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KAPITEL 8

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Elin, Konstanz 2017

Elin verlässt als Letzte das Antiquitätengeschäft und schließt die Tür hinter sich ab. Es hat zu regnen begonnen. Ein leichter, freundlicher Sommerregen, der die drückende Hitze wegspült. Elin nimmt einen tiefen Atemzug. Sie ist froh über die Abkühlung. Zum Glück befindet sich ihr Geschäft in der Konstanzer Altstadt. Die gewölbeartigen Räume sind im Sommer angenehm kühl.

Nachdenklich gestimmt, schlendert sie unter ihrem großen Sonnenblumenschirm durch die alten Gassen der Niederburg. Es herrscht viel Betrieb. Sommergäste, Geschäftsleute und Einkaufende bevölkern die Altstadt. Vom nahen Münster sind sieben Schläge der Turmuhr zu hören.

Wie es Julia wohl geht? Ob ihr Island gefällt?

Heute Abend wird sie mit dem Niederschreiben ihrer Geschichte beginnen. Sie hat sich in der Mittagspause ein Heft mit gemustertem Cover gekauft, dazu einen leuchtend roten Kugelschreiber.

„Elin, schön, dass du wieder da bist. Hast du viel Kundschaft gehabt.“ Michael nimmt seine Frau liebevoll in die Arme.

„Stell dir vor, ich habe das Viktorianische Teeservice und den roten Samtsessel verkauft“, platzt sie freudig heraus.

„Wolltest du ihn nicht für dein Atelier?“

Sie nickt. „Bevor er ein Ladenhüter geworden wäre, hätte ich ihn selbst genommen, aber so ist es natürlich besser. Und ich habe einen super Preis erzielt.“

Elin liebt ihren Beruf als Antiquitätenhändlerin und die damit verbundenen Reisen. Sie vermitteln ihr ein Gefühl von Freiheit und Selbständigkeit. Noch dazu läuft der Laden gut. Wenn sie unterwegs ist, hält Karol, ihre Freundin und Partnerin, die Stellung. Sie liebt das Verkaufen und Beraten, während Elin ein sehr gutes Händchen dafür hat, kostbare und teilweise ausgefallene Stücke bei Auktionen, Wohnungsauflösungen und Flohmärkten aufzuspüren.

„Hast du Lust zum Italiener zu gehen?“, fragt Michael hoffnungsvoll und folgt seiner Frau ins Wohnzimmer. „Eine große Pizza mit Meeresfrüchten, ein Glas Rotwein und zum Dessert ein Tiramisu“, schwelgt er und streicht sich lächelnd über den kleinen Bauchansatz. „Beeil dich. Ich habe Hunger.“

„Das hört man. Ich ziehe mich nur kurz um, dann können wir gehen“, meint Elin lachend.

Im Schlafzimmer fällt ihr Blick auf ihr Smartphone, das auf der Kommode liegt. Ach, hier ist es!

Zwei neue Nachrichten von Julia. Die erste erfüllt sie mit Erleichterung. Sie freut sich, dass ihre Tochter sich in Reykjavik wohlfühlt.

Die zweite WhatsApp jagt ihr einen kalten Schauer den Rücken hinunter. Sie hat geahnt, dass die Schatten der Vergangenheit nicht vor Julia Halt machen würden. In einem Café in Reykjavik. Das kann nur ihre Schwester Kristin gewesen sein. Aber immer noch dieser Hass, nach all den Jahren?

Ihr ist plötzlich kalt und die Lust auf einen Besuch beim Italiener gründlich vergangen. Im Bad blickt ihr eine bleiche Elin aus dem Spiegel entgegen. Die grünen Augen hell und ohne Glanz.

Langsam geht sie die Treppe hinunter. Der Elan und die Freude von vorhin sind wie von einer Windböe erfasst und weggeweht. Sie findet Michael im Gartenzimmer.

Er steht in der weit geöffneten Tür und blickt in den Garten, der gierig die Regentropfen aufsaugt. Er scheint so in Gedanken versunken zu sein, dass er auf Elins Kommen nicht reagiert.

Als sie ihn so stehen sieht mit hängenden Schultern und leicht gebeugtem Kopf, erschrickt sie. Er wirkt so traurig und einsam.

„Schatz, was ist mit dir?“ Sie tritt hinter ihn und umfasst ihn mit beiden Armen.

„Ach, ich weiß auch nicht. Stress mit dem neuen Bauherrn. Vielleicht sollte ich langsam an die Rente denken und das Architekturbüro an David übergeben“, sagt er leise.

„Vielleicht ist das gar keine so schlechte Idee.“ Elin streichelt ihm sanft über den Rücken. „Lass uns daheimbleiben. Ich richte uns ein paar Brote und du öffnest eine Flasche Wein. Ich habe sowieso keinen großen Hunger mehr.“

Michael dreht sich zu ihr um. „Was ist los?“ Missmut schwingt in seiner Stimme. „Ich dachte, wir gehen zum Italiener?“

„Ich mache mir Sorgen um Julia. Sie hatte in einem Café in Reykjavik eine sehr unschöne Begegnung mit einer Frau. Ihrer Beschreibung nach könnte es meine Stiefschwester Kristin gewesen sein.“ Kaum ausgesprochen, könnte sie sich auf die Zunge beißen. Unsicher blickt sie ihren Mann an und dreht nervös an ihrem Zopf.

„Deine Stiefschwester? Ich dachte, du hättest keine Familie mehr.“

„Ich habe eine Halbschwester und zwei Stiefgeschwister. Ob meine Mutter und mein Stiefvater noch leben, weiß ich nicht“, flüstert Elin.

„Ich fasse es nicht! Wir sind nun schon so lange verheiratet und du hast mich bis jetzt im Glauben gelassen, dass es auf Island keine Verwandten mehr gibt, dass deine Familie gestorben ist.“ Michael blickt sie ungläubig an. „Du hast mich belogen, die ganze Zeit. Hast mich nie an deinem Leben teilhaben lassen. Immer Schweigen und Geheimnisse. Warum Elin? Warum nur? Ich bin schließlich dein Mann.“ Aufgebracht läuft er mit großen Schritten im Zimmer hin und her. „Das kann einfach nicht wahr sein!“, grollt er.

„Es tut mir leid. Es ist nicht direkt gelogen. Für mich sind sie tatsächlich gestorben, als ich die Insel verlassen habe“, rechtfertigt sie sich leise.

„Das ist doch krank! Man kann nicht einfach seine ganze Familie sterben lassen! Das hat sich auf unser ganzes Leben ausgewirkt. Immer deine Stimmungen, deine Alpträume. Glaubst du, das war und ist für mich einfach? Trösten, ohne zu wissen warum? Ich habe immer gehofft, dass du einmal zu mir kommen und mich ins Vertrauen ziehen würdest. Ich wollte dich nicht bedrängen. Mittlerweile frage ich mich allerdings, auf was wir unsere Ehe überhaupt aufgebaut haben. Vielleicht auf isländischem Lavagestein?“ Michael schüttelt den Kopf und stürmt in den Garten hinaus.

„Michael, bitte! So ist das nicht!“, ruft sie in die Dunkelheit. „Bitte komm wieder rein! Du wirst ja ganz nass. Michael!?“ Elin tritt auf die Terrasse. Das Gartentor steht weit offen. Sie eilt hinter ihm her. Er läuft wie gehetzt den Uferweg entlang.

„Michael, warte auf mich!“, ruft sie und beginnt zu rennen. Ihr Herz klopft wie wild, Panik erfasst sie. Immer wieder verschluckt ihn die Dunkelheit.

„Michael“, schreit sie, „Michael!“ Tränen laufen ihr übers Gesicht und mischen sich mit dem Regen, der kontinuierlich auf sie niederprasselt. Ihr Zopf schlägt schwer hin und her, der Pullover klebt mittlerweile auf ihrer Haut und die Turnschuhe geben bei jedem Schritt klatschende Geräusche von sich.

In jener Nacht hatte es auch geregnet. In einem anderen Leben. Auf Island.

Endlich dreht er sich um.

„Michael. Ich liebe dich!“ Zitternd bleibt Elin vor ihm stehen und streckt die Hand nach ihm aus. Die Distanz zwischen ihnen ist riesengroß.

Elin weicht erschrocken zurück. „Michael, bitte. Mach jetzt nicht alles kaputt“, fleht sie. „Ich werde dir alles erzählen. Es wird keine Geheimnisse mehr geben, das verspreche ich dir.“ Mittlerweile schlottern ihr die Knie. Sie friert bis ins Mark.

„Lass uns gehen“, brummt Michael und nimmt ihren Arm. Schweigend gehen sie nebeneinander her. Kleine Wellen rollen mit einem Plätschern ans dunkle Ufer. Von der Schweizer Seite leuchten die Lichter herüber und zaubern helle Streifen auf den unruhigen See. Mond und Sterne haben sich hinter Wolken versteckt.

Zuhause angekommen, in trockenen Kleidern, treffen sie sich im Wohnzimmer. Elin kuschelt sich mit einer Wolldecke auf die Couch und trinkt in kleinen Schlucken eine heiße Schokolade. Michael sitzt ihr gegenüber in dem großen Ohrensessel, ein Glas Rotwein vor sich. Im Kamin verzehrt ein Feuer knackend die Holzscheite. Tanzende Schatten an der gegenüberliegenden Wand und eine wohlige Wärme zaubern eine heimelige Atmosphäre, die jedoch von den beiden Anwesenden nicht wahrgenommen wird. Ihre Blicke treffen sich. In ihnen spiegeln sich Unsicherheit und Angst, sowie Verletztheit und Ärger.

Elin räuspert sich. „Wo soll ich beginnen? Am besten in meiner Kindheit.“ Sie schließt die Augen. Und mit einem Mal ist es ganz einfach. Ihre Angst verschwindet und die kleine Elin betritt den Raum. Sie nimmt sie mit auf die Reise in ihre Kindheit.

Sturmzeit auf Island

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