Читать книгу Die gigantischen Dinge des Lebens - Susin Nielsen - Страница 7

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Am nächsten Tag in der Schule dachte ich zunächst, ich spinne. Ganz bestimmt starrten mich nicht alle an.

Ich spann nicht.

Jemand hatte meinen Brief geöffnet – meinen persönlichen, privaten Brief – und abfotografiert. Dann hatte dieser Jemand ihn auf sämtlichen der Menschheit bekannten Social-Media-Kanälen gepostet, wo er kommentiert und mit jeglichen Leuten an meiner Schule und darüber hinaus geteilt wurde.

Gegen zehn Uhr vormittags versteckte ich mich im Schulkrankenzimmer und heulte erbärmlicher als bei der Tierschutzwerbung.

Gegen elf Uhr vormittags waren die Mumps zu einer Krisensitzung einberufen worden. Die Direktorin hatte wohl beschlossen, dass meine Schmach ohnehin nicht mehr zu überbieten war, denn sie gab ihnen meinen Brief auf ihrem Handy zu lesen. Sie versicherte ihnen, die Schule würde die Schuldigen finden und zur Verantwortung ziehen.

Auf der Heimfahrt weinte ich immer noch, deshalb setzte sich Mum zu mir nach hinten und hielt meine Hand. Sie war direkt vom Dreh zu Wo ein Wolf ist gekommen und hatte noch das komplette Spezialeffekt-Make-up drauf; ihre Hand war sehr haarig. »Das ist kein Weltuntergang, Nüsschen. So fühlt es sich jetzt vielleicht an, aber du wirst gestärkt daraus hervorgehen.«

»Mum hat recht«, antwortete Mup und guckte mich im Rückspiegel unseres neuen Autos an. »Was dich nicht umbringt, macht dich härter.«

Ich seufzte. Mum zog mich an sich und ich spürte ihre pelzigen Wangen. »Wenn du mich fragst, ich fand den Brief ganz großartig. Ehrlich und auf den Punkt gebracht.«

»Und du kannst sicher sein, in deiner Klasse gibt es keinen einzigen Jungen, der nicht schon die Demütigung einer spontanen Erektion durchgemacht hat«, ergänzte Mup von vorne, und ich versank noch tiefer in meinem Sitz.

Mum strich mir übers Haar. »Ein klitzekleines Hühnchen haben wir aber noch mit dir zu rupfen, Nüsschen.«

O nein.

»Musstest du wirklich das Wort Vorbau gebrauchen? Wir haben uns doch so bemüht, dir die anatomisch korrekten Bezeichnungen für Körperteile beizubringen.«

»Selbiges gilt auch für Jeremiah. Das war süß, als du noch klein warst, aber ich bin nicht sicher, ob es immer noch altersgerecht oder gesund ist, deinen Penis zu vermenschlichen.« Mup seufzte. »Bestimmt bin ich schuld, weil ich früher zu oft Joy to the World mit dir gehört habe.«

Tatsächlich hatte ich den Namen aus dem Lied geklaut, weil Jeremiah ein bisschen wie ein Ochsenfrosch aussah. Und er war ein guter Freund von mir.

»Damit wir uns richtig verstehen, Wil: Du möchtest die Brüste eines Mädchens berühren«, sagte Mum. »Und du wünschst dir einen größeren Penis.« Sie lächelte und entblößte scharfe, spitze Werwolfzähne.

Nur für den Fall, dass es nicht glasklar ist: Ich bin ein Einzelkind.


An dem Abend taten die Mumps ihr Bestes, um eine fröhliche Stimmung zu verbreiten. Sie holten sogar die Karaokeanlage heraus und versuchten, mich dazu zu bewegen, I will survive von Gloria Gaynor zu singen. (Ich weigerte mich.)

Später am Abend jedoch ging ich aufs Klo und hörte sie in ihrem Schlafzimmer reden.

Mum: »Ich wusste, dass Schule keine gute Idee ist.«

Mup: »Ach, jetzt komm, Norah. Woher wolltest du das denn wissen?«

Mum: »Aus denselben Gründen, die uns dazu bewogen haben, ihn zu Hause zu unterrichten, Carmen. Erstens ist er ein Frühchen. Zweitens ist er ein Dezemberkind. Und drittens – na ja, im gesellschaftlichen Miteinander ist er nicht gerade versiert, oder? Weißt du noch, im Kindergarten? Er hat jeden Tag geweint, drei Wochen lang, bis wir ihn zu guter Letzt rausgenommen haben.«

Mup: »Und hätten wir ihn eine vierte Woche drin gelassen, hätte er vielleicht aufgehört zu weinen und angefangen, sich einzufügen.«

Ich konnte sie zwar nicht sehen, aber ich spürte die eisige Kälte in Mums Schweigen.

Mum: »Ich will nur das Beste für unseren Jungen. Und diese Schule ist es nicht.«

Mup: »Norah, Liebling. Ich denke, wir können uns darauf einigen, dass unser Junge lernen muss, sich in dieser großen, verrückten Welt, in der wir leben, zurechtzufinden. Und außerdem, was haben wir denn für eine Wahl? Wir können ihn nicht weiter zu Hause unterrichten, nicht mit deinem neuen Engagement und meinen Arbeitszeiten.«

Mum: »Wir könnten uns nach einer Privatschule umsehen.«

Mup: »Und wie um Himmels willen würden wir das bezahlen?«

Schweigen. Dann:

Mum: »Er tut mir so furchtbar leid.«

Mup: »Ich weiß. Mir auch. Aber lass es uns ein paar Tage probieren. Ich bin sicher, die finden die Person, die dafür verantwortlich ist, und dann …«

Mum: »Hängen wir sie an den Füßen auf, pulen ihr mit einem Löffel die Augäpfel raus und weiden sie anschließend mit einem rostigen alten Messer aus …«

Mup: »Hach, du bist so eine Löwenmama.« Wieder wurde es still, aber dieses Mal war ich ziemlich sicher, dass sie sich küssten. Also ging ich ins Bett und versuchte, die fiesen Gedanken aus meinem Hirn zu vertreiben. Stattdessen stellte ich mir vor, ich sei in einer Scheune, zusammen mit den Tieren aus Wilbur und Charlotte, meiner absoluten Lieblingsgeschichte, und nach einer Weile schlief ich schließlich ein.


Die Schule fand den Übeltäter fast im Handumdrehen. Poppy, ein Mädchen in meiner Stufe, erzählte der Direktorin, sie habe gesehen, wie Tyler Kertz den Brief aufgehoben habe, nachdem Mr Markowitz ihn fallen gelassen hatte.

Ich hatte nur ein einziges Mal mit Tyler geredet, als ich in der Klasse neben ihm saß. »Schicker Hut«, hatte er gesagt.

»Danke. Ist ein echter Fischerhut.« Dann: »Ich bin Wilbur Cézar Hernandez-Schott.« Ich streckte die Hand aus.

Er ergriff sie nicht. Er ignorierte sie. »Hast du irgend ’ne Krankheit oder so was?«

»Was?«

»Deine Augen. Die sind glubschig.«

»N-n-nein. Die sind einfach so –«

»Siehst aus wie ’n Frosch. Oder ’n Mops.«

Da kam Mr Markowitz herein, und schon war’s vorbei.

Dennoch – oder vielleicht deswegen? – gab Tyler Mr Markowitz den Umschlag nicht einfach zurück, als er meinen Namen darauf entdeckte. Er öffnete ihn, las alles – und beschloss, alle anderen müssten das ebenfalls lesen.

Als man ihn aufforderte, sich dazu zu äußern, sagte er der Direktorin, er habe das »bloß zum Spaß« gemacht. Er hatte es nicht böse gemeint.

Kertz wurde für eine Woche von der Schule suspendiert und musste mir einen Entschuldigungsbrief schreiben.

Und ich?

Ich war verdammt zu einer Ewigkeit in der Hölle.

Die gigantischen Dinge des Lebens

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