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Die Qual der Vorfreude
ОглавлениеVorfreude, so heißt es immer, sei die schönste Freude. Und kaum eine ist schöner als die auf den Frühling, mit dem alles, was uns an den Garten fesselt, von neuem beginnt: die Chancen und die Enttäuschungen, die Erfüllung und der Ärger, kurz: das ganze volle Leben, komprimiert und symbolisiert im grünen Revier. Doch gemeinerweise kann dieses erwartungsvolle Kribbeln auch in schiere Qual umschlagen – dann nämlich, wenn das so sehnsüchtig erwartete Objekt der Gärtnerbegierde es vorzieht, sich lange nicht blicken zu lassen. So lange, dass sich die schreckliche Frage auftut: Kommt es überhaupt noch, oder hat die Natur hier mal wieder mit all der Gemeinheit zugeschlagen, mit der sie auch fette Nacktschnecken erfunden oder Schadpilze auf unschuldige Rosen losgelassen hat? Zu so einer Qual wurde mir letztes Frühjahr das Warten auf die große Krokus-Pracht. Kündigen die ersten zarten Schneeglöckchen an, dass auch dieser Winter unglaublicherweise doch ein Ende finden könnte, so gehen die fröhlichen Krokusse gleich noch einen großen Schritt weiter: Mit ihrem Auftritt ist der Frühling da – ganz egal, wie rauh das Wetter dann noch wird.
Diesen Garten-Festtag wollte ich genießen wie noch nie, denn lange war meine Zuneigung zu den zierlichen botanischen Krokussen eher einseitig gewesen. Die kleinen Schwertliliengewächse erwiderten sie nicht. Aus gutem Grund: Viele von ihnen stammen ursprünglich aus warmen Gegenden, und mein bindiger, nasser Boden vertrieb sie alle. Mit einer Ausnahme: Der Elfenkrokus, ursprünglich ein Laubwaldbewohner, kommt hier prima zurecht und hat in seiner amethystfarbenen Niedlichkeit das ganze Revier erobert. Und nun schien endlich die Zeit gekommen, ihm Gesellschaft zu geben und einen Krokus-Neustart zu wagen. Unter dem großen Kirschbaum gab es, nachdem ich jahrelang das Laub, bedeckt von Kompost, dort hatte verrotten lassen, inzwischen wunderbar lockeren Humus für kleine, frühe Zwiebelpflanzen.
Außerdem waren die Gast-Bienen eingezogen, und die schätzen Krokusse ganz besonders, als eine der ersten Futterquellen des Jahres, die sie reichlich mit Pollen versorgt. So lag es nahe, ihre Interessen und meine perfekt zu kombinieren: Ich bestellte 600 botanische Krokuszwiebeln – mit bemerkenswerter Selbstbeschränkung übrigens. Früher wären es bei all den verlockenden Sorten und Farben sicher noch deutlich mehr geworden. Aber einige wirklich unfreundliche Dezembertage mit eisigem Schneeregen und reichlich Blumenzwiebeln, die dringend noch in die Erde wollten, haben mich da doch eine gewisse Beherrschung gelehrt. Auch so reichte es für einen üppigen Kragen rund um den Baum, ein perfektes Bühnenbild für den großen Auftritt der ersten Insekten der Saison.
Einen langen Winter über sah ich sie bei jedem Blick in diese Ecke schon erwartungsfroh vor mir: die Bienen und die Hummelköniginnen, die gaukelnden Zitronenfalter und vielleicht sogar das erste Pfauenauge. Doch allmählich wich die Vorfreude der Beklemmung: Es wurde nicht richtig Winter, es wurde nur furchtbar nass. Wochenlang. Genau das Wetter, das die meisten Zwiebelpflanzen wirklich hassen, alle Schimmelpilze dagegen wirklich lieben. Würden meine Krokusse das überleben, oder würden sie wegsterben wie so oft zuvor? Als sich der März näherte, umkreiste ich Tag für Tag den Kirschbaum. Tag für Tag dieselbe Enttäuschung: Nichts zu sehen, nicht eine Spitze. Würde es vielleicht – ein finsterer Verdacht, der mich nach einer Überdosis Winter aller Erfahrung zum Trotz regelmäßig beschleicht – überhaupt nicht Frühling werden? Nie? Einfach immer so weitergehen mit dem klammen Grau, das über uns zu lasten schien wie ein Fluch? Die erste Märzwoche verging, die zweite – nichts. Warum tat ich mir das an, alle Jahre wieder? Wäre es nicht besser gewesen, zur Flucht aus dem Winterfrust statt auf den Garten lieber auf eine Reise in freundlichere Gefilde zu setzen?
Und dann passierte eben doch, was sich zwar alljährlich wiederholt, was ich aber immer erst wirklich glauben kann, sobald es soweit ist: Mehrere Tage nacheinander schien die Sonne. Überall schoben sich wie im Zeitraffer dicke Spitzen aus der Erde – und da waren sie plötzlich, die bunten Krokusse! Zwar längst nicht alle sechshundert, aber doch genug für ein prachtvolles Bild: Büschel an Büschel, cremegelb, violett, lavendelfarben, blauweiß, und golden. Ein zarter, süßer Duft hing in der Luft, überall in den strahlenden, offenen Kelchen tummelten sich pollengepuderte Bienen und Hummeln, und auch die ersten Schmetterlinge waren zur Stelle. Als die überschwängliche Pracht verblüht war, hatte der Frühling endgültig gesiegt. Es ging tatsächlich alles wieder los, endlich, und doch: Inmitten dieser bunten Explosion war schon wieder etwas vorüber, für ein ganzes langes Jahr. Für einen kurzen, verrückten Moment wünschte ich sie mir zurück, diese ebenso kribbelnde wie frustrierende Vorfreude, mit der auch der längste Winter irgendwann endet. Bis jetzt jedenfalls…