto, ergehen sie sich in Überlegungen darüber, ob es denn für eine Möwe tatsächlich gut sein könne, derlei Pilze zu verspeisen. Und ob der Witzbold, der den Pilz so verführerisch aufgestellt hat, denn nun ein Tierfreund oder aber ein Verbrecher sei. Denn ob Möwen tatsächlich Pilze vertrügen – das wüssten sie nicht. Da sind wir allerdings schon längst wieder unterwegs, fahren vorbei an riesigen, hellen Wäldern. Weit und breit kein Haus, nur manchmal steigt in der Ferne ein dünner Rauchfaden in die Luft. Vielleicht von Reisenden, die sich tiefer in die Wälder gewagt und dort ein Lagerfeuer entzündet haben – was Adlerauge und die Kartenleserin als unverantwortlich bezeichnen, denn was würde aus den Waldtieren werden, wenn die dummen Menschen mit ihrem Lagerfeuer möglicherweise einen Waldbrand auslösten?
Da es aber gerade wieder einmal ein bisschen geregnet hat, beruhigen sie sich selbst mit der Feststellung, der Wald sei ohnehin viel zu nass, um zu brennen. Woher aber, so fragen sie sich und mich, woher kommen dann die dünnen Rauchsäulen, die wir hier und da bemerken.