Читать книгу Sturmzeit auf Island - Susanne Zeitz - Страница 10
KAPITEL 4
ОглавлениеKristin
Kristin hastet zu ihrem Auto. Ihre zittrigen Hände haben Mühe, den Schlüssel ins Zündschloss zu stecken. Kurz darauf fährt sie mit quietschenden Reifen los. Ihr Blick fällt auf den Tacho. Schnell nimmt sie den Fuß vom Gaspedal.
Der Schreck sitzt ihr in den Knochen.
Den ganzen Morgen hatte sie bereits gespürt, dass etwas passieren würde. Etwas Schicksalsträchtiges schwebte schon beim Aufwachen wie ein dunkler Schleier über ihr.
Nachdem der Sozialdienst Carl bei der Morgentoilette geholfen hatte, frühstückten sie zusammen. Wie immer schweigsam, von ein paar kurzen, nichtssagenden Sätzen abgesehen. Anschließend, wie jeden Morgen, lenkte Carl seinen Rollstuhl geschickt durch die geräumige Küche in sein Arbeitszimmer, wo er die nächsten Stunden verbringen würde. Als bekannter isländischer Schriftsteller schrieb er an seinem neuen Roman.
Kristin hätte ihm gern von ihrer dunklen Ahnung erzählt, doch so nahe standen sie sich schon lange nicht mehr, dass sie ihm Einblick in ihr Innenleben gewährt hätte.
Kristin blickte ihm schweigend hinterher. Er sah immer noch gut aus mit seinen lockigen, silbergrauen Haaren.
Sie hatten sich bei einer Vernissage kennengelernt. Kristin erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen.
Riesige Leinwände mit düsteren Farben und wirren Motiven hatten die kleinen Räume der Galerie in eine Höhle verwandelt. Entsprechend war die Luft dumpfig und warm. Die Gäste drängten sich um den Laudator, der mit seinen Lobeshymnen auf den Künstler kein Ende zu finden schien.
Kristin trat unruhig von einem Bein auf das andere und schielte immer öfter zum Ausgang. Warum war sie nur mitgegangen, fragte sie sich, krempelte die Ärmel ihrer Bluse hoch und fächerte sich mit der Einladungskarte frische Luft ins Gesicht.
„Ach komm doch mit. Du kannst nicht jeden Abend deine Nase in irgendwelche Kitschromane stecken. Du versauerst ja langsam. Draußen spielt sich das wahre Leben ab“, hatte ihre Freundin Eva auf Kristins Absage geantwortet. Womit sie Recht hatte. Kristin verbrachte ihre Wochenenden gewöhnlich auf dem Sofa, las und träumte von ihrem Traummann.
„Vielleicht findest du deinen Prinzen ja heute Abend. Bei Vernissagen kannst du interessante Typen kennenlernen“, hatte die Freundin gelockt und sie schließlich überredet.
Kristin musste hier raus. Sofort. Fast panisch bahnte sie sich den Weg zum Ausgang, übersah eine Stufe und fand sich an der Brust eines Mannes wieder, der bis dahin lässig an einer Säule gelehnt hatte. Carl, groß, schlank, längere braune Haare und ein sympathisches Lächeln.
Über Kristins Gesicht huscht ein Lächeln, als sie die Szene wieder vor sich sieht.
Sie verließen gemeinsam die Galerie und Carl lud sie auf ein Glas Rotwein ein. Sie tauschten zwar ihre Telefonnummern aus, doch sie dachte nicht im Traum daran, dass er sich tatsächlich schon am nächsten Tag bei ihr melden würde.
Kristin hatte sich nie etwas vorgemacht. Sie war nicht hübsch. Groß, hager, mit kantigem Gesicht, aschblonden, dünnen Haaren und graugrünen Augen. Welch ein Unterschied zu ihrer Stiefschwester Elin mit ihrer zierlichen Figur, der langen, roten Mähne, den strahlenden grünen Augen, und dem herzförmigen Gesicht.
Das hässliche Entchen neben einem wunderschönen Schwan. So hatte sie sich immer gefühlt.
Und nun war Elin zurückgekommen. In junger Ausführung. Die Vergangenheit ist wieder lebendig geworden.
Hafnarfjördur.
Kristin wäre beinahe an dem Ortsschild vorbeigefahren. Sie drosselt das Tempo und biegt in den Ort ein.
Die Straße führt um größere und kleinere Lavafelsen herum. Elfenwohnungen.
Kristin liebt diesen Ort. Für sie besitzt er etwas Magisches, Geheimnisvolles.
Sie hält vor einem hellblauen Wellblechhaus. Ihre Hände zittern so stark, dass sie Mühe hat, die Haustür aufzuschließen.
Sie wirft ihre Jacke auf einen Stuhl und stürmt in das Zimmer ihres Mannes.
„Carl, ich muss dir was erzählen“, stößt sie atemlos hervor.
Carl, der mit dem Rücken zur Tür sitzt, schrickt zusammen. Unwillig über die Störung dreht er sich zu ihr um.
„Musst du so reinstürmen und mich erschrecken? Was ist denn passiert?“ Er blickt Kristin unwillig an.
„Sie ist wieder da“, keucht sie. „Jetzt kommt das Unglück zurück.“ Kristin beginnt, aufgeregt hin und her zu laufen.
Sie sieht aus wie eine Vogelscheuche, denkt er und versucht, die lieblosen Gedanken zu verdrängen. „Von wem sprichst du denn?“
„Von Elin natürlich, von wem denn sonst.“
„Würdest du dich vielleicht setzen und mir in aller Ruhe erzählen, um was es eigentlich geht?“ Hoffentlich ist sie bald fertig. Er möchte endlich an seinem Kapitel weiterschreiben. Er kämpft seinen Ärger nieder und ringt sich zu einem freundlichen Lächeln durch.
Kristin lässt sich in den schweren Ledersessel vor seinem Schreibtisch fallen. Wann hat sie hier zum letzten Mal gesessen und hat sich von Carl aus einem neuen Kapitel vorlesen lassen? Merkwürdig, dass gerade jetzt dieser Gedanke auftaucht. Sie verscheucht ihn ohne Antwort wie ein lästiges Insekt. Daran ist nur Elin schuld! Kaum ist sie wieder auf der Insel, schon mischt sie sich in ihr Leben ein. „Aber Elin ist doch gar nicht auf Island“, entgegnet ihre innere Stimme leise.
„Elin ist wieder da, das heißt nicht sie selbst, sondern ihre Tochter. Auf jeden Fall sieht sie Elin sehr ähnlich.“
Carl schaut sie an. Seine rechte Augenbraue hebt sich ein wenig.
Kristin spürt, wie Hitze in ihr aufwallt. „Du glaubst mir nicht, das sehe ich dir an!“
„Lass uns nicht streiten, erzähl einfach.“
„Ich habe mich heute mit Anna getroffen, du weißt schon, mit meiner Freundin aus Deutschland.“
Carl nickt und versucht, die Ungeduld zu unterdrücken.
„Wir sind ins Café gegangen und da habe ich sie gesehen. Elin in junger Ausführung. Dieselben roten Haare, die grünen Augen und so weiter. Da gibt es keinen Zweifel! Es muss ihre Tochter sein. Ich habe gedacht, mich trifft der Schlag.“ Kristin holt tief Luft. „Ich habe heute Morgen schon gespürt, dass etwas Dunkles in der Luft liegt.“ Sie fuchtelt wild mit den Händen.
„Hast du sie angesprochen?“
„Was? Spinnst du? Ich will mit Elin und ihrer Brut nichts zu tun haben. Sie hat schließlich unser Leben zerstört. Auf was für Ideen du kommst! Ansprechen, ha!“ Kristin wirft ihrem Mann einen funkelnden Blick zu und schüttelt aufgebracht den Kopf. „Es darf niemand erfahren, dass sie auf der Insel ist. Hörst du? Niemand! Versprich mir das!“ Sie greift über den Schreibtisch nach Carls Arm und drückt ihn fest. Wie muskulös und stark er ist. Eine leise Sehnsucht erfüllt sie.
Carl schüttelt ihre Hand unsanft ab. „Du meinst Steinunn und Soley, nicht wahr?“ Seine Stimme ist schneidend.
Kristin zuckt kurz zusammen, dann richtet sie sich kerzengerade auf. „Genau, die meine ich. Sonst geht alles wieder von vorne los. Sie gehört nicht mehr in unser Leben, hat eigentlich noch nie zu uns gehört.“
„Du machst mich krank mit deiner ewigen Eifersucht und mit deinem Hass auf deine Schwester.“
„Stiefschwester“, korrigiert sie ihn sofort.
„Du hast unser ganzes Leben damit vergiftet.“ Er spricht leise, mehr zu sich selbst: „Und ich kann und mag nicht mehr.“
„Wie meinst du das? Schließlich war sie es, die Unglück über uns alle gebracht hat.“ Ihre Stimme klingt schrill. „Was machst du da?“
Carl antwortet nicht, sondern greift zum Telefon.
„Wen rufst du an?“
Carl schüttelt unwillig den Kopf. „Hallo Soley“, sagt er stattdessen mit seiner ruhigen, dunklen Stimme.“
Kristin macht Anstalten, ihm das Telefon zu entreißen.
„Wage es ja nicht“, zischt er.
„Soley, Kristin hat heute höchstwahrscheinlich Elins Tochter in Reykjavik gesehen.“
Am anderen Ende herrscht für einen Moment Stille.
„Soley, bist du noch dran?“
„Was sagst du da? Ihre Tochter? Kommt sie hierher? Soll ich es Mutter sagen?“ Soley sprudelt wie eine Mineralquelle.
„Wir wissen nicht, wo sie abgestiegen ist, ob sie es überhaupt ist. Kristin hat sie leider nicht angesprochen. Sag also Steinunn noch nichts davon. Sie würde sich nur unnötig aufregen.“
„Sie hat sie einfach gehen lassen, ohne sie anzusprechen?“ Soley ist fassungslos.
„So ist es. Immer das alte Lied“, seufzt Carl.
„Dann werden wir sie also nicht treffen?“ Soley klingt geknickt.
„Ich weiß es nicht, doch ich habe da so eine Idee“, verkündet Carl und zuckt zusammen, als Kristin die Tür hinter sich zuschlägt. Dann weiht er seine Schwägerin in seinen Plan ein.
Kristin lässt sich in ihrem Zimmer schluchzend auf ihr Bett fallen. Angst, Hass, Verunsicherung und Eifersucht erfassen sie wie eine mächtige Welle und tragen sie mit sich fort. Als sie wieder an Land geschwemmt wird, übernimmt die kleine Kristin die Führung.