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Doras Wunder

Mein Dorchen ist – pardon! – der Inbegriff eines dummen Huhns. Dafür kann die kleine Henne aber nichts, denn ihr wurde ein zweites Klischee zum Verhängnis, das sie perfekt verkörpert: Hübsch, aber doof. Dora nämlich ist bildschön, sanft gerundet und lackschwarz mit Silberkragen, was Hühner-Fachleute so passend »birkenfarbig« nennen. Also wuchs sie als Model mit sehr begrenztem Hühner-Horizont auf. Viel mehr als den Laufsteg, in ihrem Fall den Schaukäfig, lernte sie offenbar nicht kennen. Als sie nach einer großen Geflügelausstellung ihre Showkarriere beendete und hier einzog, stand sie fassungslos inmitten der großen, bunten Gartenhühner-Welt. So endete sie als Rangniederste der Hühnergruppe und schien damit völlig zufrieden: Hauptsache, sie konnte überall dabei sein, und das durfte sie bei den friedlichen dicken Damen. Bald erwies sich Dorchen nicht nur als meine mit Abstand beste Legehenne, sie war auch ungemein niedlich, wie sie so in ihrer eigenen kleinen Schussel-Welt durch den Garten tippelte, ihre Eier spontan irgendwo in der Botanik verteilte und hingeworfene Leckerbissen so lange mit schiefem Kopf und dem Ausdruck verblüfften Befremdens anstaunte, bis die anderen sie wegschnappten.

Und dann kam dieser scheußliche Wintertag, an dem Dora plötzlich den Schnabel nicht mehr schließen konnte. Wenige Tage später sah eine Gesichtshälfte beängstigend aus: dicke Schwellung unter dem Auge, und im Schnabelwinkel etwas, das aussah wie eine dunkle Wucherung. Weder Züchter noch Tierärztin konnten helfen, denn so etwas hatten sie auch noch nie gesehen. Wir rätselten hin und her: Hatte sich Dora beim Picken einen Rosendorn oder ein Holzsplitterchen eingerissen, und die Stelle entzündete sich? Oder war es irgendeine Geschwulst? Operabel war da nichts, also entschieden wir uns dafür, der kleinen Henne mit Antibiotika und Schmerzmitteln eine Chance zu geben: Vielleicht ließ sich die Schwellung wenigstens in einem Maß halten, dass sie das Huhn nicht weiter beeinträchtigte. Wenn nicht, wäre das Doras Ende. Und danach sah es aus: Das Ding wuchs unaufhaltsam weiter, die dicke Backe drückte bald aufs Auge. Dora erwies sich als musterhafte Patientin. Ich brauchte sie nicht einmal mit dem Eingeben von Medikamenten zu stressen, sie nahm ihre Tropfen jeden Morgen brav mit einem gekochten Eigelb. Dieses weiche Zusatzfutter hatte sie auch nötig, denn bald konnte sie, entstellt wie sie war, immer schlechter fressen. Eigentlich ein klarer Fall für Euthanasie. Doch mit derselben rührenden, leicht verhuschten Beharrlichkeit, mit der sie das ihr immer etwas rätselhafte Dasein meisterte, kämpfte Dora jetzt um ihr kleines Hühnerleben. Beutetiere wie Hühner zeigen Schwächen ohnehin erst im allerletzten Moment, aber Dora ging da noch weiter: Sie verkroch sich nicht, wie es kranke Tiere gern tun, sondern blieb munter und saß nach wie vor täglich mitten in der Hühner-Runde. Sie putzte sich wie alle anderen, obwohl ihr das mit ihrem blockierten Schnabel zunehmend schwerfiel. Fressen wurde immer mühsamer, doch auch damit kam sie zurecht: Sie verputzte Unmengen mürber Äpfel, und wenn sie kleine Körner nicht mehr aufpicken konnte, ging sie eben zum Legemehl, tauchte den Schnabel tief ein und bekam mit ihrer Hartnäckigkeit tatsächlich so viel Futter ab, dass sie nicht einmal abmagerte. Sogar ihr Gefieder blieb glatt und blank. Ich versuchte mehrmals vergeblich, die festsitzende Masse aus dem Schnabelwinkel zu bekommen, und hoffte trotzdem gegen alle Vernunft. Bis zu diesem schrecklichen Morgen, an dem die arme Henne den Schnabel kaum noch bewegen konnte. Ich sah sie mir an, als sähe ich sie zum ersten Mal: Doras Gesicht war halbseitig unförmig dick, das Auge so gut wie zugeschwollen, der Schnabel von einem schwarzen Klumpen grotesk aufgesperrt und ausgefüllt, die Zunge zur Seite weggedrückt. Fressen konnte sie nicht mehr. Es war vorbei – Zeit, das arme Tier zu erlösen.

Den ganzen Vormittag drückte ich mich schweren Herzens ums Telefon herum, und bevor ich die Tierärztin dann wirklich bestellte, wollte ich noch ein letztes Mal nach meiner unglücklichen Patientin sehen. Ich ging also mittags wieder in den Garten, fand Dora bei den anderen – und traute meinen Augen nicht. Der riesige schwarze Klumpen war verschwunden – abgefallen? – der Schnabel wieder halb geschlossen, und Dora putzte sich energisch, als wäre überhaupt nichts los. Ich konnte es einfach nicht fassen. Die Tierärztin ebenso wenig. Was dann geschah, war noch unglaublicher: Binnen zwei Wochen verschwand die gesamte riesige Schwellung, Doras Gesicht war nicht mehr das Geringste anzumerken, die kleine Henne war wieder gesund und bleib das auch. Erklären kann mir das niemand, und so habe ich mich entschlossen, das Happy End in allerletzter Sekunde als das anzunehmen, was es sogar im fiesen Februar auch mal geben muss: als ein Wunder hinter dem Haus.

Gäste in meinem Garten

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