Читать книгу Die gigantischen Dinge des Lebens - Susin Nielsen - Страница 6
ОглавлениеDie Mumps glauben, dass es im Leben eine Handvoll entscheidender Momente gibt.
Auf Platz eins ihrer entscheidenden Momente rangiert der Abend, als sie sich das erste Mal trafen, vor sechzehn Jahren, bei einer Filmvorführung der Rocky Horror Picture Show in Vancouver. Soeben hatte Dr. Frank N. Furter verkündet: »Einen Toast!« Mum warf ihre Scheibe Toastbrot in Richtung Leinwand und traf Mup am Hinterkopf. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte. Seitdem sind sie wie verrückt ineinander verliebt. Es gibt ein Happy End, und wir sind uns wohl alle einig, dass das die besten Geschichten sind.
Mein entscheidender Moment ersten Ranges hat kein Happy End.
Im Grunde ist er noch nicht einmal vorbei.
Der fragliche Augenblick trat vor zweieinhalb Jahren ein, an meinem ersten Tag in der siebten Klasse. Wir waren vor Kurzem nach Toronto gezogen, ich ging also auf eine neue Schule.
Ach ja, es war auch meine erste Schule überhaupt.
Abgesehen von ein paar desaströsen Wochen im Kindergarten war ich mein ganzes Leben lang zu Hause unterrichtet worden. Doch als wir von Vancouver nach Toronto zogen, fassten wir einen Familienbeschluss: Es war an der Zeit, Schulunterricht und soziale Kontakte zu bekommen, in einem richtigen, echten Haus aus Stein mit richtigen, echten Kindern aus Fleisch und Blut.
Mum und Mup – gemeinhin bekannt als die Mumps – begleiteten mich an diesem ersten Septembermorgen zur Pierre-Elliott-Trudeau-Mittelschule. Sie umarmten und küssten mich und ich weinte ein bisschen, während all die Kinder an mir vorbeiströmten, was, wenn ich jetzt so darüber nachdenke, vielleicht nicht der optimalste Anblick war.
Was mir vom ersten Betreten dieses massiven Gebäudes aus rotem Ziegelstein vor allem im Gedächtnis geblieben ist: der Lärm. Natürlich hatte ich schon mit anderen Kindern zu tun gehabt; es hatte regelmäßig Ausflüge und Treffen mit Kindern gegeben, die auch zu Hause unterrichtet wurden. Aber da reden wir über maximal zehn bis fünfzehn Kinder. Die Flure dieser Schule waren vollgestopft mit Hunderten von Kindern, die schrien, lachten, Schließfachtüren zuknallten und herumrannten, obwohl es Schilder gab, die ihnen nahelegten, langsam zu gehen. Am liebsten hätte ich auf der Stelle kehrtgemacht und wäre wieder rausmarschiert. Doch dann fiel mir ein, was Mup am Abend zuvor gesagt hatte, als ich nicht einschlafen konnte. »Denk dran, Wil: Jeder Anfang bringt neue Erfahrungen mit sich.«
Also lief ich weiter.
Meine Achseln trieften vor Angstschweiß, als ich schließlich am Klassenzimmer ankam. Unser Lehrer, Mr Markowitz, stand an seinem Pult. Ich habe ihn noch vor Augen, in seinem braunen Anzug mit den schuppenbeschneiten Schultern. Er stellte uns eine Aufgabe: »Schreibt euch selbst einen Brief. Erläutert, wer ihr zum jetzigen Zeitpunkt seid. Dann fertigt eine Liste mit Zielen an, die ihr bis zu eurem Schulabschluss erreicht haben wollt. Steckt den Brief in den Umschlag, den ihr bekommen habt, schreibt euren Namen vorne drauf und klebt ihn zu. Die Briefe werden in der Zeitkapsel der Schule eingeschlossen. Und denkt daran«, fuhr er fort, »ihr könnt absolut ehrlich sein. Diesen Brief liest niemand außer euch. In sechs Jahren bekommt ihr ihn zur Zeugnisübergabe ungeöffnet zurück.«
Ich war fest entschlossen, exakt das zu tun, was man mir gesagt hatte.
Also war ich ganz und gar ehrlich.
Nach dem Unterricht trug Mr Markowitz die zugeklebten Umschläge zur Zeitkapsel, die überhaupt keine echte Zeitkapsel war, sondern der Safe im Büro des Direktors. Es war nicht weit von unserem Klassenzimmer, die Treppe runter und dann links. Doch am Treppenabsatz blieb Mr Markowitz einer zuverlässigen Augenzeugin zufolge stehen, um sich am Sack zu kratzen.
Das klang glaubwürdig, denn Mr Markowitz kratzte sich, wie wir in diesem Jahr feststellen sollten, ziemlich oft am Sack. Er machte das derart häufig, dass das Gerücht umging, er habe Filzläuse.
Während er sich also kratzte, flatterte ein Brief, ungesehen, zu Boden.
Meiner.
Zeitkapselbrief, Abschlussklasse 2026
Name: Wilbur Cézar Hernandez-Schott
Alter: 113/4
Beschreibe dich selbst, wie du heute bist: Ich bin 1,62 Meter groß. Farah, eine Freundin aus Vancouver, die auch zu Hause unterrichtet wurde, meinte, ich könnte den jungen Marty Feldman spielen, falls je ein Film über sein Leben gedreht werden sollte, was ich für ein Kompliment hielt, bis ich FRANKENSTEIN JUNIOR sah. Farah verpasste mir auch den Spitznamen ›Schwabbelsuse‹, weil ich a) pummelig bin und b) oft weine. Die Mumps beharren darauf, dass es sich a) um Babyspeck handelt und ich bald einen Wachstumsschub haben werde und dass es b) keinen Grund gibt, sich für Tränen zu schämen, und die Welt mehr sensible Männer braucht. Sie behaupten auch, mein Aussehen würde sich noch verwachsen. Ich hoffe, sie haben recht.
Außerdem hoffe ich, dass dann auch Jeremiah mit mir mitwächst, denn aktuell ist er in etwa so groß wie eine Kaulquappe. Und ich hoffe, dass ich lerne, ihn besser zu kontrollieren, denn seit Kurzem rührt er sich in den peinlichsten Momenten und völlig ohne Grund. Jetzt gerade zum Beispiel. Ich musste mir ein Schulbuch auf den Schoß legen.
Was kann ich sonst noch über mich sagen? Wenn ich mal groß bin, will ich Schriftsteller werden. Ich schreibe viel! Hauptsächlich Kurzgeschichten über Dinosaurier und das Weltall. Ich kann mich echt voll in meinen Fantasiewelten verlieren, was super ist, weil wir erst vor einem Monat nach Toronto gezogen sind und ich genau null Freunde habe! Ich hätte so schrecklich gerne ein Haustier, aber die Mumps sagen, ich muss warten. In Vancouver hatte ich eine Katze namens Zimtschnute, aber eines Tages kam sie nicht mehr nach Hause. Die Mumps meinten, sie habe bestimmt eine andere Familie gefunden.
Farah meinte, sie sei bestimmt von einem Kojoten gefressen worden.
Ziele, die du bis zu deinem Schulabschluss erreicht haben möchtest:
1. Größer sein.
2. Einen größeren Jeremiah haben.
3. Jeremiah kontrollieren können.
4. Weniger weinen! Es mag ja positiv sein, wenn Männer ihre Gefühle zeigen, aber falls ich noch ein einziges Mal bei dieser Werbung von der Tierschutzorganisation mit dem Lied von Sarah McLachlan weine, haue ich mich selber – wenn ich bloß daran denke, kommen mir schon wieder die Tränen.
5. Freunde finden! In Vancouver hatte ich nicht gerade viele Freunde, außer Stewart Inkster und ab und an jemand, der auch zu Hause unterrichtet wurde, wie Farah. Die Mumps sagen immer wieder, SIE seien meine Freundinnen, aber sie sind halt auch meine Mütter, ich bin also nicht sicher, ob das zählt.
6. Meine Texte veröffentlichen! Mir ist schon klar, dass das bis zum Schulabschluss eher unwahrscheinlich ist, und mir ist auch klar, dass man als kunstschaffender Mensch eine gewisse Anzahl von Rückschlägen einstecken muss, aber wie Mup zu sagen pflegt: »Am Anfang jedes Traums steht ein Träumer.«
7. Eine liebe- und einvernehmlich respektvolle Beziehung (© Mumps) mit einem besonderen Mädchen haben. Mich verlieben! (Und vielleicht, aber nur VIELLEICHT darf ich, wenn wir dann so richtig verliebt sind, mal ihren Vorbau anfassen. Natürlich nur mit ihrer enthusiastischen Zustimmung (© Mumps)!
8. Und schließlich und endlich: ein besserer Mensch sein. Nicht dauernd so ängstlich sein. Offener für neue Sachen. Was riskieren. Selbstbewusst und mutig sein.
Mup sagt immer: »Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!«
Gezeichnet
Wilbur Cézar Hernandez-Schott