Читать книгу Leas Steine - Susanne Zeitz - Страница 7
APRIL 2013
ОглавлениеSie steht am Ufer eines mächtig dahinströmenden Flusses. Ihr gegenüber auf der anderen Seite befindet sich ein kleines, dreijähriges Mädchen. Es hüpft und schwenkt die Arme und winkt ihr zu. Sie soll zu ihm hinüberkommen. Seine roten Haare wippen bei jeder Bewegung und sein lindgrünes Kleidchen bauscht sich und zeigt seine nackten Füße. Das Gesicht kann sie nicht erkennen, was sie jedoch nicht weiter beeindruckt, denn sie kennt das Kind. Sie möchte zu ihm auf die andere Seite, doch das kalte, glasklare Wasser, das sich gurgelnd und schäumend, mit lautem Rauschen seinen Weg bahnt, trennt sie. Die einzige Möglichkeit, um hinüber zu gelangen, bietet eine alte, morsche Holzbrücke. Allerdings gibt es kein seitliches Geländer und in ihrer Mitte klafft ein großes Loch, das wie ein Auge auf den reißenden Fluss starrt. Sie atmet schnell, um den Druck in ihrer Brust zu lockern und um ihren raschen Herzschlag zu beruhigen. Sie hat schreckliche Angst, doch dieses Mal will sie es über die Brücke schaffen! Dieses Mal? Ihr kommt es so vor, als würde sie es nicht zum ersten Mal versuchen. Überhaupt kommt ihr die ganze Situation irgendwie bekannt vor. In dem Moment, als sie die schaukelnden Holzbretter betritt, steigt, wie jedes Mal, dichter, weißer Nebel auf und hüllt sie und das andere Ufer in einen grauen Schleier. Das Kind verschwindet in seiner Undurchsichtigkeit.
Sie schreit. Tief aus ihrer Seele steigt der Schmerz auf und bahnt sich seinen Weg in ihr Bewusstsein, ins Erwachen. Ruckartig setzt sich Klara in ihrem Bett auf und tastet nach der Nachttischlampe. Ihr mildes Licht, das nun den Raum erhellt, beruhigt sie. Sie atmet tief ein und aus. Noch immer spürt sie den Schmerz in sich. Fremd und doch so bekannt! Ihr Blick fällt auf den Wecker. Mitternacht ist gerade vorbei. Die Nacht liegt in ihrer langen Dunkelheit noch vor ihr. Aus Angst, wieder in das Traumgeschehen hineingezogen zu werden, zögert sie das Wiedereinschlafen hinaus, indem sie in die Küche geht und langsam ein Glas heißes Wasser trinkt. Sunny, ihre kleine, spanische Mischlingshündin, kommt erwartungsvoll aus ihrem Körbchen und hofft auf einen Hundekuchen.
»Ach Sunny, geh wieder schlafen, es gibt jetzt nichts zu fressen. Ich komm auch gleich.«
Ein bisschen enttäuscht trottet Sunny in Richtung Schlafzimmer. Klara nimmt einen Schluck Wasser aus ihrem Glas. Schon wieder dieser Traum! Seit dem plötzlichen Tod ihrer Mutter vor einem halben Jahr sucht er sie immer wieder heim, manchmal mehrere Male pro Woche. Aber jetzt möchte sie nicht weiter darüber nachdenken. Sie muss irgendwie zur Ruhe kommen und weiterschlafen, denn sie hat morgen einen anstrengen, arbeitsreichen Tag vor sich. Um halb zwei dreht sie das Licht aus.
Sie steht wieder am Fluss, doch jetzt ist das Kind nicht da. Sie schaut auf die andere Seite und bemerkt einen großen, schwarzen Vogel, der auf sie zugeflogen kommt. Er hat die Größe eines Adlers, sein Gefieder schimmert blauschwarz und seine Augen leuchten so grün wie Smaragde. Eigenartiger Weise hat sie keine Angst vor ihm, denn auch er kommt ihr irgendwie bekannt vor. Er trägt eine schwarze Feder in seinem Schnabel und lässt sie über ihr fallen. Leise segelt die Feder nieder. Bevor sie auf dem Boden landet, streift sie sachte ihr Gesicht.
Von diesem sanften Kitzeln auf ihrer Wange und dem schrillen Ton des Weckers wacht Klara nun endgültig auf. Schnell stellt sie den aufdringlichen Wecker ab, setzt sich im Bett auf und schaut aus dem geöffneten Fenster. Die rosa gemusterten Gardinen sind zur Seite gezogen. Sie liebt es, mit einem Blick auf die Sterne einzuschlafen und von den ersten Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht geweckt zu werden.
Das war für sie auch der Grund, sich für die Wohnung im sechsten Stock zu entscheiden. Die großen Fenster bieten einen wunderschönen Blick auf den nahegelegenen Wald. Den Ausblick kann sie zwar im Moment nicht genießen, doch hilft er ihr jetzt, sich zu orientieren, um endgültig aus der Traumwelt zurück in die Tagesrealität zu kommen. Die Sonne verbirgt sich noch im blauen Morgendunst, leichter Nebel liegt über dem Wald, doch die Vögel singen schon in den höchsten Frühlingstönen. Es scheint ein schöner Tag zu werden.
Ihr zweiter Blick fällt auf das Hundekörbchen, das gegenüber an der Wand steht, doch es ist leer. Sunny liegt entspannt zusammengerollt am Fußende ihres Bettes, halb unter der zerwühlten Wolldecke vergraben und blinzelt mit einem Auge zu ihr hinüber, macht aber keinerlei Anstalten aufzustehen.
Müde und schwerfällig schält sich Klara aus dem Bett. Obwohl sie sich unausgeschlafen fühlt, ist sie doch froh, dass die Nacht mit ihren unheimlichen Träumen vorbei ist. Eigentlich ist es schon lange her, dass ich, nach einem tiefen Schlaf, am anderen Morgen voller Tatendrang aufstehe, stellt sie seufzend fest und schleppt sich in das Badezimmer. Unter dem warmen Strahl der Dusche kommen langsam ihre Lebensgeister zurück.
Schnell zieht sie ihre alten Jeans, ihre bequemen Laufschuhe und eine leichte Kapuzenjacke an und verlässt mit einer freudig bellenden Sunny das Haus.
Als sie die Wohnung damals besichtigte, hatte sie diese, ohne lange Bedenkzeit, sofort gekauft und ihren raschen Entschluss nie bereut. Sie hat das Wohnzimmer mit einer geräumigen Couchecke, einem kleinen Tisch und einem weißen Sideboard gemütlich eingerichtet. Die großen Fenster lassen die Tageshelligkeit ungehindert durch alle Räume fluten, so dass sie oft das Gefühl hat, sich im Freien zu befinden. Die kleine, moderne Holzküche bietet zwar keinen Platz für eine Essecke, aber da sie sowieso keine begeisterte Köchin ist, genügt ihr die einfache Küchenzeile mit einem Geschirrschrank und einem Regal. Vor allem aber ist sie von der Umgebung begeistert. Weit außerhalb der Stadt, direkt am Waldrand gelegen, bietet die Wohnung genau das, was sich Klara immer gewünscht hat. Der Supermarkt ist genau gegenüber und ein paar Straßen weiter liegt das kleine Dorfzentrum mit einem Café, einer Bäckerei, einem Naturkostladen und einem Schreibwarengeschäft. Sie kennt die Leute im Quartier und fühlt sich hier geborgen. Eine kleine, enge Welt am Rande einer Großstadt. Genau das, was sie möchte.
Sie überqueren die kleine Straße und Klara lässt Sunny von der Leine. Sie scheint irgendeinen interessanten Duft mit ihrer braunen Nase zu wittern, denn sie springt sofort los. Der Wald erwacht langsam und die Vögel singen ihre Lieder, während die Sonne mit ihren ersten Strahlen den Pfad vor ihr erhellt und die noch kühle Luft ein wenig erwärmt. Gedankenverloren, den Blick auf den Boden gesenkt, geht Klara den Weg entlang. Sie ist nicht empfänglich für die malerische Stimmung um sie herum, auch den triumphierenden Blick, den Sunny ihr zuwirft, als sie zwei Krähen verjagt, die ärgerlich auf den nächsten Baum flattern, nimmt sie nicht auf. Enttäuscht läuft der Hund voraus und sucht nach irgendwelchen Schätzen, die im Gebüsch verborgen sind.
Der Morgen im Oktober, als Andreas vor ihrer Tür stand, zieht plötzlich wie ein Film an ihrem geistigen Auge vorbei: Der Tag hatte harmonisch und friedlich begonnen und es versprach ein warmer, goldener Oktobertag zu werden. Als Klara aus dem Fenster blickte, sah sie, dass noch ein leichter Nebelflor über den roten und gelben Baumspitzen lag, welche die Sonne mit ihrem Licht schon zart beleuchtete. Sie freute sich auf einen ruhigen Sonntag, den sie und Sunny bei einem ausgedehnten Spaziergang genießen würden. Sie sieht sich beim Frühstück sitzen. Sie hatte eine Kerze angezündet, Sunny lag zufrieden auf dem Teppich und nagte an einem Kauknochen, während sie in ihrem Gedichtband las. Sie erinnert sich, dass es sich um ein Herbstgedicht von Hermann Hesse handelte, denn das Büchlein liegt bis heute, an dieser Stelle aufgeschlagen, auf ihrem Wohnzimmertisch. Eine liegengelassene Erinnerung! Sie spürt den Frieden dieses damaligen Morgens immer noch in sich. Sie schenkte sich gerade eine zweite Tasse grünen Tee ein, als es klingelte. Die schrille Unterbrechung ihrer Sonntagmorgenidylle ließ sie zusammenzucken. Wer war das? Sie erwartete keinen Besuch und wollte auch keinen, deshalb wartete sie erst einmal ab, bevor sie zur Tür ging. Vielleicht hatte irgendjemand aus Versehen auf ihre Klingel gedrückt. Doch es klingelte wieder, dieses Mal hartnäckiger und länger. Seufzend stand sie auf, ging zur Tür und öffnete sie. Sunny sprang laut bellend an ihr vorbei und begrüßte Andreas, ihren kleinen Bruder.
Er ist zwar mit seinen ein Meter neunzig wesentlich größer und auch nur drei Jahre jünger als sie, doch für Klara ist er bis heute der kleine Bruder geblieben, den sie beschützen möchte. Das war schon in ihrer Kindheit so. Klara hatte immer das Gefühl, für ihren Bruder verantwortlich zu sein. Wenn er sich beim Spielen verletzte oder wenn er krank war, machte sich in ihr sofort die Angst breit, ihn zu verlieren und ohne ihn zurückbleiben zu müssen.
Klara kann sich bis heute nicht damit anfreunden, dass Andreas ausgerechnet den Beruf des Auslandskorrespondenten gewählt hat. Er lässt sich mit Vorliebe in Krisengebiete und in Kriegsländer schicken. Er brauche den Kick und auch den Stress, der mit der Angst aufsteige, wenn er mitten in Kampfgebieten als Berichterstatter tätig sei, hatte er ihr einmal gestanden. Als sie vorsichtig gefragt hatte, ob er nicht als Redakteur in einer hiesigen Zeitung arbeiten wolle, hatte er lachend abgewinkt. Er sei absolut kein Mann für den Schreibtisch, meinte er.
»Andreas, was machst denn du hier? Ich dachte, du sitzt schon längst im Flieger nach Teheran? Komm herein.« Andreas folgte ihr in den Flur. Dort blieb er mit hängenden Schultern stehen. Er wirkte wie ein alter Mann.
»Was ist los, du schaust so ernst, geht es dir nicht gut?« Irgendetwas Beunruhigendes ging von Andreas aus. Klara war es, als legte sich ihr ein Stein auf die Brust. Schweigend folgten sie der schwanzwedelnden Sunny ins Wohnzimmer. »Klara«, sagte Andreas mit belegter Stimme. »Ich muss dir was sagen.« Er machte eine Pause und räusperte sich. »Mama ist tot! Sie ist vor zwei Stunden mit dem Auto verunglückt.«
Dieser Satz stand mit einem Mal in seiner ganzen Schwere und Grausamkeit zwischen ihnen im Raum. Klara starrte ihren Bruder mit verständnislosem Blick an. Irgendwie drang das Gesagte nicht in ihr Verstehen. Auch jetzt, nach einem halben Jahr, spürt sie immer noch das Entsetzen, das von ihr Besitz ergriffen hatte, als sie endlich verstand, was Andreas ihr da mitteilte. Ihre Mutter war tot!
Ohne Vorwarnung, einfach nicht mehr da!
Lautes Bellen reißt Klara aus ihren Erinnerungen. Sie zuckt zusammen und schaut sich um. Sunny hat ihren Hundefreund Jogi getroffen. Freudig tollen sie miteinander den Waldweg entlang.
»Guten Morgen, Frau Winter, ist das nicht ein schöner Morgen?« Das Frauchen von Jogi steht mit einem Lächeln vor ihr. Klara ist froh für die Unterbrechung ihrer trüben Gedanken.
»Hallo, Frau Solda. Es ist wirklich ein schöner Morgen«, erwidert sie und lächelt halbherzig.
Eine kleine Weile stehen sie zusammen und beobachten die übermütig spielenden Hunde. Für Klara wird es nun Zeit umzukehren. In einer halben Stunde muss sie sich auf den Weg in die Galerie machen. Mit einem Lächeln verabschieden sich die beiden Hundebesitzerinnen voneinander.
Klara ist wieder allein mit ihren Gedanken, doch sie möchte sich nicht weiter mit den traurigen Erinnerungen beschäftigen, deshalb lenkt sie diese nun bewusst auf ihre Arbeit.
Heute Mittag werde ich den neuen Maler besuchen und mir seine Bilder anschauen. Ich bin gespannt, was er mir zeigen wird. In seiner Mappe waren ein paar interessante Arbeiten. Mit ihren Gedanken ist sie bereits in der Galerie. Das ist ihre Welt! In ihr kennt sie sich aus. Die nächtlichen Träume sind ihr unheimlich und die Trauer mit ihrer Schwere und ihrer Undurchsichtigkeit macht ihr Angst. Sie will ihr keinen Raum geben.
Nach einer Weile kehrt sie nach Hause zurück. Jetzt muss es schnell gehen, denn sie hat nicht mehr viel Zeit. Sie entscheidet sich für dunkelblaue Jeans, dazu einen hellgrünen Baumwollpulli, darüber einen leger geschnittenen, schwarz karierten Blazer und einen beigen Wollschal, den sie sich locker um den Hals legt. Frühstücken wird sie in der Galerie.
So wie ich Margo kenne, hat sie mir sicher wieder ein Vollkornbrötchen und eine Schale Müesli von daheim mitgebracht. Dankbarkeit erfüllt sie, als sie an Margo denkt.
Sie ist der gute Geist in der Galerie und gleichzeitig ihre beste und einzige Freundin. Sie hatten sich während ihres Kunststudiums kennengelernt und sind seitdem eng befreundet.
Margo, die Liebe, die Verlässliche. So wurde sie früher immer genannt. Sie passte damals so gar nicht in die ausgeflippte Kunstszene. Ihre Bilder, meist Landschaftsmotive, die sie durchaus gekonnt in Öl- oder Acrylfarben auf die Leinwand brachte, waren in der damaligen Zeit als altmodisch verpönt. Oft war sie den liebevollen Spötteleien ihrer Kommilitonen ausgesetzt und doch fanden gerade ihre Bilder immer wieder ihre Käufer. Anscheinend besaß Margo ein geschicktes Händchen für den Verkauf.
Als Klara vor Jahren von Köln wieder in ihre Heimatstadt Stuttgart zurückkehrte, um dort ihre erste Galerie zu eröffnen, schlug sie Margo vor, sie zu begleiten und mit ihr in der Galerie zu arbeiten. Zu zweit würde sich eine Galerie sicher einfacher aufbauen und führen lassen. Margo war froh über das Angebot, denn nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes war sie mit ihrer kleinen Tochter in einem viel zu großen Haus in Köln allein zurückgeblieben. Sie besaß dort zwar viele Freunde und Bekannte, doch ein Neuanfang in Stuttgart mit einer neuen Aufgabe reizte sie, zumal auch ihre Mutter und weitere Familienmitglieder in der näheren Umgebung leben. Nach kurzer Überlegungszeit nahm sie Klaras Angebot an und zog mit ihrer kleinen Tochter nach Stuttgart. Sie hat bis heute diesen Schritt nicht bereut. Ihre Tochter hatte sich überraschend schnell mit der neuen Situation abgefunden und viele Freundinnen gefunden. Margo stürzte sich zusammen mit Klara in den Aufbau der Galerie. Ihre Freundschaft vertiefte sich und auch beruflich wuchsen sie zu einem guten Team zusammen.
Margos Arbeitsbereich umfasst das Geschäftliche, wie das Festsetzen der Ausstellungstermine, Kataloge und Zeitungsartikel in Auftrag geben, mit Käufern zu verhandeln und Galeriebesucher durch die jeweiligen Ausstellungen zu führen. Sie liebt es, die Besucher durch die großen, eleganten Räume zu führen, die mit jeder neuen Ausstellung ihr Gesicht und ihre Ausstrahlung verändern. Die Galerie sei für sie ein leerer, weißer Raum, der darauf warte, mit Leben erfüllt zu werden, erklärte sie einmal begeistert, als sie nach ihrer Arbeit als Galeristin gefragt wurde. Ihre Aufgabe sei es, dafür zu sorgen, dass die Kunstwerke, durch die richtige Hängung und die optimale Beleuchtung, ihre Farben und ihre Leuchtkraft ideal zur Geltung bringen können. Erst dann würden die Bilder ihre Geschichten erzählen und ihre Botschaften vermitteln. Schlussendlich seien es natürlich die Besucher, die den Raum mit Leben erfüllten, wenn sie mit den Kunstwerken in Verbindung treten würden. Sie erlebe die Zeit von der Aufhängung der Bilder bis zur Vernissage und anschließender Ausstellungszeit stets als eine Bereicherung ihres eigenen Lebens.
Für Klara bedeutet die Galerie ebenfalls Bewegung und Veränderung, aber nur im Außen. Fremde Städte und Länder zu bereisen, die Künstler in ihren Ateliers zu besuchen und neue Bilder für eine Ausstellung zusammenzustellen, das ist ihre Welt. Im Außen zusammenzutragen, was im Inneren zur Entfaltung kommt, dafür ist Klara zuständig und da sie ein gutes Händchen für das Entdecken von neuen Künstlern hat, eröffnete sie vor zwei Jahren eine zweite Galerie in München, die ebenfalls mit großem Erfolg läuft. Sie haben sich mittlerweile in den Kunstkreisen einen guten Namen gemacht, der weit über die Landesgrenze hinaus bekannt ist. Zurzeit zählen sie Japaner, Russen und vor allem Schweizer zu ihren Hauptkunden. Während sich Klara fertig anzieht, sind ihre Gedanken bereits in der Galerie und bei Margo. Ein warmes Gefühl breitet sich in ihr aus. Vertrauen, Verlässlichkeit, sich angenommen fühlen, das alles findet sie bei Margo. Sie ist wie ein Hauptgewinn im Lotto für mich, denkt sie. Immer kann ich mich auf sie verlassen. Wenn sie sich nur nicht ständig so viele Sorgen um mich machen würde! Sie scheint Tentakeln zu besitzen, mit denen sie genau spürt, wie es mir gerade geht. Klara muss bei ihrem Vergleich lachen. Bin ich wirklich so dünn und blass, wie sie immer meint? Zur Sicherheit betrachtet sie sich noch kurz im Flurspiegel. Sie hat schon Recht, ich habe ziemlich an Gewicht verloren. Im Gegensatz zu ihr sehe ich aus wie eine Bohnenstange. Was ich an Kilos zu wenig habe, hat Margo stets zu viel. Ständig findet sie in irgendwelchen Frauenmagazinen neue Diätvorschläge, durch die sie, scheinbar jedes Mal mit hundertprozentiger Sicherheit, ihre Traumfigur erreichen kann. Dabei ist sie so eine hübsche Frau mit ihren strahlenden, blauen Augen und ihrem blonden Lockenkopf. Die Rundungen gehören einfach zu ihr, betonen das Mütterliche und Gemütliche, findet Klara. Sie schüttelt den Kopf und wendet sich wieder ihrem Spiegelbild zu. Die dunklen Schatten, die sich unter meinen Augen angesiedelt haben, wird sie sicher wieder als erstes bemerken! Ich sollte ein wenig braunen Gesichtspuder und einen Tupfer Rouge auflegen. Mit einem dunklen Lidstrich und schwarzer Wimperntusche untermalt sie ihre grünen Augen, die durch das dunkle Brillengestell in ihrer Ausdrucksfähigkeit betont werden. Sie betrachtet sich noch einmal im Spiegel. Ja, jetzt sehe ich ganz gut aus, findet sie und bindet ihre langen, roten Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammen. Auf jeden Fall kann ich mich jetzt sehen lassen und meine fast achtundvierzig Jahre bleiben, zurzeit wenigstens noch, mein Geheimnis.
Sie wirft ihrem Spiegelbild noch ein schiefes Lächeln zu, begibt sich auf die Suche nach ihrem Autoschlüssel, der zum Glück sehr schnell in ihrer geräumigen, schwarzen Ledertasche auftaucht, und verlässt das Haus.
Sie fährt zuerst in die Galerie, die sich in der Innenstadt befindet. Da sie zwei Parkplätze direkt vor dem Haus besitzen und ihre Öffnungszeiten sich nicht mit dem Berufsverkehr überschneiden, der sich jeden Tag wie eine träge, vollgefressene Schlange seinen Weg in die Innenstadt bahnt, erreicht sie bereits nach kurzer Zeit ohne Stress und Parkplatzsuche ihr Geschäft.
Momentan stellen sie sehr interessante, zeitkritische Schwarz-Weiß-Fotografien eines Londoner Fotografen aus. Klara hatte seine Bilder in einem unscheinbaren Londoner Café entdeckt und ihm eine Ausstellung in ihrer Galerie angeboten. Der Fotograf konnte sein Glück kaum fassen. Klara hatte mit ihrer Entdeckung Recht behalten. Die Vernissage war sehr gut besucht gewesen, einige Bilder sind bereits verkauft.
»Guten Morgen Margo«, ruft Klara in den Ausstellungsraum.
Diese streckt den Kopf aus dem Büroraum, den Telefonhörer am Ohr und winkt ihr zu. Wie sich Klara schon gedacht hat, steht ein komplettes Frühstück auf ihrem Schreibtisch.
»Danke«, flüstert sie ihr zu und versucht ihrem kritischen Blick auszuweichen. Sie lacht und gibt sich betont locker und fröhlich, obwohl das nicht ganz der Realität entspricht. Sie fühlt sich müde und ausgelaugt. Die schlaflosen Nächte, in denen sie ihren kreisenden Gedanken und den sich stets wiederholenden Träumen ausgesetzt ist, rauben ihr immer mehr Kraft und Energie. Mit wenig Appetit fängt sie an, das Müesli zu essen. Seit ihrer Kindheit erlebt sie die nächtlichen Begegnungen mit dem kleinen Mädchen. Mit dem Beginn der Pubertät wurden sie seltener. Komisch, dass sie in letzter Zeit wieder vermehrt auftauchen. Eigentlich seit Mutters Tod! Jedes Mal dieselbe Situation. Ich möchte zu dem Kind gelangen und schaffe es nicht. Warum nicht? Was bedeutet das und wer ist das Kind? Seit Jahren stellt sich Klara immer wieder diese Fragen. Und nun kommt auch noch der schwarze Vogel mit der Feder dazu. Unbewusst streicht sich Klara über die Wange.
Margo beendet ihr Telefongespräch und holt Klara aus ihrer Grübelei.
»Ein neuer Interessent für die Fotografien. Er kommt morgen vorbei. Na, und du Schätzchen, wie geht es Dir?« Sie sieht Klara forschend an. »Du siehst müde aus, wieder dieser Traum?«
Klara nickt und versucht das Thema auf etwas Anderes zu lenken, aber Margo lässt sich nicht so einfach ablenken.
»Ich finde, du müsstest dringend Urlaub machen, dir eine Auszeit gönnen. Fahr doch irgendwo hin, wo du eine Weile für dich sein kannst. Du hast die Trauer um deine Mutter und den Schock noch gar nicht richtig verarbeiten können. Wann war denn dein letzter Urlaub?«
Klara muss nachdenken. Auf die Schnelle fällt es ihr nicht ein. Nach dem Unfall ihrer Mutter hatte sie sich eine Woche frei genommen, um die Beerdigung zu organisieren und alles andere zu erledigen. Danach hatte sie sich sofort wieder in die Arbeit gestürzt.
»Ich brauche keinen Urlaub! Mir macht meine Arbeit Spaß. Wie du weißt, bin ich ein kleiner Workaholic.« Sie grinst sie beschwichtigend an, aber Margo lässt sich nicht erweichen.
»Eben und das tut dir nicht gut. Du solltest auch mal wieder etwas für dein Privatleben tun. Du bist in deiner freien Zeit viel zu viel allein. Das tut dir auf die Dauer nicht gut. Glücklich und ausgeglichen wirkst du auf mich jedenfalls nicht! Ich kann mir übrigens gut vorstellen, dass dir die Träume etwas mitteilen möchten.« Margo seufzt. Sie weiß genau, dass ihre Ermahnungen bei Klara nichts fruchten. Sie ist sehr gut im Verdrängen, denkt sie. Ungutes, Belastendes oder wie jetzt die Trauer um die Mutter schiebt sie beiseite, möchte sich damit nicht auseinandersetzen. Schade, dass sie sich von mir nicht helfen lassen möchte. Ich bin gespannt, wie lange das gutgeht!
»Komm Margo, lass uns von etwas Erfreulicherem reden. Später besuche ich den jungen Maler, der sich vor einer Woche bei uns vorgestellt hat und uns seine Mappe dagelassen hat. Ich bin gespannt auf seine Bilder. Seine Landschaftsbilder sind eher konservativ, aber er arbeitet viel mit Licht und das gefällt mir. Ich habe ein gutes Gefühl. Wir treffen uns direkt in seinem Atelier.«
Sie schaut auf die Uhr.
»Ich muss auch gleich los. Gibt es bei dir noch was Wichtiges?«
»Nein«, meint Margo.
»Heute Mittag kommen einige japanische Geschäftsleute vorbei. Sie haben sich gestern telefonisch angemeldet und wünschen eine separate Führung durch die Galerie. Ich werde den Laden schließen, so dass ich mich ganz ihnen widmen kann. Es könnte lukrativ werden. Mehr steht für heute nicht auf dem Programm.«
»Kann ich Sunny wieder bei dir lassen? Ich hole sie dann bei dir daheim ab. Ich denke nicht, dass es bei mir sehr spät werden wird. Ich habe Fressen für sie dabei.«
Klara reicht Margo das Tütchen.
»Mache ich gerne, ich gehe mit ihr heute Mittag in den Park. Wir machen es uns schön, nicht wahr Sunny?« Margo streichelt den Hund, der freudig an ihr hochspringt.
»Gut, dann starte ich. Vielen Dank fürs Frühstück.«
»Du hast ja kaum etwas gegessen! Kein Wunder, dass du so dünn bist!« Margo schüttelt den Kopf.
Doch bevor sie weiter insistieren kann, nimmt Klara sie kurz in den Arm und drückt sie fest. Was täte ich nur ohne sie und ihre Fürsorge! Mein Leben wäre um so vieles ärmer. Noch ärmer? Meine Güte, was habe ich heute nur für Gedanken! Das Treffen mit dem Maler wird mir sicher guttun und mich ablenken. Klara schnappt ihre Tasche und ihren Autoschlüssel, streichelt Sunny kurz über den Kopf, winkt Margo noch einmal zu und macht sich auf den Weg.
Wenn der Verkehr nicht zu dicht ist, könnte sie bereits in zwei Stunden in Konstanz sein. Sie hat Glück und schafft es ohne Stau auf die Autobahn in Richtung Singen. Das Radio läuft, der SWR3 Sender dudelt halblaut vor sich hin. Sie muss noch einmal an ihr Gespräch mit Margo denken. Margo hat gut reden. Sie hat ihre Tochter und ihren Enkel, bei denen sie oft zu Besuch ist. Sie ist ein ausgeprägter Familienmensch, dauernd kümmert sie sich um irgendeine Tante oder eine Kusine. Ihre Mutter, mit der sie sich sehr gut versteht, wohnt in ihrer Nähe und sie kann auf eine glückliche Ehe zurückschauen. Das habe ich alles nicht und ich brauche es auch nicht! Ich bin gerne für mich allein, außerdem habe ich Sunny. Das genügt mir. Sie stellt das Radio lauter. Gerade wird ihr Lieblingssong gespielt. Sie singt laut mit. Es geht mir doch gut, denkt sie. Für was brauche ich eine Auszeit oder eine Beziehung? Ihre letzte Partnerschaft ist vier Jahre her. Es war für sie eine mittelmäßige Liebe gewesen, für Markus allerdings nicht. Er vergötterte sie regelrecht, trug sie auf Händen und war immer bestrebt, ihre Wünsche zu erfüllen. Für Klara war es eine anstrengende, einengende Zeit. Und als Markus ihr einen Heiratsantrag machte, war für sie der Zeitpunkt der Trennung gekommen. Ich bin jetzt unabhängig, habe meine Freiheit, muss auf niemanden Rücksicht nehmen und führe zwei gutgehende Galerien, was will ich denn noch mehr? Wieder einen Mann an meiner Seite, der meine gesamte Aufmerksamkeit und Liebe fordert? Das kann ich nicht geben. Und warum soll ich mich ewig mit einer Trauer auseinandersetzen, die ich eigentlich gar nicht empfinde? Sie erschrickt über diesen Gedanken, möchte ihn wegschicken, ihn nicht gedacht haben, doch das ist nicht so einfach, denn er schwebt jetzt im Raum.
Ihr Verhältnis zu ihrer Mutter war nicht schlecht, aber auch nicht gut gewesen. Sie waren sich immer fremd geblieben. Nie konnte Klara ihrer Mutter etwas recht machen. Alles, was sie tat, reichte nicht aus, um ihre Mutter für sich zu gewinnen. Es war immer, als stünde eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen. Als Kind hatte sie sehr darunter gelitten, vor allem, wenn sie miterlebte, wie Andreas ihr vorgezogen wurde und das war ständig der Fall. Andreas hier, Andreas da.
Klara spürt wieder den Druck in ihrer Brust. Schnell dreht sie das Radio lauter. Die Nachrichten werden gerade durchgegeben: Ein neuer Terroranschlag in Afghanistan. Anscheinend ist auch ein Auslandsreporter dabei verletzt worden. Klara atmet tief ein und hält kurz die Luft an. Oh, lieber Gott, lass es nicht Andreas sein!
Als ihm seine Nachrichtenagentur den Auftrag erteilte, über die Mission der Blauhelme in Kundus Bericht zu erstatten, hatte er sofort zugesagt. Vor drei Wochen hatte er sie in der Galerie angerufen und ihr voller Begeisterung von seinem neuen Arbeitseinsatz berichtet.
Schnell dreht sie das Radio leiser. Ihr Herz schlägt schnell und ihre Handflächen fühlen sich feucht und klebrig an. Sie lässt das Fenster einen Spalt hinunter. Die frische Luft, die ihr seitlich ins Gesicht weht, tut gut. Sie atmet ein paarmal tief ein und aus. Ganz ruhig, Klara, alles ist gut, gleich bist du bei dem Maler. Seine Bilder sind vielversprechend. Sie versucht, sich selbst zu beruhigen. Langsam lässt der Druck nach und die Angst verwandelt sich in ein diffuses Gefühl, das tief in ihrem Inneren zurückbleibt.
Auf der rechten Seite taucht nun der Hohentwiel auf, ein kleiner Vulkan, der sich mit seiner Höhe über den Hegau mit seinen sanften Hügeln erhebt. Das Friedvolle dieser Landschaft erreicht ihre Seele und sie entspannt sich nach und nach. Ein paar Minuten später sieht sie in der Ferne den Bodensee im Sonnenlicht dieses Frühlingstages glitzern. Im Hintergrund erhebt sich der noch schneebedeckte Säntis. Nun dauert es nicht mehr lange und sie ist in Konstanz. Sie stellt ihr Navy ein und erreicht schnell und ohne große Umwege ihr Ziel.
Das Haus des Malers steht am Waldrand in einer kleinen Wohnsiedlung. Wunderbar, denkt sie, dann muss ich nicht an den See. Sie hält sich nicht gerne am Wasser auf. Schon als Kind hatte sie sich am Meer oder an einem großen See unwohl gefühlt. Warum weiß sie nicht. Es gibt keine ungute Situation, an die sie sich erinnern kann. Aber auch ihre Mutter wollte die Ferien nicht am Meer verbringen. Sie zog immer die Berge vor. Klara parkt ihr Auto vor dem Haus und steigt aus.
Als sie klingelt, erscheint ein mittelgroßer, schlanker, noch recht junger Mann an der Tür. Bevor es ihm gelingt, sie zu begrüßen, stürzt ein kleiner, laut bellender, strubbeliger Hund mit wild wedelndem Schwanz an ihm vorbei auf sie zu. Micky, so wird er vorgestellt, springt begeistert an ihr hoch.
»Lassen sie ihn nur, er riecht bestimmt meinen Hund«, beschwichtig Klara den Besitzer, der erfolglos versucht, den Hund zu sich zu rufen. Sie beugt sich hinunter und streichelt ihn, wobei es ihm immer wieder gelingt, mit seiner feuchten Schnauze ihr Gesicht zu berühren. Schließlich legt sich die Freude des Hundes und die verzögerte Begrüßung findet statt.
Der Hausherr lacht und bittet sie herein. Er führt sie zuerst in das Wohnzimmer, wo sie freundlich von seiner Frau begrüßt wird. Sie hat liebevoll den Kaffeetisch gedeckt. Auf einem Tischtuch mit zart gestickten, gelben Rosen stehen Teller und Tassen aus dünnem, weißem Porzellan. Hellgelbe Servietten liegen, kunstvoll gefaltet, neben goldenen Kuchengabeln. Beleuchtet wird das Gesamtkunstwerk von zwei gelben Kerzen, die in blankpolierten, goldenen Kerzenhaltern leicht flackernd ihr Licht über den Tisch verbreiten. In der Mitte der Tafel steht auf einer goldenen Kuchenplatte ein selbstgebackener Apfelkuchen mit Schlagsahne. Klara muss bei diesem Anblick an ein Stillleben aus alter Zeit denken, was das wuchtige, blaue Sofa und die großen, rotgold gestreiften Sessel verstärken. Sie nimmt auf dem Sofa Platz, was gleichbedeutend mit einem Hineinsinken einhergeht, denn die Sprungfedern und die Spannkraft der Sitzfläche verraten das betagte Alter des Möbelstückes. Beinahe zeitgleich platziert sich auch Micky neben ihr und äugt äußerst interessiert auf den Kaffeetisch. Der Hausherr lächelt verlegen. Ihm scheint das Verhalten seines Hundes peinlich zu sein. Seine Frau reagiert durchgreifender. Mit leicht erhobener Stimme dirigiert sie den Hund in sein Körbchen. »Sofort jetzt!« Klara muss lachen. Diese Szene kommt ihr bekannt vor. Wahrscheinlich reagieren fast alle Hunde gleich, wenn es um Kuchen geht. Sie nimmt einen großen Schluck Kaffee. Langsam kehren ihre Lebensgeister zurück und die Anspannung lässt merklich nach. Der Kuchen schmeckt sehr gut, das Gespräch über Malerei plätschert leicht vor sich hin und Klara fühlt sich von Minute zu Minute wohler. »Der Kuchen schmeckt sehr gut«, lobt sie ihre Gastgeberin.
»Das freut mich. Darf ich ihnen noch ein Stück geben?« Klara kann nicht widerstehen.
Nach einer halben Stunde führt sie der Maler in sein Atelier. Es ist ein großer Raum unter dem Dach, der auf seiner Breitseite von einer durchgehenden Fensterfront erhellt wird. Zwei Staffeleien stehen im Raum. Auf der einen lehnt ein angefangenes Landschaftsbild und auf der anderen sind zwei kleine Mädchen zu sehen, die am Strand nach Muscheln suchen. Sie haben die gleiche Größe und tragen dieselben roten Kleidchen, die sich im Wind um ihre nackten, pummeligen Beinchen bauschen. Beide tragen kleine, rote Eimer in den Händen, ihre Köpfe sind geneigt und ihre roten Locken sind leicht zerzaust. Der Maler hat diese Szene so gekonnt herausgearbeitet, hat mit lichtvollen Farben eine solche Lebendigkeit geschaffen, dass Klara das Gefühl hat, sie selbst stehe mit den Kindern am Strand. Fast meint sie, das sanfte Plätschern der kleinen, auslaufenden Wellen zu hören und den würzigen Duft des Seetangs zu riechen.
Klara weicht vor dem Bild zurück, als wäre sie geschlagen worden. Ein kurzer, tiefer Schmerz durchfährt sie. Sie kann es sich nicht erklären.
»Frau Winter, geht es ihnen nicht gut? Sie sind ja ganz weiß im Gesicht. Möchten sie sich für einen Moment dort auf das Sofa setzen?« Der Maler berührt sie sanft am Ellenbogen.
Klara schüttelt den Kopf.
»Es ist alles in Ordnung. Mir war nur kurz schwindelig. Wahrscheinlich die lange Autofahrt. Nun würde ich mir gerne ihre Bilder ansehen.« Schnell wendet sie der Staffelei den Rücken zu.
An den Wänden lehnen seine fertigen Werke. Einige hat er schon vorsortiert. Es handelt sich um typische Bodenseebilder: Der See mit seinen verschiedenen Gesichtern und Stimmungen, gerahmte Aquarelle von der letzten Segelregatta und Landschaftsbilder in Acryl vom Hegau mit seinen lieblichen Hügeln. Auf großformatigen Leinwänden hat er sehr gekonnt Stimmungen und Dynamiken eingefangen.
Klara hat inzwischen ihr Gleichgewicht wiedergefunden. Ihr gefallen die Leichtigkeit der Farben und die Lichtspiele, die in seinen Bildern zu finden sind.
»Ich kann mir gut vorstellen, ihre Bilder in meiner Galerie in einer Einzelausstellung zu zeigen. Vor allem unsere ausländischen Besucher werden begeistert sein. Ich freue mich auf eine Zusammenarbeit mit ihnen. Das wird eine eindrucksvolle Ausstellung.«
Der Maler strahlt sie an.
»Ich freue mich auch darauf. Brauchen sie noch mehr Bilder oder sind es genug?«
Klara überlegt.
»Wenn sie noch sechs zusätzliche Bilder liefern könnten, dann würde ich eine Doppelausstellung ausrichten, zur selben Zeit in beiden Galerien. Ich könnte mir vorstellen, dass es meinen Kunden gut gefallen würde. Es wäre mal etwas Neues. Schaffen sie es noch bis zum Herbst, neue Bilder zu malen? Herbstliche Motive vom Bodensee würde ich vorschlagen.«
»Ja, das würde gehen, aber eher mittlere Formate.«
Sie vereinbaren, dass er sich mit Margo in Verbindung setzt, um weitere Schritte und Termine mit ihr festzulegen. Ohne sich noch einmal das Bild auf der Staffelei anzusehen, verlässt Klara vor dem Maler das Atelier.
»Möchten sie noch zum Abendessen bleiben? Meine Frau richtet uns gerne eine Kleinigkeit zum Essen.«
»Nein danke, das ist ganz lieb, aber ich fahre nicht gerne bei Dunkelheit auf der Autobahn. Ich mache mich lieber jetzt schon auf den Weg.« Klara nimmt ihren Mantel, der auf einem Stuhl liegt und zieht ihn an. Versunken sucht sie in ihrer Handtasche nach ihrem Autoschlüssel. Das Gemälde mit den Kindern geht ihr nicht aus dem Sinn. Was ist nur los mit mir? Warum berührt mich ausgerechnet dieses Bild so tief? Vielleicht sollte ich es kaufen. Im Geist sieht sie es in ihrem Wohnzimmer über der kleinen, weißen Anrichte hängen. Nein, lieber nicht, denkt sie. Das leise Räuspern des Malers unterbricht ihren Gedankengang.
Sie besinnt sich kurz, dann zieht sie den Autoschlüssel aus der Tasche und verabschiedet sich von dem Künstler und seiner Frau, die ihr noch fürsorglich ein kleines Kuchenpaket in die Hände drückt. Klara fährt langsam um die Kurve, um dann auf die Hauptstraße zu gelangen. Doch sie ist abgelenkt. Beinahe übersieht sie die rote Ampel. Ihre Gedanken sind immer noch bei dem Bild. Tief in ihrem Inneren spürt sie eine tiefe Sehnsucht, wenn sie an die beiden kleinen Mädchen denkt. Sie kann nicht ohne das Bild heimfahren! Sie muss es haben, das wird ihr plötzlich klar. Hoffentlich ist es überhaupt verkäuflich! Schnell wendet sie ihr Auto und fährt zurück. Fast im Eilschritt legt sie die kurze Distanz von ihrem Auto zum Haus zurück. Ein bisschen zu stürmisch drückt sie auf die Klingel. Der Maler öffnet die Tür.
»Frau Winter, haben sie was vergessen?« Erstaunt schaut er sie an.
»Nein, aber ich möchte das Gemälde kaufen, wo die beiden Kinder drauf sind. Bitte sagen sie, dass es zu haben ist!« Aus Klara sprudelt es nur so heraus. Sie habe sich regelrecht in das Bild verliebt. Es würde so gut über ihre weiße Anrichte im Wohnzimmer passen.
Der Maler kann sich ein Schmunzeln fast nicht verkneifen, als sie so übereifrig, mit geröteten Backen und bittenden Augen vor ihm steht.
»Es ist zu verkaufen. Doch jetzt kommen sie erst einmal herein.«
Sie gehen die Treppe zum Atelier hinauf. Auf dem abgewetzten, alten Sofa, das vor der Staffelei steht, nehmen sie Platz.
»Mit diesem Bild hat es etwas Eigenartiges auf sich«, erzählt der Maler. »Vor sieben Jahren kam ein älterer Mann zu mir. Er hatte eine kleine, vergilbte und zerknitterte Fotografie dabei, worauf er mit den kleinen Mädchen abgebildet war. Die Kinder suchten am Strand nach Muscheln, eben wie auf dem Gemälde. Er fragte mich, ob es möglich sei, dieses Motiv, allerdings nur die beiden Mädchen, auf eine Leinwand zu übertragen. Das sei für mich kein Problem, erwiderte ich und so gab er es mir in Auftrag. Wir verabredeten, dass er das Bild nach einem Vierteljahr abholen würde. Aber er kam nicht. In der ganzen Aufregung, denn es würde meine erste Auftragsarbeit werden, hatte ich ganz vergessen, mir seine Adresse aufzuschreiben. Seit sieben Jahren steht es nun auf der Staffelei und wartet auf seinen Besitzer. Ich denke, es ist jetzt an der Zeit, dass ich es verkaufen kann. Ich habe lange genug gewartet. Es scheint auch, als habe das Bild nun seine wahre Besitzerin gefunden.« Der Maler lacht sie an. »Das Foto habe ich leider nicht mehr dazu, das ist irgendwie verloren gegangen.
»Das brauche ich nicht, das Gemälde wirkt so echt und lebendig, es ist einfach wunderschön.«
Klara und der Maler stehen auf. Gemeinsam verpacken sie die Leinwand in Karton und mehreren Lagen Plastikfolie, so dass sie im Auto keine Druckstellen bekommt. Der Preis ist schnell verhandelt, das Bild gut im Auto verstaut und Klara macht sich in einer freudigen Stimmung auf den Heimweg.
Beschwingt legt sie die Autobahnstrecke zurück. Die langsam hereinbrechende Dunkelheit bemerkt sie kaum, immer wieder sieht sie die kleinen Mädchen vor sich, die voller Begeisterung nach Muscheln suchen. Das Bild scheint mit seiner Lebendigkeit und Helligkeit Besitz von ihr ergriffen zu haben, denn sie fühlt sich glücklich, wie schon lange nicht mehr. Kurz vor Herrenberg gerät sie in den obligaten Stau. Das hat mir gerade noch gefehlt! Ich möchte endlich heim, etwas essen und dann das Bild aufhängen, außerdem werden Sunny und Margo sicher schon auf mich warten. Ungeduldig drückt sie am Radio herum und sucht einen Sender. Im SWR3 läuft die übliche Popmusik. Klara ist mit ihren Gedanken wieder bei dem Bild. Die Kinder scheinen sich sehr nahe zu sein. Warum haben Andreas und ich diese Nähe nie aufbauen können? Wir verstehen uns gut, aber diese Vertrautheit haben wir nicht. Er bezieht mich in sein Leben nicht mit ein. Eigentlich weiß ich gar nicht, was er denkt oder was er sich so vom Leben wünscht. Jeder geht seinen eigenen Weg. Vielleicht lag es an Mutter, die immer irgendwie zwischen uns stand. Ich wurde von ihr oft zur Seite gedrängt, wenn es um Andreas ging.
Die Mädchen sehen aus, als seien sie Zwillinge, überlegt sie weiter. Klara erinnert sich an ihr Lieblingsbuch Hanni und Nanni. Es handelte von Zwillingsschwestern, die ihre Schulzeit im Internat verbrachten und viele Abenteuer erlebten und Mutproben zu bestehen hatten. Wie hatte sie die Romanheldinnen beneidet und sich nach einer Schwester gesehnt!
Die Musik wird unterbrochen. Die Nachrichten werden durchgegeben. Mittlerweile weiß man, dass bei dem Anschlag in Afghanistan zwei Bundeswehrsoldaten getötet und zwei Auslandskorrespondenten schwer verletzt worden sind. Klara erstarrt. Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht. Hoffentlich nicht Andreas! Die Freude weicht dem üblichen Druck in der Brust. Sie spürt, wie sich kalter Schweiß auf ihrer Stirn ausbreitet. Mühsam versucht sie, die aufkommende Angst zu verdrängen. Sie lässt das Fenster herunter und atmet gierig die kühle Luft ein. Die Anspannung lässt ein wenig nach. Endlich setzt sich die Autoschlange wieder in Bewegung und löst sich langsam auf.
Sie seufzt erleichtert auf, als sie in die Straße einbiegt, in der Margos Haus steht. Zum Glück ist vor dem Haus ein freier Parkplatz. Schnell steigt sie aus und eilt durch den Garten. Sunny scheint sie schon gehört zu haben, denn ihr freudiges Gebell dringt nach draußen. Bevor Klara klingeln kann, öffnet Margo schon die Tür.
»Klara schön, dass du da bist. Du wirst schon sehnsüchtig erwartet.«
Doch das hätte sie nicht extra betonen müssen, denn Sunny drängelt sich bereits an ihr vorbei und springt voller Begeisterung an Klara hoch. Diese beugt sich kurz zu dem Hund nieder, um ihm, jedoch ohne allzu große Freude, über den Kopf zu streicheln. Irritiert blickt Sunny zu Klara. Auch Margo schaut sie erstaunt an. Was ist los mit ihr?
»Möchtest du zum Abendbrot bleiben?«
Klara schüttelt den Kopf.
»Ich bin müde und möchte heim. Gibst du mir bitte die Hundeleine.«
Margo geht ins Haus und kehrt mit der Leine zurück.
»Danke fürs Hüten. Bis morgen. Komm Sunny.«
Margo begleitet beide bis zum Gartentor und schaut dem Auto nach, bis es außer Sichtweite ist. Klara hat ihr gar nicht gefallen. Ihr war der unstete Blick aufgefallen, mit dem Klara sie angesehen hatte. Margo macht sich Sorgen um sie. Sie hatte so abwesend und verkrampft gewirkt. Hoffentlich ist es wirklich nur die Müdigkeit, denkt sie. Seufzend geht sie zurück ins Haus. Sie kann ihr nicht helfen!
Klara ist froh, Margos fragenden Blicken endlich nicht mehr ausgeliefert zu sein. Sie spürt, wie ein dumpfer Schmerz sich seinen Weg vom Hinterkopf zu ihrer Stirn und zu ihren Schläfen bahnt. Wahrscheinlich bekomme ich eine Migräne. Sie war noch nie so froh, in ihre Straße einzubiegen, wie jetzt gerade. Als sie kurz darauf ihr Auto in der Tiefgarage abstellt, fällt ihr ein, dass sie vergessen hat, frische Lebensmittel einzukaufen, doch sie hat jetzt keine Lust mehr, in den Supermarkt zu gehen. Ich werde mir eine Pizza bestellen, dazu ein Glas Rotwein trinken und bald ins Bett gehen, nimmt sie sich vor. Erschöpft fährt sie mit dem Aufzug in den sechsten Stock. Sie ist froh, in die Geborgenheit ihrer Wohnung zu kommen. Sunny trottet ohne großen Elan hinter ihr her und zieht sich bereits nach kurzer Zeit in ihr Körbchen zurück.
Klara wird vom Klingeln der Türglocke und von Sunnys erwartungsvollem Bellen geweckt. Verwundert schaut sie auf die Uhr. Es ist gerade 8.30 Uhr. Wer kann das denn sein? Sie erwartet niemanden. Schnell zieht sie ihre Jeans an, streift einen Pulli über und geht zur Türe. Vielleicht ist es Andreas. Sie weiß, dass das nicht sein kann, aber es wäre so schön! Doch es ist Margo mit einem Korb in der Hand, aus dem eine Bäckertüte herausschaut.
»Guten Morgen, meine Liebe, ich wollte mal nach dir sehen und da dachte ich, so ein gemeinsames Sonntagsfrühstück ist eine gute Idee.«
»Margo, ich freu mich, aber ich komme gerade aus dem Bett, habe noch nicht geduscht und mit dem Hund war ich auch noch nicht draußen.« Klara, die immer noch mit ihrer Schlafträgheit kämpft, versucht sie loszuwerden. »Vielleicht ein anderes Mal.«
»Das stört mich gar nicht! Während du dich fertigmachst, gehe ich mit Sunny raus. Außerdem habe ich unser Frühstück mitgebracht. Du musst nur noch den Kaffee kochen.« Sie schwenkt fröhlich den mitgebrachten Korb, in dem außer den Brötchen auch noch Erdbeermarmelade, Honig und Butter sichtbar werden. Margo scheint heute keine Ausflüchte zu akzeptieren. »Komm Sunny, gehen wir. Bis in einer halben Stunde.« Später sitzen sie am gedeckten Tisch. Die frischen Brötchen duften in ihrem Korb und der Kaffee verbreitet sein kräftiges Aroma. Margos Blick fällt auf die Wand gegenüber.
»Hast du ein neues Bild?«
»Ja«, antwortet Klara, »wie findest du es?«
Margo betrachtet das Gemälde eingehender.
»Es ist sehr gut gemalt, aber ich würde es mir nicht unbedingt daheim aufhängen. Hast du es von dem Konstanzer Maler?«
Klara nickt und schaut liebevoll auf die Muschel suchenden Kinder.
»Immer, wenn ich es anschaue, fühle ich tief in mir eine schmerzhafte Sehnsucht, die ich mir nicht erklären kann. Komisch, aber es ist so.«
»Wie meinst du das?« Margo kann das Gesagte nicht ganz nachvollziehen.
»Die starke Verbundenheit der beiden Mädchen berührt mich. Sie strahlen eine Einheit aus, nach der ich mich immer gesehnt habe und die ich bis jetzt in meinem Leben nicht gefunden habe. Zu meiner Mutter nicht, denn sie ließ zu mir keine Nähe zu und Andreas lebt in seiner eigenen Welt, an der er mich nicht teilhaben lässt.« Klara kämpft mit den aufsteigenden Tränen.
»Momentan ist mir alles ein bisschen zu viel. Erst der Tod meiner Mutter, dann die Sorgen um Andreas.« Klara sitzt zusammengesunken auf ihrem Stuhl und starrt in ihre Kaffeetasse.
»Hast du von Andreas etwas Neues erfahren?« Margo nimmt ein Brötchen aus dem Korb und bestreicht es dick mit Butter und Honig.
»Ja, er hat mir eine kurze SMS geschickt. Er meint, dass er großes Glück gehabt habe. Es sei nur ein Streifschuss am Bein. Aber er müsse noch im Militärlazarett in Kundus bleiben und würde von dort aus heimfliegen. Er melde sich, sobald er wieder daheim ist.« Klara seufzt tief. »Die Wohnung von meiner Mutter müssen wir auch noch leeren, damit wir sie bald verkaufen können.«
Margo wundert sich über den Gedankensprung.
»Jetzt erhole dich erst einmal richtig. Das hat doch wirklich noch Zeit mit der Wohnung! Was hat denn eigentlich der Arzt gesagt?«
»Er meinte, das vor kurzem sei eine große Panikattacke gewesen.«
»Ja und von was kommt so etwas und dann so plötzlich?« »Der Arzt hat gesagt, dass solche Attacken immer ganz unvermittelt, eben wie bei mir, mitten in der Nacht oder auch am Tag auftreten können. Dass ich das Gefühl gehabt habe zu sterben, gehört wohl zu den Symptomen. Es ist ein Entgleisen von Seele und Körper und das kann einen totalen Kontrollverlust auslösen, wie bei mir. Es war furchtbar.« Klara schenkt sich mit zitternden Händen noch einmal eine Tasse Tee ein. »Er hat mich für die nächsten zwei Wochen krankgeschrieben. Er meint, dass mein vegetatives Nervensystem gerade sehr angegriffen sei.«
»Und von was kommt das?« Obwohl sich Margo in letzter Zeit oft Sorgen um sie gemacht hatte, ist sie doch schockiert über das Ausmaß. Dass es Klara so schlecht geht, hatte sie nicht gedacht. »Hast du denn Sorgen oder belastet dich etwas sehr stark?«
»Der Arzt meinte, dass der plötzliche Todesfall meiner Mutter, die Sorgen und die Angst um Andreas eine Belastungsstörung bei mir ausgelöst haben. Dass ausgerechnet mir so etwas passieren würde, hätte ich nie gedacht!«
»Wieso betonst du das so?«
»Was?«
»Na, ausgerechnet mir«, fragt Margo sie verwundert.
»Ich habe mich bisher eigentlich immer sehr gut im Griff gehabt und ich bin kein so emotionaler Mensch, der seinen Gefühlen extrem stark ausgesetzt ist. Ich kann mich sehr gut beherrschen.«
Vielleicht zu sehr, denkt Margo bei sich.
»Und was unternimmst du jetzt dagegen?«
»Ich habe Tropfen bekommen, die die Angst nehmen und die Stimmung anheben. Ich kann besser schlafen und habe momentan keine belastenden Träume mehr.«
Klara denkt mit Schrecken an den Abend zurück, als sie von Konstanz gekommen war. Müde hatte sie die bestellte Pizza gegessen, als letzte Aktion das neue Bild an die Wand gehängt und war danach bald ins Bett gegangen. Die Angst um Andreas hatte sie begleitet. Sunny lag dicht neben ihr auf der Decke. Ihr leichter Atem und ihre wärmende Gegenwart hatten ihr etwas von dem Druck auf der Brust genommen, so dass sie recht schnell eingeschlafen war. Doch mitten in der Nacht war sie aus dem Tiefschlaf aufgeschreckt. Ihr Herz raste, sie war schweißnass und bekam kaum noch Luft. Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Dazu kam eine riesige Angst, die sie fest umklammerte. Da sie sich allein nicht mehr zu helfen wusste, hatte sie den Notarzt angerufen. Im Krankenhaus konnten sie jedoch keine organische Krankheit feststellen, deshalb hatten sie ihr eine Konsultation bei einem Neurologen oder Psychiater empfohlen.
Seitdem waren nun vier Tage vergangen.
»Mit den Tropfen fühle ich mich wie in einer leichten Schleierwelt, alles wirkt gedämpft und ruhig. Irgendwie angenehm, doch ich glaube, ich kann nächste Woche noch nicht arbeiten. Ich schaffe es einfach nicht, mit dem Auto zu fahren und auch der Kontakt mit anderen Menschen macht mir immer noch Angst.« Klara hält den Blick gesenkt und spielt mit dem Kaffeelöffel.
»Süße, das macht doch nichts. Du solltest auf den Arzt hören! Er hat dich nicht umsonst für zwei Wochen krankgeschrieben. Ich sage deine Termine ab, du erholst dich erst einmal und dann sehen wir weiter.«Nach allem, was sie gehört hat, bezweifelt sie allerdings, dass Klara bald wieder gesund genug ist, um zu arbeiten.
»Denk daran, du bist nicht allein. Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst. Du musst dich einfach melden, aber ich schau sowieso morgen wieder bei dir vorbei.« Margo lächelt Klara an, die bleich und müde am Tisch sitzt. Sie macht sich ernsthaft Sorgen um sie.
»Ich bin froh, dass du da bist!«, sagt Klara leise. »Soll ich uns noch Wasser für einen Tee aufstellen?«
»Nein, ich trinke lieber einen Kaffee«, meint Margo und nimmt sich ein zweites Brötchen aus dem Korb und bestreicht es dieses Mal mit ihrer selbstgemachten Erdbeermarmelade. »Ich liebe so ein ausgedehntes Frühstück. Es hat etwas Gemütliches. Als Karl noch lebte, haben wir die Sonntage immer mit einem langen Frühstück begonnen. Manchmal sind wir um elf Uhr noch am Tisch gesessen, haben Kaffee getrunken und uns über alles Mögliche unterhalten oder wir haben uns Gedichte vorgelesen. Karl hat ja auch Reime geschrieben.« »Vermisst du Karl immer noch sehr?« Margo nickt. »Aber es ist keine Trauer mehr. Es ist eher ein schmerzhaftes Sehnen und eine schöne und kostbare Erinnerung. Ich bin dankbar, dass ich mit ihm so ausgefüllte und harmonische Jahre erleben durfte. Das ist ja nicht selbstverständlich.« Genüsslich trinkt Margo einen Schluck Kaffee.
»Wir haben es doch schön, wir beide, nicht wahr?«
Klara nickt, doch so ganz kann sie sich dem Frühstücksgenuss nicht hingeben. Da sie die Freundin jedoch nicht enttäuschen möchte, nimmt sie, zwar ohne großen Appetit, ein zweites Brötchen und bestreicht es mit Margos Marmelade. Dazu trinkt sie eine neu aufgebrühte Tasse grünen Tee.
Die Wochen, die nun folgen, bringen die Einsamkeit mit, denn Klaras Welt ist klein und eng geworden. Da ihre Arbeit in der Galerie vorwiegend aus Kontakten mit Künstlern und Kunden besteht, wäre sie damit restlos überfordert. Der Anrufbeantworter nimmt ihr die Anrufer ab, telefonieren kann sie zurzeit nicht. Auf Menschenansammlungen reagiert sie mit Herzklopfen, Schweißausbrüchen und Atemnot. Mittlerweile kommt die Angst vor der Angst dazu.
»Klara, du musst endlich etwas dagegen tun! So kann es nicht weitergehen!« Margo geht langsam die Geduld aus. Sie geht mit dem Hörer in der Hand aufgeregt hin und her. Klara hat sich soeben wieder für eine Woche krankgemeldet. Aber das ist für Margo nicht das Schlimmste. Sie wird mit der Arbeit in der Galerie gut fertig und die Mitarbeiterin in München erledigt ihre Aufgaben sehr zufriedenstellend. Nein, sie macht sich ernsthafte Sorgen um Klara.
»Ich komme nach Ladenschluss noch bei dir vorbei. Tschüss bis dann.« Margo hängt den Hörer auf, bevor ihr Klara die übliche Absage erteilen kann. Es muss etwas geschehen und zwar bald! Sie greift wieder zum Telefon und ruft Marianne an, ihre langjährige Freundin. Als Analytikerin und Psychotherapeutin arbeitet sie in ihrer eigenen Praxis. Sie schildert ihr kurz das Problem und bittet sie um Hilfe. Marianne ist bereit, Klara einen Termin zu geben, doch muss diese sich selbst darum bemühen und vor allem auch eine Therapie machen wollen.
Margo macht sich auf den Weg zu Klaras Wohnung. Sunny wedelt aufgeregt mit dem Schwanz. Nicht einmal mehr um ihren Hund kann sie sich kümmern! Seit zwei Wochen lebt Sunny nun schon bei ihr, da sich Klara nicht mehr traut, mit dem Hund Gassi zu gehen. Da muss sich etwas ändern und dafür werde ich jetzt sorgen!
»Bald hast du dein Frauchen wieder, das verspreche ich dir!« Margo spricht sich selbst und dem Hund Mut zu, denn sie kennt Klaras Dickkopf und ihre Einstellung zur Therapie. Seit acht Wochen ist Klara nun schon erkrankt. Therapievorschläge, Klinikaufenthalte, alles hat sie bis jetzt abgelehnt. Sie igelt sich daheim ein und geht nicht mehr unter die Leute. Jetzt lässt sie sich sogar schon die Lebensmittel vom Supermarkt ins Haus liefern, denkt Margo ärgerlich. Trotz der starken Medikamente geht es ihr augenscheinlich immer schlechter!
Margo klingelt. Es dauert eine ganze Weile, bis Klara verschlafen an die Tür kommt und öffnet. Margo blickt verstohlen auf ihre Uhr. Es ist fünfzehn Uhr, ein heller, sonniger Frühsommermittag.
»Hallo Klara, schau, wen ich dir da mitgebracht habe.« Nach Sunnys überschwänglicher Begrüßung sitzen sich die beiden Freundinnen bei einem Kaffee und Erdbeerkuchen, den Margo mitgebracht hat, in der Couchecke im Wohnzimmer gegenüber. Wie schmal sie geworden ist, denkt Margo. Von der hübschen, modisch gekleideten Klara ist nicht mehr viel übrig. Ihre glanzlosen Haare sind lieblos zu einem wirren Pferdeschwanz gebunden, ihr Gesicht ist bleich und die Augen blicken matt und trüb und sind von dunklen Ringen umschattet. Sie trägt eine ausgebeulte Trainingshose und ein schmuddeliges T-Shirt.
»Klara, erinnerst du dich noch an meine Freundin Marianne?« Klara überlegt.
»Ja. Sie saß bei der Beerdigung von Karl und dem anschließenden Essen neben mir. Ich fand sie sehr nett. Warum fragst du?«
Margo denkt kurz nach. Soll sie ihr sagen, dass sie mit ihr über sie gesprochen hat? Nein, auf keinen Fall! Sie muss es vorsichtig angehen. Sie möchte es jetzt nicht vermasseln.
»Marianne beschäftigt sich mit Angsterkrankungen und Panikattacken. Ihr besonderes Interesse gilt jedoch Träumen und Traumanalysen. Sie hat eine Praxis und arbeitet nach ihren ganz eigenen Methoden. Ich finde sie sehr kompetent.«
»Woher willst du das wissen?« Klara fragt leicht aggressiv. »Ich war nach Karls Tod bei ihr in Behandlung. Sie hat mir damals sehr helfen können.«
»Das wusste ich ja gar nicht«, murmelt Klara betroffen.
»Mit dir hätte ich darüber auch nicht sprechen können. Bei dir muss alles immer schön und positiv sein, die Schattenseiten des Lebens werden nicht angeschaut, am besten, so tun, als existierten sie gar nicht. Dass ich nach Karls plötzlichem Tod mit depressiven Zuständen und Angst zu kämpfen hatte, dass es mich in der ersten Zeit unendlich viel Kraft kostete, für mein Kind einen normalen Alltag zu gestalten, dass ich manchmal das Gefühl hatte, ich verlöre den Boden unter meinen Füssen, das hätte ich mit dir nicht besprechen können.«
Klara weicht Margos ernstem Blick aus. Aber was sie sagt, stimmt. Tieferen Gesprächen weicht sie gerne aus. Sie hat sich im Laufe der Jahre ihre eigene Welt mit einer heilen, intakten Oberfläche aufgebaut, auf der sie sich bewegt. Alles Störende, Schmerzhafte wird daraus verdrängt. Nicht anschauen und nicht nachfragen, das ist ihre Devise, geschweige denn einen Therapeuten zu Hilfe zu nehmen.
»Und wieso erzählst du mir das jetzt?« Klara rutscht nervös auf dem Sessel hin und her.
»Weil ich finde, dass du dringend therapeutische Hilfe benötigst, sonst landest du irgendwann in der Psychiatrie! Marianne könnte dich in deiner jetzigen Situation begleiten.« So, jetzt hat sie es gesagt! Mehr kann sie nicht tun. Wenn sie wieder meine Hilfe ablehnt, dann werde ich künftig nichts mehr sagen und der Sache ihren Lauf lassen, wohin es auch führen wird, nimmt sich Margo fest vor. Klara schweigt, Margo ebenfalls. Sie schenkt sich noch einen Kaffee ein und krault Sunny, die sich neben ihr auf einem Kissen gemütlich zu einer Kugel zusammengerollt hat.
»Begleitest du mich?« Ängstlich schwebt die Frage durch den stillen Raum. Margo versteht sie kaum, so leise hat sie gesprochen.
»Kommst du mit, wenn ich zu ihr gehe?«
»Ja, natürlich begleite ich dich.«
»Ich schaff das alles nicht mehr allein. Glaubst du, dass sie mir helfen kann? Ich möchte mein altes Leben zurück!« Klara weint jetzt bitterlich. Margo nimmt sie in die Arme und wiegt sie wie ein Kind.
»Ja, ich bin überzeugt, dass alles wieder gut wird. Aber es liegt an dir, wie offen und ehrlich du mitarbeitest. Soll ich dir einen grünen Tee aufbrühen?«
Klara nickt schniefend. Der Tee wirkt entspannend und Klara beruhigt sich langsam.
»Wo wohnt Marianne?«
»Auf der Insel Reichenau.«
»Die Gemüseinsel im Bodensee?«
»Ja, Marianne besitzt dort ein uriges, altes Fischerhaus direkt am See. Dort ist auch ihre Praxis. Und wir könnten dort wohnen. Sie hat Gästezimmer.«
»Du hast schon mit ihr gesprochen!«, stellt Klara lächelnd fest. Margo errötet.
»Ja, bitte sei mir nicht böse. Ich habe sie heute Vormittag angerufen. Sie würde dich nehmen, aber du musst selbst einen Termin mit ihr ausmachen.«
»Können wir gleich anrufen?« Klara möchte jetzt nicht mehr warten, denn der Leidensdruck ist einfach zu groß geworden.