Читать книгу Die gigantischen Dinge des Lebens - Susin Nielsen - Страница 11
Оглавление»Erzähl doch mal von deiner ersten Schulwoche nach den Ferien«, sagte Sal am Samstagmorgen zu mir. Wir standen vor unseren benachbarten Schließfächern in der Umkleide des jüdischen Gemeindezentrums und zogen uns aus. Ich tat mein Bestes, um nicht hinzugucken, weil a) Starren sehr unhöflich und b) Sal »fünfundachtzig Jahre jung« ist und somit sehr, sehr viele Falten hat, und zwar am ganzen Körper.
»War ganz okay«, erwiderte ich. »Die Trudeau-Tonartisten haben viel geprobt. Mr P will, dass wir gut sind, wenn unsere Gäste kommen.« Der Leiter unserer Band, Mr Papadopoulos, war den Sommer über bei einer Schulorchesterkonferenz gewesen und hatte eine Dirigentin aus Paris kennengelernt. Es ging das Gerücht um, sie hätten richtig viel S-E-X gehabt und einen Schüleraustausch ausgeklügelt, damit sie einander wiedersehen konnten. Am Montag sollte das französische Orchester ankommen. »Wir haben die Namen der Leute gekriegt, die bei uns übernachten«, erzählte ich. »Meiner heißt Charlie Bourget.«
»Charlie klingt nicht sehr französisch.«
»Genau, finde ich auch! Ich hatte einen Yves erwartet, oder einen Jaques.« Unter dem Schutzmantel eines Handtuchs zog ich meine rote Badehose an. Ich habe nicht den Körper für eine Badehose; viel lieber würde ich sackartige Badeshorts tragen; aber Sal hat mir die Badehose zum Geburtstag geschenkt, und wer bin ich denn, dass ich meinen besten Freund beleidigen würde?
Er hielt sich an meinem Arm fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und wir zogen los, langsam, aber stetig. Eigentlich hatte ich in diesem Kurs gar nichts zu suchen, frühestens in ungefähr fünfzig Jahren, doch Sal benötigte meine Hilfe im Umkleideraum, also wurde eine Ausnahme gemacht.
Mup stand schon am Becken, ihre schwarzen Locken steckten unter einer Badekappe, ihr kräftiger Körper in einem marineblauen Badeanzug. Die anderen, die am Kurs teilnahmen – alles Frauen, alle weit über sechzig –, umringten sie. Dies ist einer von ihren drei Teilzeitjobs, und ich bin ziemlich sicher, dass sie den am meisten mag.
Als die Damen uns erblickten, fingen sie an zu grinsen. »Unsere Jungens sind da!«, sagte Ruth Gimbel. Da wir die einzigen Männer im Kurs sind, behandeln sie Sal und mich wie Rockstars. Die Damen kneifen mich in die Wangen, wuscheln mir durchs krause Haar und bringen mir hausgemachtes Gebäck mit, was echt klasse ist.
Doch wenn ich also quasi der Schlagzeuger der Band bin, dann ist Sal der Frontsänger und Mädchenschwarm. Die Damen lieben ihn. Mindestens vier von ihnen, einschließlich Ruth, flirten mit ihm, weil sie wissen, dass er Witwer ist und darüber hinaus einfach ein beeindruckender Mensch.
Mup schaltete die Musik ein. »So, alle miteinander, ab ins Wasser!«
Sal und ich hüpften ins Becken. In der folgenden Stunde ging ich auf eine Art und Weise aus mir raus wie sonst nirgendwo. Ich schleuderte die Arme hoch, schüttelte verwegen meine Schultern und tanzte unter Wasser Cancan.
Aquagymnastik für alle ab 60+ zählt definitiv zu den Höhepunkten meiner Woche.
Mup musste noch weitere Kurse geben, also liefen Sal und ich hinterher sehr langsam zum Royal Ontario Museum, das nur ein paar Straßen entfernt lag. (Sal schenkt mir jedes Jahr zu Weihnachten eine Junior-Mitgliedschaft und ich ihm jedes Jahr zu Chanukka eine Senioren-Mitgliedschaft.) Sal spähte in seine Leinentasche. »Was hast du heute erbeutet?«
»Nanaimo-Riegel und Kekse mit Schokostückchen von den Zwillingen«, sagte ich. »Und du?«
»Dasselbe. Und noch einen ganzen Schokoladen-Babka von Ruth.«
»Sie steht so was von auf dich.«
»Da gebe ich dir nicht Unrecht. Aber es ist noch zu früh.«
»Irmas Tod ist drei Jahre her.« Ich hatte Sals Frau nie kennengelernt; sie war gestorben, bevor wir einzogen, aber ich wusste, dass sie ihm noch immer sehr fehlte.
»Genau. Zu früh. Und außerdem, wenn du die Wahrheit hören willst, Ruth grabscht ganz gern mal. Heute im Becken hat sie mir drei Mal an meinen Derrière* gefasst.«
»Woa. Dreist.«
»Seh ich genauso.«
Wir betraten das Museum und liefen ohne Umwege zu Fulton, so nennen wir das riesige Dinosaurierskelett, das das gesamte Foyer beherrscht. Unsere gemeinsame Begeisterung für alles, was mit Dinosauriern zu tun hat, gehörte zu den Dingen, die uns von Anfang an verbanden. Er lieh mir ein paar Bücher, und ich las ihm die Geschichten vor, die ich über einen freundlichen, aber scheuen Tyrannosaurus Rex mit dem recht einfallslosen Namen Tex geschrieben hatte.
Fulton ist kein Tyrannosaurus; er ist die Nachbildung eines Futalognkosaurus, der vor Urzeiten Südamerika durchstreift hat. Er ist riesig. Seine Füße stehen auf zwei Metallklötzen mit ein paar Metern Abstand dazwischen.
Wir legten uns, die Hände unterm Kopf, auf den Boden. Wir blickten nach oben und betrachteten Fultons Knochen. Das ist eine von Sals Lieblingsbeschäftigungen. »Stell dir mal vor, diese Lebewesen sind vor Millionen und Abermillionen von Jahren auf ebendiesem Planeten herumgelaufen! Das ist unglaublich. Unser Leben ist bloß ein Fliegenschiss. Gigantisch! Aber nichtsdestotrotz ein Fliegenschiss!«, sagt er gerne. »Was ist das Leben doch für ein Wunderwerk!« Sal steckt in dieser Hinsicht voller Weisheit; einen besten Freund zu haben, der einundsiebzig Jahre älter ist als ich, ist ein Geschenk.
»Hast du dich mit Alex fürs Wochenende verabredet?«, fragte er, während wir Fultons wuchtigen Brustkorb anstarrten.
»Nein. Ich hab’s versucht, aber … er hatte schon was vor.«
»Der Freund?«
Ich nickte.
»Ah. Sehr schade. Manche Leute drehen ein bisschen durch, wenn sie sich in den ersten Zügen einer Romanze befinden.«
»Ist schon okay. Dafür kann ich mehr Zeit mit dir verbringen.«
»Du brauchst auch gleichaltrige Freunde, Wilbur. Ich habe Freunde in meinem Alter.«
»Sal. Wilbur.« José, die Samstagsaufsicht, türmte sich über uns auf. Seine Uniform spannte über seinen Muskeln. »Ihr wisst, was jetzt kommt.«
Sal und ich sagten einstimmig: »Ihr könnt hier nicht auf dem Boden liegen. Ihr gefährdet euch und andere.« José ergriff Sals ausgestreckte Hand und half ihm hoch. Er reichte Sal seinen Filzhut.
»Ich hab was zum Naschen für dich, José.« Sal griff in seine Tragetasche und gab José eine seiner Tüten mit Süßigkeiten.
Josés Augen leuchteten auf. »Nanaimo-Riegel. Danke, Sal.«
Per U-Bahn und Tram fuhren wir zurück zu Sals Haus, das direkt neben unserem steht und zu einer Reihe von schmalen Backsteinreihenhäusern in Kensington Market gehört. Einige sind in knalligen Farben gestrichen, unseres zum Beispiel in Mauve. Seines hat noch die ursprüngliche Backsteinfarbe. Innen sind unsere Häuser im Grundriss gespiegelt, aber da hören die Ähnlichkeiten auch schon auf: Das Haus meiner Familie ist vollgestopft mit Zeug, das Mum in Kleinanzeigen oder bei privaten Flohmärkten gefunden hat; Sals Haus ist voll mit Antiquitäten.
Traditionsgemäß machte er uns zum Mittagessen Grillkäse-Sandwiches mit eingelegten Gurken. Das lag daran, dass wir beide Grillkäse lieben und dass Sal außerdem seit Jahren in Rente ist und mit wenig Geld auskommen muss; ich weiß zufällig, dass er sehr oft Grillkäse, Ramennudeln und Suppe aus verbeulten Dosen isst.
Um halb eins brachte er mich zur Tür. »Hier, nimm noch was von dem Babka für unterwegs mit.« Er reichte mir zwei dicke Scheiben in einem Frischhaltebeutel.
Ich verabschiedete mich und lief zur Sandwich Station in der Queen Street West. Während der Weihnachtsferien hatte mich der Eigentümer, Mr Chernov, vom Sandwich Creation Profi zum Sandwich Creation Expert befördert. Das ging nicht mit einer Gehaltserhöhung einher, aber Mr Chernov erinnerte mich daran, dass es mehr Verantwortung bedeutete, also ist das wohl angemessen, nehme ich an. Da Mr Chernov selten da war – er war Chef von drei Restaurants, die zu einer Kette gehörten –, war ich streng genommen der Vorgesetzte der anderen Angestellten, aber ich bin nicht ganz sicher, ob diese Info zu ihnen durchgedrungen ist.
»Dmitri, du bist dran mit den Toiletten«, sagte ich kurz nach Beginn unserer Schicht. Dmitri ist neu, klein und drahtig und hat eine Igelfrisur. Er ist ungefähr in meinem Alter und außerdem das, was ich als schwierigen Angestellten bezeichnen würde.
Er schrieb gerade Textnachrichten und reagierte nicht.
»Dmitri. Du weißt, die Toiletten müssen einmal pro Stunde überprüft und geputzt werden.«
»Sorry, Dilbert, geht nicht«, sagte er, ohne aufzuschauen.
»Wilbur«, sagte ich. »Wieso nicht?«
»Gesundheitliche Gründe. Ich hab Psoriafungalitis.«
Ich sah ihn verständnislos an.
»Hautkrankheit. Ich darf keine starken Putzmittel benutzen, sonst krieg ich einen superekligen Ausschlag.«
Ich wusste, ich konnte ihn schlecht zu etwas nötigen, wozu er aus medizinischer Sicht nicht in der Lage war – selbstverständlich hatte ich die achtzigseitige Dienstvorschrift gelesen –, also putzte ich die Toiletten selbst. Ich weiß nicht, ob das nur in unserem Laden vorkommt oder ob es ein weit verbreitetes Phänomen ist, aber es gibt eine Menge Leute, die entweder nicht begreifen, wie man spült, oder die sich einfach nicht die Mühe machen zu spülen.
Während Dmitris Pause kam Mitzi zu mir. Sie ist ungefähr in meinem Alter, ein oder zwei Jahre jünger, hat eine kräftige Statur, lange rote Haare und eine Hornbrille. »Dir ist schon klar, dass er sich das ausgedacht hat.«
»Psoriafungalitis? Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass es das wirklich gibt.«
Mitzi holte ihr Handy raus und tippte das Wort ein. Sie hielt es mir vor die Nase. »Nee.«
»Oh.«
Wir standen rum und lauschten eine Weile der Fahrstuhlmusik. Sie begutachtete ihr Spiegelbild im Fenster. »Wer um Himmels willen hat diese Uniformen entworfen? Pikachu?«
Unsere Uniformen sehen abscheulich aus – einteilige bananengelbe Anzüge mit Reißverschluss aus billigem Polyester. Ich nehme an, sie sollen zu den billig wirkenden gelben Plastiktischen und -stühlen passen, die auf dem Boden festgeschraubt sind.
»Also, ich finde ja, du siehst damit ziemlich gut aus«, sagte ich. »Wie Sigourney Weaver in Alien. Oder Uma Thurman in Kill Bill.«
»So irgendwie knallhart?«
»Auf jeden Fall.«
Das bescherte mir ein seltenes Lächeln; meistens sieht Mitzi verächtlich und gelangweilt aus. Keine Ahnung, was sie von mir hält.
Wenn ich ganz ehrlich bin: Ich finde sie ziemlich Furcht einflößend.
Während unserer Schicht arbeiteten Mitzi und ich ununterbrochen, anders als Dmitri, der immer wieder für längere Zeit nach hinten verschwand. Er verließ den Laden fünfzehn Minuten, bevor seine Arbeitszeit offiziell zu Ende war.
Um sechs Uhr übernahmen George und Deepak. Da es schon dunkel war, begleitete ich Mitzi nach Hause. »Musst du echt nicht machen«, sagte sie. »Ich habe den blauen Gürtel in Karate. Ich könnte einen Typen plattmachen, der doppelt so groß ist wie du, und zwar sehr viel müheloser, als du es je fertigbringen würdest, nimm’s mir nicht übel.«
»Ich nehm’s dir nicht übel. Und ich glaube dir. Aber es liegt ohnehin auf meinem Weg.«
Sie wohnt in der Shaw Street, und da wir zu zweit waren, nahmen wir eine Abkürzung durch den Trinity-Bell-woods-Park.
»Ich glaube, Franklin ist krank«, erzählte sie. Ich brauchte kurz, um mich daran zu erinnern, dass Franklin ihre Schildkröte war. »Er wird langsamer.«
»Aber benimmt er sich dann nicht einfach wie … eine Schildkröte?«
»Glaub mir, ich erkenne den Unterschied. Franklin und ich sind unzertrennlich.«
Ich brachte sie bis zu ihrem Haus. »Na, ich hoffe, er kommt bald wieder in die Gänge«, sagte ich. »Und denk dran, ich werde jetzt eine Woche nicht arbeiten.«
»Ach, stimmt. Dein Austauschschüler. Hoffe, das wird gut.«
Mitzi drehte eine Pirouette, winkte mir zum Abschied zu und lief die Einfahrt hinauf.
Sie ist ein von Rätseln umwobenes Mysterium.
Als ich unsere Haustür öffnete, empfingen mich ein Schwall warmer Luft, Kulturradio und Templeton, der auf seinen kurzen Beinchen mit begeistert fiependem Gebell in den Flur trippelte. »Wo ist mein braver Kleiner?«, rief ich mit Babystimme. »Wo ist mein braver, süßer Kleiner?« Ich nahm ihn hoch. Angriffslustig leckte er mein Gesicht ab.
Wir liefen in die Küche. Unter dem Spülbecken schauten Mups Beine hervor. Sie sagt gern: »Wenn’s hart auf hart kommt, legen die Harten erst richtig los.« Das hat sie gemacht, seit sie entlassen wurde. Zusätzlich zu ihren drei Teilzeitjobs beschloss sie, Reparaturen eben selbst zu erledigen, wenn wir uns einen Handwerker nicht leisten konnten. Sie schaut sich Videoanleitungen zu allen möglichen Themen an, vom Verputzen bis hin zu einfachen Klempnerarbeiten; sie hat sich alles selber beigebracht. Aber sie ist auch nur eine einzelne Frau und lebt mit zwei Individuen mit räumlicher und handwerklicher Behinderung zusammen, also geht das Reparieren langsam vonstatten.
Gerade setzte ich Templeton ab, als Mup mit triumphierendem Grinsen unter der Spüle hervorgekrochen kam. »Hab die undichte Stelle repariert. Ich koche gleich Abendessen – Pfui. Wil.« Mup deutete auf Templeton. Er robbte mit den Vorderbeinen durchs Zimmer und schleifte seinen Hintern übers Linoleum. »Du weißt, was das heißt.«
Wusste ich. »Muss das jetzt sofort sein?«
»Er hinterlässt Kackspuren auf dem Boden. Und du weißt, worauf wir uns geeinigt haben. Du bist seine …«
»Hauptverantwortliche Betreuungsperson. Ich weiß.« Das hatten mir die Mumps eingetrichtert, als ich ihn adoptieren durfte. Ich nahm ihn wieder hoch und hielt ihn diesmal etwas mehr auf Abstand. »Du hast Glück, dass ich dich so lieb habe«, flüsterte ich in sein gutes Ohr. Dann trug ich ihn nach oben, um mein Werk zu verrichten.
Als ich fertig war, ging ich mit Templeton vor dem Abendessen in dem winzigen Park unseres Viertels noch eine schnelle Runde Gassi. Die Mauern auf beiden Seiten waren mit bunten Wandgemälden und Graffiti bedeckt. Lloyd, der einen Imbiss mit Teigtaschen nach jamaikanischer Art betreibt, und Viktor, dem der Käseladen gehört, saßen in Anoraks auf ihrer Lieblingsbank und rauchten einen Joint. Sie gehören zum Inventar des Parks, egal, welches Wetter herrscht oder wie spät es ist. Wir grüßten einander. Lloyd fügte hinzu: »So’n Gesicht kann nur eine Mutter lieben.« Ich war nicht ganz sicher, ob er Templeton oder mich meinte.
Als wir zurück nach Hause kamen, war Mum ebenfalls in der Küche und deckte den Tisch. Sie trug einen Hosenanzug und hatte ihr langes, dunkles Haar auf dem Kopf aufgetürmt. Meine Mütter sind schöne Frauen: Carmen ist klein und hat eine Rubensfigur und üppige schwarze Locken; Norah ist groß und schlank und hat langes, kastanienfarbenes Haar und unglaubliche Wangenknochen. Ich erwähne das nur, weil es mir ein Rätsel ist, wie Mum so einen Gnom wie mich auf die Welt bringen konnte. Vor allem, weil das Profil des Spenders besagte, er sei ein gut aussehender Mann mit Harvard-Abschluss, der es beinahe in die olympische Rudermannschaft geschafft habe …
Ich glaube eher, er war ein sehr guter Lügner, der sein Sperma gespendet hatte, weil er die Kohle brauchte.
Mup stellte Schüsseln mit Grünkohl-und-weiße-Bohnen-Suppe auf unseren kleinen Resopaltisch. Sie kocht an den Tagen, an denen sie als Erste nach Hause kommt, und das sind die wirklich guten Tage, weil sie sehr viel besser kochen kann als Mum, aber das behalten wir für uns, denn Mum hört das gar nicht gerne.
Abwechselnd berichteten wir, wie unser Tag gelaufen war. Das ist eine Hernandez-Schott-Familientradition. Als Mum an der Reihe war, sagte sie: »Heute war ich in einer Restaurantszene im Hintergrund. Ich sollte so tun, als sei ich in einen alten Knacker verliebt. Der war bestimmt dreißig Jahre älter als ich. Es war unfassbar öde.« Nachdem sich Wo ein Wolf ist erledigt hatte, war es auch mit Mums Schauspielkarriere vorbei. Aber ebenso wie Carmen ist auch Norah einfallsreich. Sie beschloss, dass keine Rolle zu klein ist, und nimmt jetzt viele Jobs als Statistin an. Außerdem hat sie ein gutes Auge für Trödel bei privaten Flohmärkten; sie putzt die Sachen oder arbeitet sie auf und verkauft sie dann mit Gewinn weiter.
Ich schlürfte den letzten Rest Suppe. »Ich glaube, ich habe noch gar nicht erwähnt«, sagte ich, genau wissend, dass ich es bisher unterlassen hatte, »dass Mr Papadopoulos die Anzahlung für die Austauschfahrt bis Freitag braucht.« Das französische Schulorchester kam nicht nur zu uns; im April sollten wir sie dann in Paris besuchen. Deshalb heißt es vermutlich Austausch. Der Elternbeirat finanzierte einen Teil der Kosten, aber für das meiste mussten wir selbst aufkommen.
Die Mumps warfen einander Blicke zu. »Wie viel?«
»Vierhundert Dollar«, sagte ich. »Insgesamt tausendsechshundert.«
Ich hörte, wie sie unisono nach Luft schnappten. Mum beschäftigte sich damit, eine der vielen Retro-Keksdosen herunterzuholen, die auf den Küchenschränken aufgereiht stehen.
»Ich habe lange überlegt«, sagte ich. »Ich muss nicht nach Paris. Ich glaube eh nicht, dass es mir besonders viel Spaß machen wird.«
»Wieso in aller Welt denn nicht?«, fragte Mup.
»Andere Sprache, anderes Essen, andere Kultur …« Ich verzog das Gesicht.
»Stimmt, du magst keine Veränderungen«, sagte Mum. Sie nahm ein paar selbst gebackene Kürbiskekse aus der pilzförmigen roten Dose mit den weißen Punkten und wandte sich zu Mup um. »Als er kleiner war, wollte er nicht mal bei Stewart übernachten, weil er lieber in seinem eigenen Bett schläft. Mehr als einmal mussten wir mitten in der Nacht bis nach North Shore fahren, um ihn abzuholen, weißt du noch?«
»Aber genau deswegen sollte er fahren. Er muss mal raus aus seiner Komfortzone.«
»Irgendwann schon, ja«, sagte Mum. »Aber es ist viel Geld. Und Paris wird es auch noch geben, wenn er älter ist und vielleicht ein wenig … abenteuerlustiger?«
Manchmal machten sie das, sie sprachen über mich in der dritten Person, als sei ich nicht da.
Mup drehte sich zu mir um. »Hast du was von deinem Gehalt gespart?«
»Ein bisschen. Nicht so viel, wie ich gehofft hatte.«
»Nun, es ist eine einmalige Gelegenheit. Die Anzahlung kriegen wir hin. Ich übernehme noch ein paar zusätzliche Taxifahrten.« Taxifahren ist Mups zweiter von drei Jobs. »Heute Abend stelle ich den Scheck aus. Gib ihn deinem Lehrer aber nicht vor Donnerstag; bis dahin sollte das Geld da sein.« Mum machte einen Schmollmund, sagte aber nichts. »Und wenn wir gerade dabei sind, ich setze mich gleich noch ein paar Stunden hinters Steuer.« Mup gab uns beiden einen Kuss und ging.
Nach dem Abwasch ließ Mum mich einen Film aus unserer riesigen DVD-Sammlung aussuchen; die kriegt sie bei Flohmärkten fast für umsonst. Ich entschied mich für unser Lieblingsmusical, West Side Story. Wir kuschelten uns aufs Sofa. Templeton saß auf meinem Schoß. Doch selbst als wir bei Hey, Inspektor Krupke mitsangen, musste ich gegen das Gefühl von Einsamkeit ankämpfen, das sich in mir breitmachte.
Samstagabends war ich immer zu Hause, zusammen mit einer Mutter oder beiden und meinem Hund. Sogar Sal hatte samstags eine feste Verabredung zum Doppelkopfspielen mit ein paar seiner angemessen gleichaltrigen Freunde.
»Freust du dich schon auf deinen Austauschschüler?«, fragte Mum bei Ein Kerl wie der.
»Ja.« Ich hielt inne. »Ich hoffe bloß …«
»Was?«
»Ich hoffe bloß, dass Charlie Toronto mögen wird.«
»Natürlich wird es ihm gefallen. Wieso denn auch nicht?«
Ich traute mich nicht auszusprechen, was ich wirklich dachte, nämlich:
»Ich hoffe, dass Charlie mich mögen wird.«
* Französische Wörter oder Sätze, die sich nicht aus dem Zusammenhang erschließen lassen, werden auf Seite 276 f. erklärt.