Читать книгу Leas Steine - Susanne Zeitz - Страница 6

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PROLOG

SOMMER 1968

Die Sonne ist glutrot, wie eine brennende Kugel, über dem Wattenmeer aufgegangen. Das Thermometer an der Hauswand des alten Friesenhauses misst an diesem Morgen bereits schon zwanzig Grad. Es verspricht, ein sonniger und heißer Hochsommertag zu werden. Der stets lebhafte Wind fährt in das geöffnete Fenster und lässt die kurzen, teefarbenen Gardinen lustig flattern. Karin spürt noch den letzten Hauch des Windes auf ihrem Gesicht, bevor dieser das Zimmer wieder verlässt. Von draußen ist das zänkische Kreischen einzelner Möwen zu hören, die in weiten Kreisen über das Haus in Richtung Meer fliegen.

Sie schlägt die Augen auf. Ihr erster Blick fällt auf den Wecker. Bald gibt es Frühstück. Das Bett neben ihr ist leer, die grüne Decke zurückgeschlagen. Sie hört Klaus nebenan im Badezimmer ein Lied pfeifen. Karin muss lachen. Die Töne liegen, wie immer, ziemlich neben der Melodie, aber anscheinend nur für ihre Ohren, denn er findet, jeder könne seine Lieder sofort erkennen. Sie hat kaum zu Ende gedacht, da erscheint er bereits mit leicht eingezogenem Kopf im Türrahmen.

»Guten Morgen, meine Liebste, grins nicht so frech! Ich weiß genau, was du gerade denkst!«

Karin lacht ihn verschmitzt an. Sie liebt ihn so sehr. Wie gut er aussieht mit seinen rotblonden, vom Duschen noch feuchten, zerzausten Haaren! Er ist zu groß für die niedrigen Räume des alten Friesenhauses. Das hat er gleich am ersten Tag, als er das Gepäck auf ihre Zimmer brachte, schmerzhaft feststellen müssen, als er sich am oberen Türrahmen den Kopf anstieß.

Durch die geöffnete Türe zum Nebenzimmer stürmen Lea und Klara, ihre Zwillinge, gerade einmal zweieinhalb Jahre alt, ihrem Vater geradewegs in die Arme. Karin schaut vom Bett aus zu, wie Klaus voller Freude seine beiden Mädchen im Kreis herumschwenkt. Wenn nur dieser Moment ewig dauern würde, denkt sie. Fest prägt sie sich dieses Bild ein: Klaus, in seiner verwaschenen Jeans und offenem Hemd, der Lea und Klara fest an sich drückt. Die Kinder sind auf den ersten Blick schwer auseinanderzuhalten, so sehr ähneln sie sich mit derselben roten Haarfarbe und den grünen Augen, die jetzt lebhaft und freudig blitzen. Beide tragen kurze, rosa Hemdchen, die den Blick auf ihre leicht gebräunten, pummeligen Beinchen freigeben. Ihre vom Schlaf zerzausten, roten Haare umrahmen zarte Gesichter, in denen sich jetzt die Wangen aus lauter Übermut gerötet haben.

Ein Bild der perfekten Familie! Zu perfekt, schießt es ihr durch den Kopf. Es ist, als lege sich ihr plötzlich ein schweres Gewicht auf die Brust und nehme ihr den Atem. Was ist nur los mit mir, denkt sie erschrocken. Schnell, um auf andere Gedanken zu kommen, nimmt sie ein Kopfkissen und wirft es ihren drei Lieben zu. Diese drehen sich zu ihr und eine ausgelassene Kissenschlacht beginnt. Die dunkle Ahnung löst sich langsam auf.

»So, meine Damen, Schluss jetzt! In einer halben Stunde gibt es Frühstück«, stellt Klaus fest. »Ich gehe schon hinunter in den Garten und warte dort auf euch.«

Bald darauf verlassen Karin und die Mädchen das Haus. Klaus wirft Karin, die ein kurzes, rotes Leinenkleid trägt, das ihre schlanke Figur äußerst wirkungsvoll zur Geltung bringt, einen bewundernden Blick zu, den sie mit einem koketten Augenaufschlag erwidert. Voller Freude betrachtet er seine Zwillinge, die in ihren lindgrünen Baumwollkleidchen, die Haare mit grünen Schleifen zu lustig wippenden, kleinen Zöpfchen gebunden, ein liebliches Bild abgeben.

Unter einem mächtigen, alten Lindenbaum wartet schon ein liebevoll gedeckter Frühstückstisch auf sie. Ein typisch friesisches Teeservice mit blauweißem Zwiebelmuster steht auf einer weißen Tischdecke, die der laue Wind sanft bewegt. Ein Korb voll mit frischen, duftenden Brötchen, dazu Honig und selbstgemachte Erdbeermarmelade lässt bei den Vieren Appetit aufkommen. Frau Petersen, ihre Pensionswirtin und Klaus’ Patentante, bringt Kaffee für die Eltern und Kakao für die Kinder.

»Moin, moin, habt ihr gut geschlafen? Die Lütten auch? Das freut mich!«, antwortet sie auf ihr bejahendes Kopfnicken.

»Was für ein schöner Tag, aber heiß wird es! Was habt ihr heute geplant?«, fragt Frau Petersen.

»Heute gibt es einen Strandtag: Baden, Sandburgen bauen, Muscheln sammeln, Ausruhen und den letzten Urlaubstag genießen«, erklärt Klaus und Karin stimmt ihm zu.

»Lea und Klara sind so gern am Wasser, stundenlang sind sie damit beschäftigt, Muscheln und kleine Schwemmhölzer zu sammeln und im Sand zu spielen«, ergänzt Karin lächelnd.

»Dann wünsche ich euch allen einen schönen Tag«, verabschiedet sich Frau Petersen und streichelt die beiden roten Köpfchen. Es ist traurig, dass seine Mutter sein Glück nicht mehr miterleben kann. Sie hätte sicher ihre helle Freude an ihrer sympathischen Schwiegertochter und ihren süßen Enkelinnen, denkt Frau Petersen. Für sie ist Klaus in all den Jahren wie ein Sohn geworden. Schade, dass sie morgen schon wieder abreisen!

»Übrigens Karin, bevor ich es vergesse. Ich fahre später mit Wiebke auf die Insel Föhr. Ich muss in Wyk etwas besorgen. Möchtest du uns begleiten? Du könntest solange bummeln und ins Café gehen.«

Karin überlegt. Sie würde gerne etwas für sich allein unternehmen, ein bisschen durch die Auslagen der Geschäfte stöbern und gemütlich im Café sitzen. Außerdem liebt sie Wyk. Sie sieht Klaus fragend an.

»Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich mitginge?« »Nein, mein Schatz, fahr mit und mach dir einen schönen Tag. Ich gehe mit den Kleinen an den Strand.«

Nach einem ausgiebigen Frühstück gehen Klaus und die Mädchen, mit Picknickkorb, Badeutensilien, zwei großen, aufgeblasenen, roten Plastik Enten und mit Eimern und Schaufeln beladen, über die Dünen hinunter ans Meer. Karin bleibt zurück und winkt ihnen hinterher. Die dunkle Ahnung vom Morgen befällt sie wieder. Ich sollte nicht gehen, sondern bei ihnen bleiben! Dieses Gefühl breitet sich in ihr aus. Am liebsten würde sie ihrer Familie nacheilen. Doch sie schüttelt den Impuls ab und geht auf ihr Zimmer, um sich für die Stadt zu richten. Klaus macht es sich währenddessen in ihrem gemieteten Strandkorb bequem und schaut Lea und Klara beim Spielen zu. Eifrig buddeln sie im Sand und sammeln kleine Steine und Muscheln, die sie in ihre Eimerchen schaufeln. Nichts Anderes scheint sie zu interessieren.

Plötzlich hört Klaus lautes Rufen und das Schreien eines Kindes. Er zuckt zusammen und fährt auf. Ich muss wohl kurz eingeschlafen sein, denkt er und schaut erschrocken nach seinen Kindern. Doch an der Stelle, wo sie vor kurzem noch gespielt haben, ist niemand mehr zu sehen. Ein paar Meter weiter jedoch laufen Menschen zusammen, bilden einen Kreis um eine Person, die sich um irgendjemand bemüht, der auf dem Sand liegt.

Um wen es sich handelt, kann er nicht erkennen, doch eine furchtbare Ahnung steigt in ihm auf. Das Kinderheulen ist immer noch zu hören. Er rennt zu der Menschenmenge und schiebt sich hindurch. Klara stürzt sich in seine Arme. Klaus sieht, wie sich der Rettungsschwimmer um die leblose Lea bemüht.

Klaus’ Schrei wird vom Wind auf das Meer hinausgetragen und die Möwen tragen seinen Schmerz und seine Schuld in die kommende Zeit.

Leas Steine

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