Читать книгу Gäste in meinem Garten - Susanne Wiborg - Страница 8
ОглавлениеDer kleine Rätselhafte
Die erste Frage, die sich bei seinem Anblick stellt, wird wohl ewig unbeantwortet bleiben: Wo kommt der bloß wieder her?! Was sich rund ums Gartenjahr so alles unter Sträuchern, im Beet oder in Pflasterfugen einfindet, kann wirklich verblüffend sein, und das Rätsel der Herkunft lässt sich da selten lösen. Mit der zweiten Frage ist es einfacher: Wie kam er ausgerechnet zu mir? Das lässt sich immerhin erraten: Er dürfte per Ameise gereist sein, wie es viele Frühlingsblumen gerne tun. Und so stand irgendwann im April dieses Büschel hell blaugrüner Blättchen unter der Haselnuss. Es sah aus wie eine Kreuzung aus winziger Akelei und zartem Farnkraut, fiel mir zwar seiner aparten Niedlichkeit wegen auf, war aber bald wieder verschwunden und vergessen.
Bis im nächsten Frühjahr die erste Blüte verriet, wer sich da eingefunden hatte. Sie stand aufrecht, eine etwa zehn Zentimeter hohe, üppig purpurviolette Traube. Ein wenig ähnelten die Einzelblüten winzigen Löwenmäulchen, nur dass ihr Kelch offen war, mit einem lang ausgezogenen Sporn am Ende. Damit hatte sich der Neuzugang sozusagen in aller Form vorgestellt: Nach der Ähnlichkeit dieses Anhängsels mit der Hinterkralle einiger Lerchenarten heißt er Lerchensporn. Er ist eine einheimische Wildpflanze, ein Bewohner feuchter Laubwälder, in denen er üppige Teppiche bildet. Weshalb er ausgerechnet in die Mitte einer Stadt im trockenen Heidesand einwanderte, hat er dagegen wieder nicht erklärt. Am wahrscheinlichsten ist da der Umweg über irgendeinen Garten, auch wenn der unter Umständen lange her sein könnte. Der Lerchensporn wird nämlich nicht nur gern als halbwilder Frühjahrsblüher kultiviert, er ist auch eine sogenannte Stinsenpflanze, ein uralter Gartenflüchtling, der längst das Überleben in der freien Natur geschafft hat.
Kein Wunder: Das Pflänzchen mag zwar zierlich, geradezu hinfällig fragil wirken, doch in Wirklichkeit ist es ebenso zäh wie die meisten Frühlingsblüher. Wenn der Lerchensporn irgendwo erscheint, ist er gekommen, um zu bleiben, und zwar in möglichst zahlreicher Gesellschaft. Aus dem ersten winzigen Blattschopf wurde hier bald ein ganzer Teppich aufragender Blüten, ihr purpurnes Rosa wunderbar anzusehen in Kombination mit Veilchen und Zwiebelpflanzen. Es ist eine Pracht, die regelrecht aufzuschäumen scheint und sich dann genauso schnell verabschiedet, wie sie gekommen ist: Binnen weniger Tage verwelken die Blätter und fallen ab. Unter ihnen in der Erde verbirgt sich das große Erfolgsrezept der kleinen Pflanze. Ich stieß darauf, als ich der Frühlings-Farbenpracht auch anderswo im Garten ein wenig nachhelfen und die ersten Büschel teilen wollte: Wird der Lerchensporn älter, verwandeln sich seine ursprünglich feinen Wurzeln in dicke, nährstoffspeichernde Knollen. Etwa in Walnussgröße zerfallen sie und bringen zwei Tochterknollen zur Welt, die im Innern der Mutter herangewachsen sind und so schnell für die Ausbreitung des Teppichs sorgen. Zusätzlich reisen noch die Samen oberirdisch, mit demselben Trick, der auch Veilchen zu so erfolgreichen Siedlern macht: Sie tragen ein leckeres Anhängsel, das Ameisen unwiderstehlich anzieht, und werden von diesen Gästen dann bequem von Ort zu Ort transportiert.
Aber da war noch etwas, ein drittes kleines Rätsel. Immer wenn ich – was man im Frühjahr regelmäßig tun sollte – niederkniete, um mir all die niedlichen Blumen genauer anzusehen, fiel mir auf, dass der Lerchensporn beschädigt war: Einige seiner lang ausgezogenen Blüten hatte Löcher, sahen aus wie am Ende angenagt. Die üblichen Verdächtigen, die ewig pickenden und scharrenden Hühner, hatten ein Alibi: Sie konnten nicht auf dieses Gartenstück. Aber wer sonst knabbert gezielt eine Giftpflanze an? Lerchensporn als entfernter Verwandter des Mohns ist nämlich tatsächlich toxisch, enthält Alkaloide und wurde früher als Wurmkur und Brechmittel genutzt. Um eine so wenig appetitanregende Pflanze selbst ging es dem Angreifer wohl eher nicht. Blieb nur der Honig, den sie tief in ihrem Blütensporn verbirgt. Waren hier etwa Einbrecher am Werk gewesen, die sich den mühevollen Weg durch die längliche Blüte sparen wollten?
Ja und nein. Als Einbruchdiebstahl erwies sich das Lochknipsen tatsächlich, aber es gab mildernde Umstände: Es handelte sich um tierische Notwehr. Räuber waren nämlich, wie sich herausstellte, die dicken Hummelköniginnen, die schlicht nicht durch die zierliche Blüte passten. Sie hatten sich daher für den direkten Weg entschieden, knipsten kurzerhand ein Loch in den Sporn, bedienten sich am Honig und öffneten gleich auch eifrigen Nachfolgetätern den Weg: Die Bienen krabbelten ebenfalls von hinten an die Blüten, statt den vorgesehenen Weg zu nehmen. Verlierer war die arme Pflanze, deren raffiniertes Bestäubungssystem einfach umgangen worden war. Doch der ausgetrickste Lerchensporn weiß sich durchaus zu wehren: Er kontert mit Selbstbestäubung und kann so, allen diebischen Hautflüglern zum Trotz, auch seine nächste Generation per Ameise auf die Reise schicken. Am liebsten natürlich zu Gärtnern, die sich dann sehr wundern, wo diese Pflanze bloß wieder herkommt.