Читать книгу Die gigantischen Dinge des Lebens - Susin Nielsen - Страница 10
Оглавление»Ey, Fichs, ist das ’ne halbe Packung Atemfrisch-Kaugummis in deiner Hosentasche oder freut sich Jeremiah bloß so, mich zu sehen?«, brüllte Kertz heute Morgen quer über den Flur, am ersten Tag nach den Weihnachtsferien. Fichs ist eine Abwandlung meines Spitznamens, wie er mir hilfreicherweise erläuterte: »Ist ’ne Kombination aus Wichs und Freak.« Ganz ausgefuchst.
»Du bist lahmer als ein Faultier, Wic… – ich meine, Wilbur! Noch eine Runde«, sagte unser Sportlehrer, Mr Urquhart, in der Sportstunde, denn ja, selbst er kennt meinen unseligen Spitznamen.
»Der Platz ist schon besetzt, Wichs«, sagte Poppy im Englischunterricht; Poppy, die immer nett zu mir gewesen war, bis Tyler, als Willkommensgeschenk in der Oberschule, das Gerücht verbreitete, ich würde gern an den Fahrradsätteln der Mädchen schnüffeln. Also echt. Ich habe noch nie, nicht ein einziges Mal, an einem Fahrradsattel gerochen. Eigentlich an keiner Art von Sitzgelegenheit, wenn ich so darüber nachdenke. Doch einige Mädchen haben ihm geglaubt und weigern sich seitdem, in meiner Nähe zu sitzen.
»Verzeihung, Wichs, dürfte ich mir einen Bleistift ausborgen?«, fragte Jo Lin in Mathe. Das versetzte mir den tiefsten Stich, weil Jo Lin wirklich aufrichtig freundlich ist, zu mir und zu allen Leuten. Sie wollte nicht gemein sein, sie denkt einfach, dass ich so heiße.
Obwohl ich vierzehn bin, haftet mir wie ein übler Geruch ein Brief an, den ich mit elf – elf! – geschrieben habe. Es ist, als hätte sich in all den Jahren nichts verändert. Als hätte ich mich nicht verändert. Ich habe mich aber verändert. Zum Beispiel bin ich jetzt viel größer. Die Mumps hatten recht, ich bekam einen gewaltigen Wachstumsschub. Es ging so schnell, dass sie witzelten, sie könnten meine Knochen knarzen hören. Ich hatte buchstäblich Wachstumsschmerzen. Nun bin ich über einsachtzig groß. Aber meine Körpergröße ist kein Vorteil; ich spiele weder Basketball noch sonst eine Mannschaftssportart, weil ich ein totaler Trampel bin und dazu neige, mich zu ducken, sobald irgendeine Art von Ball in meine Richtung geworfen wird. Außerdem bin ich zwar größer geworden, aber trotzdem immer noch pummelig und weich. Und meine Haare haben so eine komisch drahtartige Struktur; Tyler sagt gern, sie sähen aus wie ein Haufen braune Schamhaare. Und, na ja, außer sie auszureißen kann ich an meinen Glubschaugen nicht viel machen.
Jeremiah ist mit mir mitgewachsen, also, im Verhältnis. Niemand würde ihn für einen Porno oder so was anheuern. Aber er ist durchschnittlich, wie der Mensch, an dem er hängt. Und seine willkürlichen Regungen gehören (weitgehend) der Vergangenheit an.
Was den Rest meiner Liste angeht, so kann ich stolz verkünden, dass ich die Tierschutzwerbung in mindestens vierzig Prozent aller Fälle anschauen kann, ohne zu weinen. Noch besser, ich habe einen tollen Freund – zwei, wenn man Templeton mitzählt –, und eine Zeit lang waren Alex und ich Freunde, aber ich bin mir nicht so sicher, wie da momentan die Lage ist.
Ich schreibe immer noch pausenlos, mittlerweile allerdings hauptsächlich Gedichte; Geschichten über Dinosaurier und das Weltall waren Kinderkram (na gut, ich gestehe: Ich liebe Dinosaurier immer noch, aber mal im Ernst, wer denn bitte nicht?). Und nein, ich habe noch nichts veröffentlicht. Aber ich sage mir, dass mein Leid einen besseren Schriftsteller aus mir machen wird. Gepeinigter Künstler und so.
Hinsichtlich Nummer sieben überrascht es nicht, dass ich da in epischem Ausmaß gescheitert bin. Nie im Leben werde ich vor dem Schulabschluss eine liebe- und einvernehmlich respektvolle Beziehung (© Mumps) haben. Dafür hat Kertz gesorgt. Die Mädchen in meiner Schule beäugen mich misstrauisch, vorsichtig oder mitleidig – manchmal auch alles in einem.
Und acht – ein besserer Mensch werden, mutig sein, blablabla – ja klar. Heutzutage sind meine Ziele sehr viel simpler: einfach bloß den Tag überstehen. Kopf runter, Mund zu. Zieh keine unnötige Aufmerksamkeit auf dich. Wer nichts wagt, gewinnt vielleicht nichts, aber, Achtung, Eilmeldung, verliert vielleicht auch nichts! Ich habe nämlich schon ein paar ziemlich hochwertige Sachen verloren, wie a) meine Würde, b) meine Selbstachtung und c) jegliches Selbstvertrauen, das ich irgendwann mal hatte.
Aktuell mein einziges Ziel: versuchen zu überleben.
Wer bin ich?
Beim Blick in den Spiegel erkenne ich wen?
Mein Bild von mir selbst
oder das, was die anderen seh’n?
Welcher ist echt?
Welcher bloß Schein?
Wichs oder Wilbur? Will am liebsten nur schrei’n.
Wenn im Wald ein Baum fällt,
kracht es laut oder ist nichts vernehmbar?
Wird der Abgestempelte irgendwann sein Stempel?
(tiefgründig, schon klar)
Keine wird mich jemals lieben
als Wichs
Bin Außenseiter oder noch schlimmer
ein Nix.
Einer gehört angeklagt
trägt Schuld an meinen Qualen
Er weiß, wer er ist, doch sein Name bleibt ungesagt
Ich stoß meinen Quäler, im Traum oder Wahn,
in eines seelensaugenden Dementors Bahn
Und wenn ich ihn vor eine Dampfwalze bugsiere
bleibt nichts weiter übrig als klebrige Schmiere.
von Wilbur Hernandez-Schott